17. Sonntag nach Trinitatis (22. September 2013)

Autorin / Autor:
Pfarrerin i.R. Renate Ganzhorn-Burkhardt, Mössingen [r.gabu@gmx.de]

1. Mose 32, 23-32

Liebe Gemeinde!

Was für eine Geschichte ! Was für ein Beginn im Dunkel der Nacht, als Jakob ganz allein zurückbleibt am Ufer des Jabbok, dessen Name „Ringer“ bedeutet. Was für ein Ringen mit einem übermächtigen, kaum zu fassenden Gegner bis zum Morgengrauen! Was für ein Schluss, als für Jakob die Sonne aufgeht an der Stätte dieses Ringens und er klar sehen und als „Pnuel“, das heißt „Angesicht Gottes“, benennen kann, mit wem er da gerungen hat! Und was für ein Wort im Zentrum des ganzen Geschehens: „Ich lasse dich nicht los, bis du mich gesegnet hast!“ oder, wie Luther in kongenialer Kürze übersetzt: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!“
Ich liebe diese Geschichte – nicht zuletzt deshalb, weil ich manche von unseren eigenen Geschichten in ihr wiedererkennen kann.

Am Jabbok: Ringen mit Gott im Dunkel der Nacht

Jakob ist ein Mann, dessen Weg bisher durchaus nicht geradlinig und gefahrlos verlaufen ist: den älteren Bruder hat er um den Erstgeburtssegen betrogen und muss darum um sein Leben bangen und lange Jahre im Exil bei seinem Onkel verbringen. Der ist ihm an Listen ebenbürtig, und als Jakob dennoch immer erfolgreicher wird, beginnt er auch hier um sein Leben zu fürchten und sich erneut auf den Weg zu machen – jetzt als gestandener Mann mit Frauen und Kindern, Knechten und Mägden und großen Viehherden. Zurück will er wieder, will sich mit seinem Bruder versöhnen und endlich zur Ruhe kommen.
All das Seine und alle die Seinen hat er schon über den Jabbok, den „Ringerfluss“ ans andere Ufer gebracht. Er allein bleibt zurück, mitten in der Nacht.
Da stellt sich ihm einer, den er im Dunkel nicht erkennen kann, in den Weg und kämpft mit ihm . Einen harten , langen Kampf, bis zum Äußersten, ein zähes Ringen die ganze Nacht hindurch bis zum Anbruch der Morgenröte.
Gott selber ist es, mit dem er es zu tun bekommen hat.
Gott selber stellt sich einem Menschen in den Weg, versperrt ihm den Weiterweg, fordert ihn zum Kampf auf Leben und Tod. Das mutet uns heute zunächst fremd an. Feiern wir nicht Gottes unüberwindliche Liebe zu uns an Weihnachten, Karfreitag, und Ostern erst recht, also:„Kann denn der liebe Gott so sein? “ – Und doch: Gab es nicht schon Situationen auch in Ihrem Leben, die Sie genau so hätten beschreiben können?
Ich denke an die Frau, der ich vor kurzem zu ihrem 90. Geburtstag gratuliert habe: Ganze drei Monate sei sie verheiratet gewesen, erzählte sie mir, „im Juni '43 war die Hochzeit, im Oktober habe ich ihn zum letzten Mal gesehen, bevor er an die Ostfront kam, seither ist er vermisst. Ich habe es nie über mich gebracht, ihn für tot erklären zu lassen. Manchmal denke ich, wenn ich wenigstens sein Grab wüsste, es wäre mir leichter...“
Ich denke an den Mann, der nach 25-jähriger Firmenzugehörigkeit in verantwortungsvoller Position das Kündigungsschreiben erhalten hat, und er weiß nicht, warum und wieso...
Ja, das sind Schläge, die nicht so leicht einzustecken sind; da stellt sich eine dunkle, undurchschaubare Macht einem Menschen in den Weg, und der muss kämpfen, muss alle Kräfte mobilisieren, wenn er überleben will.
Genau so hat es Jakob erfahren: Ich muss kämpfen, um mein Leben kämpfen, die ganze Nacht hindurch, und ich weiß noch nicht einmal, gegen wen ich da kämpfe. Ist das Gott? Derselbe Gott, der mich bisher getröstet und geleitet und gesegnet hat? Kann Gott so sein: so unverständlich, so grausam?

Der Name „Israel“: Beim Anbruch der Morgenröte kommt er ans Licht

Jakob spürt, wie seine Hüfte ausgerenkt wird, er spürt die Lähmung und hört zugleich die Stimme seines Gegenübers: „Lass mich los, ich muss jetzt gehen.“ Und da sagt Jakob, dieser erschöpfte und geschlagene Mann: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn. Ich lasse dich nicht los, es sei denn, du schenkst mir deine Gotteskraft. Ich halte fest an dir, wenn du mir jetzt auch noch so dunkel und feindlich erscheinst – ich gebe mich nicht auf, ich gebe mein Leben nicht auf, ich warte auf deinen Segen: die Gotteskraft, die mir neu ins Leben hilft.“
Ungeheuer mutig und tapfer klingt das, nicht wahr, liebe Gemeinde? Aber wieder möchte ich Sie fragen: Haben Sie nicht auch schon so oder so ähnlich gedacht, gefühlt, gebetet in Ihrem Leben?
Der Mann, dem gekündigt wurde, bemüht sich trotz aller bisherigen Absagen um eine neue Stelle: „Manchmal kommt mir schon der Gedanke, was soll das alles, gib doch auf!“sagt er, „aber ich will nicht resignieren, ich will das durchstehen, will die Hoffnung nicht aufgeben – auch nicht nach der 80. Absage.“
Die Frau, deren Mann bis heute als vermisst gilt, sagt: „Ich wusste nicht mehr, wie ich weiterleben sollte, ich wünschte mir manchmal sogar, dass ich beim nächsten Fliegerangriff ums Leben komme. Aber dann habe ich die ganze Not und das Elend um mich herum gesehen, und da hatte ich eine neue Aufgabe und sagte mir: Wenn ich selber kein Kind haben darf, dann kann ich doch für die Kinder in der Nachbarschaft da sein. Und seltsam: Ich habe immer die Kraft bekommen, die ich gebraucht habe, ich weiß nicht wie.“
Liebe Gemeinde, ich denke, viele von Ihnen können aus eigener Erfahrung berichten von solchen Situationen, die ihr Leben und damit auch sie selber verändert haben. Wie Jakob. Der bekommt beim Anbruch der Morgenröte einen neuen Namen: „Israel“ soll er in Zukunft heißen, das bedeutet „Gotteskämpfer“ im doppelten Wortsinn: Einer, der mit Gott kämpft, und: Einer, der mit Gotteskraft kämpft.
Ich lasse dich nicht los, sagt dieser Gotteskämpfer zu Gott, ich halte fest an dir als der Kraft meines Lebens. Ich gebe das Vertrauen nicht auf, dass mein Weg ein Ziel hat. Ich weiß, dass Mühen und Ringen und auch Geschlagensein zu diesem Leben gehören, aber eben auch dein Segen, der mir Kraft gibt und mir hilft, neu zu mir zu finden.
Israel – Gotteskämpfer: mit Gott ringen und mit göttlicher Kraft kämpfen. Beides liegt in diesem Namen. Beides gehört zusammen. Deutlich wird dies an der Geschichte des Volkes Israel: da findet sich immer wieder das Ringen mit diesem dunklen, unbegreiflichen Gott, aber eben auch das Festhalten am ihm bis in den Tod hinein und trotz allen Geschlagenseins auf wunderbare Weise die Kraft zum Neubeginn, immer wieder.
Gotteskämpfer: mit diesem Namen weiß Jakob nun mehr über sich und sein Leben. Freilich wüsste er auch gerne mehr über den, der sich ihm so dunkel als Schicksal in den Weg gestellt, sein Leben bedroht und mit ihm gerungen hat:
„Nenn mir deinen Namen, sag mir, wer du bist!“ bittet er. Aber er erhält keine Antwort, nur (auch dies ein Ringen!) die Frage „warum willst du das wissen?“ gegen alle seine und unsere Fragen: Warum musste das sein? Warum musste gerade ich den Arbeitsplatz verlieren? Warum kam gerade mein Mann nicht aus dem Krieg zurück?
Wir finden in der Regel keine Antwort auf diese Fragen. Wir begegnen immer wieder wie Jakob dieser dunklen, unbegreiflichen Seite Gottes, und auch das gehört zu unserem Leben: Der Gott, der uns Liebe schenkt und Blumen und Lachen und Musik und Feste des Lebens, das ist zugleich der Gott, der sich uns dunkel in den Weg stellt und sich uns entzieht, ohne dass wir ihn ganz erkennen könnten.
Aber: Er segnet uns.

Pnuel: Gott lässt sein Angesicht leuchten über den Geschlagenen – Segen beim Sonnenaufgang

Gott segnet Jakob. Ihm geht die Sonne auf und in ihrem Licht auch das Licht seiner Augen, als er die Kampfstätte verlässt als ein von Gott Gesegneter und von Gott Geschlagener:
Jakob hinkt. Nie mehr wird er so leichtfüßig seinen Weg gehen können wie bisher, nie mehr so rücksichtslos seine Interessen durchsetzen, nie mehr so listenreich andere übers Ohr hauen, wie er es bisher getan hat.
Er wird Tränen weinen, wenn er sich mit seinem Bruder aussöhnt. Er wird Tränen weinen, wenn er seine geliebte Frau Rachel verliert. Er wird viele Tränen weinen seiner Kinder wegen – ihre Rivalitäten und Streitigkeiten werden ihm zu Herzen gehen und ihn fast das Leben kosten.
Und trotzdem wird er im Rückblick die Stätte dieses Kampfes „Gottes Angesicht“ nennen und sagen: Leben hat Gott mir geschenkt, hat sein Angesicht leuchten lassen über mir.
Und so wird er getrost seinen Weg gehen und im Frieden sterben, weil der Gott, den er nicht loslassen wollte, ihn seinerseits nicht loslässt. Der Segen, den Gott ihm geschenkt hat, ist die Kraft, die auch und gerade in den Schwachen mächtig ist.
Jakob wird von Gott geschlagen und gesegnet. Er hinkt, aber ihm geht die Sonne auf, als er den Kampfplatz verlässt: ihm leuchtet Gottes Angesicht.
Was für eine wunderbare Geschichte, liebe Gemeinde! Auch und gerade für die Krisensituationen in unserem Leben: Denken wir da an Jakob, der sich diesem Dunkeln, das da auf ihn zukommt, stellt; der auch darin noch Gott erkennt; der nicht aufgibt, sondern an Gott als der Kraft seines Lebens festhält: Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn.
Amen.

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