11. Sonntag nach Trinitatis (11. August 2013)

Autorin / Autor:
Pfarrer Thomas Oesterle, Schorndorf [thomas.oesterle@elkw.de]

Lukas 7, 36-50

Liebe Gemeinde,
was für eine ergreifende, was für eine bewegende Geschichte. Das ist ein wahrhaft großer Stoff, eine Erzählung nicht nur für uns als kleine Kirchengemeinde, sondern eine, die für die ganze Welt taugt. Und um Geschichten, die überall auf der Welt erzählt werden sollen aufzubereiten, gibt es in unseren Tagen nur einen Ort – und das ist Hollywood. „Eine Hure wird zur Heiligen.“ Das ist ein Stoff, den man immer wieder in großen Hollywoodfilmen erzählt hat. Die Älteren unter uns kennen den tollen Streifen aus den 60er Jahren „das Mädchen Irma la Douce“ von Billy Wilder, mit Jack Lemmon und Shirley Mac Laine in den Hauptrollen. Eine herrliche Liebesgeschichte im Milieu der Millionenstadt Paris. Die Jüngeren kennen aus den 90er Jahren natürlich den Film „Pretty women“, mit dem die große Karriere von Julia Roberts begann. Immer geht es in diesen Kinoproduktionen um Prostituierte, die einen so guten Kern haben, dass sie am Ende als Heilige stilisiert werden.

Und nun könnte man auch denken, dass das der richtige Weg wäre diesen Predigttext auszulegen. Es ist sehr verlockend auszumalen, was in dieser Frau – von der uns Lukas erzählt – vorgegangen ist, welche Wandlung sie vollzogen hat in der Begegnung mit Jesus, wie sie von der Hure zur Heiligen wurde. Dieser Versuchung sind große Männer erlegen, z.B. der Kirchenvater Augustinus, der alle Argumente gesammelt hat, um zu beweisen, dass genau diese namenlose Prostituierte niemand anderer war als Maria Magdalena. Maria Magdalena – jene Frau die unter dem Kreuz bis zum Schluss ausgeharrt hat und die am Ostermorgen – wieder mit Salbgefäßen – zum Grab Jesu geht und die erste Auferstehungszeugin wird. In der Folge hat sie Matthias Grünewald auf dem Isenheimer Altar als Maria Magdalena dargestellt, mit langem, wallendem Haar und Salbgefäß unter Jesu Kreuz.
Aber: Würde ich auch dieser Versuchung nachgehen und über die Wandlung dieser Frau predigen, dann würde ich wahrscheinlich am Kern dieser Geschichte vorbeipredigen. Denn im Zentrum des Textes geht es um das, was Jesus tut und erst in zweiter Linie um die Veränderung, die diese Frau erlebt. Beides ist natürlich nicht voneinander zu trennen, aber das Eine ist die Bedingung für das Andere. Deshalb will ich zuerst meinen Blick auf die Person Jesu richten.

Schuld hat Lebenszerstörendes an sich

Lukas hat viele und auch sehr bewegende Geschichten aufgeschrieben, in denen er uns Jesus an der Seite der Sünder und Sünderinnen zeigt. Und wir sollten dieses Verhalten Jesu nicht dadurch kleinmachen, dass wir schnell behaupten, die Sünder seien gar nicht so sündig gewesen, sie wären durch die Umstände in eine missliche Lage gekommen. Speziell bei der Prostitution könnte man ja mit Recht fragen: Wer hat denn hier Schuld? Sind das nicht die Freier, die nach käuflicher Liebe verlangen, oder die Zuhälter, die sie organisieren? Ist die Frau, die in einem solchen Gewerbe landet, nicht getrieben von äußeren Zwängen, ist sie nicht Opfer? Wie kommt Lukas dazu, sie als Sünderin zu bezeichnen?
Nun bin ich sicher, Jesus hat auf solche Umstände und Zwänge, in die ein Mensch geraten kann geachtet, aber er hat deshalb nicht die Sünde kleingeredet, er hat nicht den moralischen Ernst aus einer Situation weggenommen. Sein Verständnis hat nicht sein präzises Urteil ersetzt. Jesus hat den Mut gehabt, einen Fehler zu benennen und Sünde auch als Sünde zu beurteilen. So hat er in unserer Geschichte den persönlichen Anteil der Sünderin an ihrer Situation nicht einfach unter den Tisch fallen lassen.

Man kann das sehr schön an dem Gleichnis sehen, das Jesus erzählt. Jene Frau, die da weinend bei ihm steht, sie wird mit einem Schuldner vergleichen, der 500 Denare Schulden hat. Man könnte auch sagen, soviel, dass ein ganzes Arbeitsleben kaum ausgereicht hätte, um diese Schuld abzutragen. Simon der Pharisäer wird wegen seines herzlosen Vorurteils gegenüber der Frau mit einem Schuldner verglichen, der nur 50 Denare Schulden hat, also eine große, aber rückzahlbare Summe. Warum steht Simon besser da? Nun, er war als Pharisäer ein Mensch, der durch Selbstkontrolle und Selbstbeobachtung so weit gekommen war, dass es ihm gelang, die Gebote Gottes in seinem Alltag zu halten. Pharisäer – das waren zur Zeit Jesu die Frommen, die sich sittlich Bemühenden. Man sollte das nicht gering achten und das hat auch Jesus nicht getan. Genauso wenig wie man es gering achten sollte, daß unsere evangelische Kirche in Deutschland weitgehend eine Mittelschichtkirche ist, in der bürgerlich meist gut situierte Menschen ethische und religiöse Verpflichtungen versuchen ernst zu nehmen. Das ist beileibe nichts Verwerfliches. Dagegen war die Schuld der Frau, die da Jesu Füße salbte eine sehr ernst zu nehmende Größe. Sie hatte etwas Lebenszerstörendes an sich, so wie auch die Schuld des verlorenen Sohnes ihn an den Rand des Abgrundes brachte.

Jesu Vergebung – ohne Vorleistung, einfach „dennoch“

Die Schuld trieb dieser Frau die Tränen in die Augen,
entwertete sie selbst so sehr, dass sie ihre Haare zum Handtuch machte,
brachte sie dazu, wie eine Sklavin die Füße Jesu zu küssen.
Der Pharisäer Simon konnte sich durch seinen gesetzestreuen Lebenswandel Selbstachtung leisten. Dass daraus Hochmut wurde, war sein Fehler. Aber diese Frau scheint von ihrer Schuld kleingemacht worden zu sein. Der verlorene Sohn wollte ja auch nur als einfacher Knecht zurückkehren, für mehr hielt er sich nicht wert genug.
Schuld raubt auch noch Menschen unserer Tage das Selbstwertgefühl. Eine gute Freundin von meiner Frau und mir hat lange Jahre als Gefängnispfarrerin gearbeitet. Sie erzählte uns, dass die Selbstmordgefahr während der Untersuchungshaft am größten ist. Wenn der Prozess vorbei ist, das Schuldmaß festgestellt und eine Strafe ausgesprochen, dann können die Gefangenen damit umgehen. Aber während noch alles in der Schwebe ist und die Straftäter mit ihrer Schuld quasi alleine sind, ist die Gefahr am größten, das Leben einfach aufzugeben. Schuld raubt hier die Achtung vor dem eigenen Leben.
Und nun wird Jesu Vergebung gerade Menschen zuteil, die schwer an ihrer Schuld tragen, die sie nicht durch gute Taten aufwiegen können, sondern von ihrer Schuld beherrscht sind! Deshalb trägt Jesu Vergebung auch immer Züge des „Dennoch“, und es sind nur die allzu Selbstgerechten, die der Vergebung Züge des „Weil“ geben wollen. Diese Sünderin kann das nicht. Sie hat keine Taten aufzuweisen, um derentwillen sie ein Recht auf Vergebung hätte. Doch das macht auch nichts, denn die göttliche Vergebung ist bedingungslos. Keine Erfüllung von Bedingungen macht den Menschen erst der Vergebung würdig. Wäre Vergebung an Bedingungen geknüpft, wäre sie abhängig von unseren menschlichen Handlungen, dann könnte niemand von Gott angenommen werden. Wir wissen im Grunde Alle, dass wir kein Recht auf Vergebung haben, aber wir scheuen uns davor, dem ins Auge zu sehen. Stattdessen ist uns die Vergebung zu groß als reine Gabe und zu demütigend als Urteil über unser Leben.
Und selbst wenn wir ehrlich sind und eingestehen, dass es uns nicht möglich ist, durch unsere guten Taten die Bedingungen für Vergebung zu schaffen, dann versuchen wir wenigstens uns durch Selbstvorwürfe zu peinigen und zu demütigen, um dadurch ein „Weil“ für die Vergebung aufzubauen. Dann wird unser Predigttext so interpretiert dass man sagt: „Weil die Frau so zerknirscht war, weil sie sich so gedemütigt hat, deshalb wurde ihr vergeben.“ Diese Art unsere Geschichte zu interpretieren ist aber falsch und gefährlich. Denn dann ist der Weg um zu Gott zu gelangen gepflastert mit dem Gefühl der Unwürdigkeit, der Angst, der Schuldkomplexe und der Verzweiflung. Dann wird das Gefühlswerk der Selbstbestrafung die Voraussetzung dafür, dass Gott mir vergibt. Die Liebe zu Gott ist dann nur die Kehrseite der Lebensverachtung. Das aber macht Menschen krank, das ist der Ursprung von religiösen Neurosen. Und dann ist die Vergebung wieder nicht bedingungslos, sondern man hat ihr ein „weil“ untergeschoben. Aber der Frau wird aber nicht vergeben, „weil“ sie die Vorleistung der Zerknirschung erbracht hat, sondern ihr wird „dennoch“ vergeben.
„Dennoch“, obwohl sie ein Leben zu Jesus bringt, dass sie für so verquer hält, dass ihr darüber zum Weinen wird.
„Dennoch“, obwohl sie die Irrwege ihrer Biographie zu einer Unterwürfigkeit führen, die Ausdruck ihres abhanden gekommenen Selbstwertgefühles sind.
Dennoch vergibt Jesus, denn seine Vergebung kennt keine Bedingung. Mich bringt immer wieder erneut ins Staunen, mit welcher Radikalität Jesus vergibt. Mich bringt dieses „Dennoch“ ins Staunen, denn ich lebe in einer Welt, in der mir nur deshalb Dinge zuteilwerden, „weil“ ich bestimmte Bedingungen erfüllt habe. Weil ich genug Geld verdient habe, kann ich mir ein schönes Auto leisten. Weil ich eine bestimmte Ausbildung absolviert habe, steht mit der Zugang zu einem interessanten Beruf offen. Weil ich als kleiner Unternehmer arbeite bis zum Umfallen, um alle Wünsche meiner Kunden zu erfüllen, kann ich mich am Markt halten. Weil ich als Schüler fleißig gelernt habe, bekomme ich die Noten die ich für eine Bewerbung brauche. Weil, weil, weil – das tönt mir aus allen Himmelsrichtungen entgegen.

Gottes Liebe eröffnet einen neuen Horizont

Und dann ist da plötzlich einer der sagt: Dennoch – meine Vergebung bekommst du dennoch, die Chance zum Neubeginn ist nicht an Voraussetzungen geknüpft, du kannst vor mir stehen mit allem was in deinem Leben missglückt ist und ich will es vergeben und dadurch dein Leben verwandeln. Martin Luther hat das als die „iustita aliena“ bezeichnet –als die fremde Gerechtigkeit. Sie ist fremd, weil sie nicht auf Bedingungen beruht, die ich als Mensch selbst einbringen müsste. Sie ist Gerechtigkeit, weil ich durch die Vergebung vor Gott stehen kann, wie Einer der von allen Schulden befreit ist. Diese bedingungslose Vergebung Christi ist der tiefste Ausdruck der Liebe, die Gott uns entgegenbringt. Gottes Liebe sprengt dabei auch manchmal die Grenzen von Moral und Konvention, denn sie will Menschen retten und ihnen ihre Selbstachtung und ihre Selbstliebe zurückgeben. Gottes Liebe eröffnet einen neuen Horizont, einen neuen Blick auf das Leben. Gottes Liebe ist eine heilsame und aufrichtende Ermutigung.
In unserem Predigttext führt Jesus uns diesen neuen Horizont vor. Er unterlegt dem Handeln der Frau zu seinen Füßen ein Verstehen, das plötzlich alles, was sie tut, in einem neuen Licht erscheinen lässt.
– Aus den Tränen der Erschütterung wird das selbstverständliche Wasser für die Füße, das jeder gute Gastgeber damals seinem Gast zur Verfügung stellte, nachdem er lange in Sandalen durch Staub und Sand gewandert war.
– Aus dem verzweifelten Küssen der Füße wird der selbstverständliche Wangenkuss, mit dem ein guter Gastgeber im Orient seinen Gast begrüßte.
– Aus der Myrre zum Salben der Füße, – eigentlich einem übertriebenen Akt der Großzügigkeit, der in seiner Übertreibung ein Spiegelbild für die Belastung dieser Frau ist, – aus dieser Myrre wird eine übliche Erfrischungssalbung mit Öl, die bei der Begrüßung eines Ehrengastes im Orient oft vollzogen wurde.
In der Summe werden aus Verzweiflungstaten die Taten einer liebevollen Gastgeberin. Eine Frau, „die viel liebt“, wie es der Text sagt, die handelt auf diese Weise. Sie hat durch ihre Taten nichts anderes zum Ausdruck gebracht als ihre tief empfundene Zuneigung zu Jesus. Und so betrachtet Jesus die Taten der Frau unter einem neuen Horizont. Und dieser neue Horizont lehrt uns, das Tun dieser Frau richtig zu verstehen. Das schafft die Liebe Gottes. Sie stellt auch unsere Ausweglosigkeit unter einen neuen Verstehenshorizont. Mit ihm gibt Jesus uns die Würde zurück, die unser Leben so dringend braucht.
Doch die Liebe Gottes bringt auch zurecht. Jesus kann sich dabei einen kleinen Seitenhiebes auf seinen tatsächlichen Gastgeber nicht verkneifen. Der hatte Jesus wohl eher zum Zwecke einer Prüfung seiner Rechtgläubigkeit eingeladen und war sich nicht sicher, was das wohl für Einer ist, der da zu ihm in sein Haus kommt. Vorsichtshalber hatte er deshalb alle üblichen Höflichkeitsrituale unterlassen, hat keine Füße gewaschen usw. Eher kühl und berechnend hatte er diese Einladung geplant, er hat wie es der Text sagt „wenig geliebt“, als er Jesus zu sich an den Tisch bat. Diese Lieblosigkeit hat er auch der Frau gegenüber gezeigt, indem er sie sofort in die Schublade steckte, die das Vorurteil für sie bereit hielt. Lieblos war es auch, überhaupt nicht mit der Umkehr dieser Frau zu rechnen. Deshalb muss Jesus auch dem gesetztestreuen Pharisäer vergeben, auch wenn er mit dem verglichen wird, der nur 50 Denare Schulden hatte. Jesus vergibt auch den Hochmut, die Verachtung und die Unhöflichkeit des Simon.

Vergebung weitergeben im Dienst Jesu

Am Ende dieser Predigt möchte ich an den großen Christoph Blumhardt erinnern. Als er vor fast hundert Jahren über diese Geschichte predigte, da stellte er die Frage, die er immer stellte: Er fragte seine Hörer: „Was können wir tun, dass unser Wunsch ‚Herr Jesus komm‘ wahr wird?“ Und Blumhardt antwortete: „Jesus kommt durch die Vergebung der Sünden durch Dich du armes Menschenkind. Wie soll es denn zum Ziel kommen, wenn ihr nicht Sünden vergebet? Wenn ihr immer Höllen aufrichtet, wie soll es zum Ziel kommen? Ich will in der Kraft bleiben, die alleine das Reich Gottes schafft, in der Kraft der Vergebung der Sünden.“
Amen.

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