Ewigkeitssonntag / Totensonntag (24. November 2013)

Autorin / Autor:
Dekanin Renate Meixner, Weikersheim [Renate.Meixner@elkw.de]

Markus 13, 31-37

Liebe Gemeinde!
Wach bleiben – auf keinen Fall einschlafen! So klang es damals den frühesten Jesus-Nachfolgern entgegen, die so gern gewusst hätten, wann denn das Weltenende kommt. – Wach bleiben – auf keinen Fall einschlafen! So klang es mir vor einiger Zeit in einer ganz anderen Situation entgegen. Am Bett eines schwer an Krebs erkrankten Mannes. Die Ärzte gaben ihm noch ein halbes Jahr. Er wollte nicht sterben, kämpfte mit aller Kraft gegen seine Krankheit und den Tod an – auch gegen den Schlaf. Er hatte Angst, einzuschlafen und nie mehr aufzuwachen. Deshalb wollte er unbedingt wach bleiben, um dem Tod nicht zu nahe zu kommen.
Andere Menschen wiederum wünschen sich das: einfach so in den Tod hinüberschlafen, ohne viel Schmerzen und Leiden. Dieses Hinübergleiten vom Schlaf zu unseren Lebzeiten in den ewigen Schlaf nimmt dem Tod seine Härte und Endgültigkeit. ‚Ruhe sanft!‘ lesen wir deshalb immer wieder, wenn wir in diesen Tagen auf den Friedhöfen die Gräber unserer Verstorbenen aufsuchen.
Der Tod kann einem allerdings auch den Schlaf rauben. Zumindest die Vorboten und die Nachwehen des Todes können zum Feind des Schlafes werden. Das ist an solchen Tagen wie heute, wo wir der Menschen gedenken, die wir in den letzten Monaten zu Grabe getragen haben, deutlicher zu spüren als an anderen Tagen. Die Erinnerung an diese Menschen mag heute Morgen besonders lebendig sein. Sie hat womöglich dem einen oder der anderen unter Ihnen schon heute Nacht den Schlaf geraubt. Vielleicht ist Ihnen die Person, um die Sie trauern, ganz nah gekommen – und all das, was Sie mit ihr erlebt und durchgestanden haben: die Nächte, die Sie an Ihrem Bett durchwacht haben, intensive Gespräche, vielleicht auch beängstigende und bedrohliche Situationen, die Ihnen immer wieder schlaflose Nächte bereiten. – Wie erlösend ist es dann, wenn man wenigstens eine Nacht durchschlafen kann; wenn der Schlaf alle Sorgen beiseiteschiebt und uns einhüllt in einen Traum aus alten Zeiten.
So ist die schlichte Aussage zu Beginn unseres Predigttextes „Himmel und Erde werden vergehen…“ genau genommen eine enorme Herausforderung und Zumutung für uns alle. Es kostet Kraft, sich der Vergänglichkeit unseres eigenen Lebens oder des Lebens geliebter Menschen zu stellen, und nicht abzutauchen in die Welt des Schlafens und Verdrängens. Nun kann man natürlich einwenden und sagen: Unsere Welt ist doch alles andere als ein Schlafzimmer. Überall ist Leben, Betriebsamkeit und Aktivität. Ja, wir machen sogar oft noch die Nacht zum Tag.
Ist also Jesu Aufforderung zum Wachbleiben bei uns völlig unnötig? Oder kann es sein, dass unsere Betriebsamkeit, unser Streben nach Aktivität eine Variante jenes“ Schlafens“ ist, vor dem Jesus warnt? Was tun wir alles, um die Vergänglichkeit unseres Lebens nicht zu spüren? Wir versuchen, ihr etwas entgegenzusetzen: die Steine als Garanten für Beständigkeit und Langlebigkeit auf den Gräbern unserer Verstorbenen oder auch das Bemühen um ewige Jugendlichkeit gegen den Prozess des Alterns.

Wachsam sein ist etwas anderes als das Weltende zu berechnen

Gibt’s noch andere Möglichkeiten damit umzugehen, dass in dieser Welt nichts und niemand ewigen Bestand hat? Gibt’s eine Möglichkeit, bewusst standzuhalten und auszuhalten, dass wir, solange wir leben, gewinnen und verlieren? Das Gewinnen wäre ja nicht das Problem. Aber immer wieder Schmerz darüber zu spüren, dass das Gewonnene einem in den Händen zerrinnt wie Sand – das kostet so viel Kraft. Ist das bewusst nur auszuhalten mit der Perspektive, dass das alles ein Ende haben wird, und zwar nicht irgendwann, sondern absehbar und berechenbar?
Die Aussicht auf das Weltende, und insbesondere seine genaue Berechenbarkeit, hat von jeher die Menschen fasziniert. Letztes Jahr war es ein zu Ende gehender Kalender der Maya, der vielen Anlass gab, sich auf einen Weltuntergang einzustellen. Gott sei Dank umsonst. Jedoch hat die Faszination an Weltuntergangsberechnungen trotz einer Reihe von Fehlberechnungen nicht nachgelassen. Es gibt, wenn man sich im Internet umschaut, eine ganze Fülle von Weltuntergangsterminen für die nächsten Jahre. Sie scheinen tatsächlich eine Art Ventil zu sein für das Unerträgliche in dieser Welt.

Wachsam sein ist eine Haltung, die mit Gottes Kommen rechnet

Jesus dagegen gibt nichts auf solche Berechnungen. „Von dem Tage aber und der Stunde weiß niemand, auch die Engel im Himmel nicht, auch der Sohn nicht, sondern allein der Vater.“ Um der Welt standzuhalten, weist er den Seinen einen anderen Weg: nämlich wachsam zu sein, sich nicht einlullen zu lassen, sich auch nicht ablenken zu lassen von Endzeitberechnungen, sondern wach und aufmerksam wahrzunehmen, was geschieht: „… wachet! Denn ihr wisst nicht, wann die Zeit da ist.“ Gar nicht oft genug kann er es sagen: Wachet! So wie ein Türhüter, der das Haus seines verreisten Herrn bewacht, so wie die Knechte jenes Herrn, die das Haus verwalten – so sollen wir alle wachsam sein, um das Kommen des Herrn nicht zu verpassen oder zu verschlafen. Insbesondere für die dunklen Zeiten gilt die Aufforderung zur Wachsamkeit: für den Abend, für Mitternacht, für die Zeit vom Hahnenschrei bis zum Morgen. Im Licht des Tages fällt es nicht schwer, wach zu bleiben – umso mehr in den dunklen Zeiten zwischen Abend und Morgen. Solch dunkle Zeiten werden auf die Jünger zukommen, nämlich die Tage von Jesu Leiden und Sterben. Der Bericht darüber schließt sich im Markusevangelium unmittelbar an Jesu Worte zur Wachsamkeit an. So kann man das letzte Wort unseres Predigttextes auch als einen Auftakt zu Jesu Leidensgeschichte lesen: „Wachet!“
Also gerade angesichts von Leid und Tod sollen wir wachsam, mit allen Sinnen offen und präsent sein. Ist das nicht eine Zumutung? Das sind doch gerade die Situationen, in denen wir gern Augen, Ohren und Herz verschließen wollen, weil sie so schwer zu verkraften sind: die Trauer um einen geliebten Menschen, eine schlimme Krankheit oder andere schwere Verluste, die es zu ertragen gilt. Geht das nicht besser nach der Devise ‚Augen zu und durch‘?
Es liegt an uns, mit welcher Haltung wir leben wollen – ob wir Jesu Zumutung zum Wachsein auch in dunkler Zeit annehmen oder nicht. – In dem Wort ‚Zumutung‘ steckt ja auch der Mut. In der Tat verstehe ich Jesus so, dass er uns zum Wachbleiben ermutigen möchte, weil es auch in dunkler Zeit einiges zu entdecken gibt. Die Geschichte von Jesu Leiden und Sterben ist dafür exemplarisch. Wer sie wachsam mitverfolgt, kommt mit den abgründigsten Erfahrungen, die ein Mensch machen kann, in Berührung – mit Todesängsten und mit tiefster Verlassenheit von Gott und Menschen. Wer ihr standhält bis ans Ende, wird jedoch auch Zeuge des lebendigen Gottes, der aus dem Tod ins Leben ruft, der dem Dunkel seine Grenze setzt mit dem Licht des Ostermorgens. Deshalb lohnt es sich, wachsam zu leben und auch in Zeiten des Trauerns achtsam zu sein für das, was da auf einen zukommt an Begegnungen, an Erfahrungen mit sich selbst und mit Gott. Eine Frau, deren Mann vor einigen Wochen verstarb, erzählte mir von solchen Erfahrungen. Bei aller Trauer war es ihr ein großer Trost, dass er mit seinen letzten Atemzügen die Hände zum Gebet faltete und ganz im Frieden verstarb. Auch von ihrem jüngsten Patensohn erzählte sie, der ihr durch seinen unbefangenen und zärtlichen Umgang mit dem Toten etwas von der Schwere des Abschieds nehmen konnte. Für jene Frau waren das überraschende und kostbare Lebenszeichen angesichts des Todes. Es lohnt sich also wachsam zu sein auch dafür, dass Christus selbst auf uns zukommt in dem, was wir erleben. Nicht leibhaftig, aber wahrnehmbar in Zeichen, durch Menschen und durch sein Wort. –

Wachsam bleiben gelingt im Hören auf Jesu Worte

Wenn alles andere vergehen mag, seine Worte werden nicht vergehen – so steht es geschrieben in unserem Predigttext. Eine gewagte Aussage, dass ausgerechnet Worte ewig bestehen. – Doch von vielen Menschen weiß ich, dass sie solche Jesusworte kennen und durch sie Kraft bekommen – gerade für schwere Zeiten. Mir geht es so mit meinem Konfirmationsspruch – er heißt: „Christus spricht: Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an“ (Offb 3,20). Das sind für mich Worte, die mich immer wieder wachrütteln und in Erstaunen versetzen, weil sie mir sagen: Christus ist es, der auf dich zukommt dein Leben lang. Er ist es, der an deine Lebenstür klopft, um eingelassen zu werden. Er wird auch in Zukunft der sein und bleiben, der auf dich zukommt in schönen wie in schweren Zeiten, im Leben wie im Sterben.
Ich hoffe, es möge auch für Sie solche Worte geben, die Sie immer wieder berühren und wachsam dafür machen, dass Gott im Kommen ist – als das Licht, das Ihre Tage und Nächte hell macht und ganz gewiss einmal alles Dunkel vertrieben haben wird. Amen.

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