Vorletzter Sonntag des Kirchenjahrs / Volkstrauertag (17. November 2013)

Autorin / Autor:
Pfarrer Reinhard Mayr, Stuttgart-Untertürkheim [reinhard.mayr@elkw.de]

Jeremia 8, 4-7

Liebe Gemeinde,

verzweifelte Ratlosigkeit und entsetztes Kopfschütteln sprechen aus diesen Worten des Jeremia. Er war der Prediger, den Gott seinem Volk in den letzten Jahrzehnten vor der Zerstö-rung Jerusalems und des jüdischen Staates im Jahre 589 v.Chr. schickte. Die letzte Chance, einen verhängnisvollen religiösen und politischen Weg zu verlassen.
Vergeblich, wie uns die Worte Jeremias und wie uns der Fortgang der Geschichte verraten. Das Volk und seine Oberen, weltliche und geistliche Verantwortungsträger stürmen durch die Zeit wie ein Schlachtross mit seinen Scheuklappen, durch nichts aufzuhalten und durch nichts zu korrigieren. Stürmen voran, unfähig nach links oder rechts zu sehen und die Realität wahrzunehmen. Stürmen auch über Leichen – dem eigenen Verderben entgegen.
Es ist schlimm, andere ins Verderben rennen zu sehen. Es ist schlimm, zu warnen – und keiner hört. Es ist zum Verzweifeln – zusehen zu müssen, wie andere sich immer tiefer in einer Sackgasse verrennen, aus der es kein Entkommen gibt. Menschen, die beispielsweise Suchtkranken helfen und sie begleiten wollen, erleben das an einzelnen Schicksalen. Die verzweifelte Ratlosigkeit und das entsetzte Kopfschütteln, wie ein Mensch sein Leben sehenden Auges an die Wand fährt. Aber auch ein ganzes Volk ist dazu in der Lage! Wir denken am heutigen Volkstrauertag daran, wie das Deutsche Volk sich in seiner Rolle als blind stürmendes Schlachtross auf der Weltbühne gefiel und Millionen von Menschen – und am Ende sich selbst – in den Untergang zog.

Der falsche Weg – damals und heute

Es ist nicht so, dass das alles zwangsläufig geschehen müsste und man keine Ursachen benennen könnte. Jeremia tat das schon seit Jahren. An falschen Gottesdiensten halte man fest, wirft er seinen Landsleuten vor. Nicht dass es damals liturgisch unkorrekt zugegangen wäre oder dass die Leute zu wenig feierlich gestimmt waren. Nicht, dass sie die falschen Lieder zu unpassenden Rhythmen und Instrumenten gesungen hätten. Nein, ihr Verhältnis zu Gott war verkehrt. Sie haben aus dem lebendigen Gott einen religiösen Wellness-Götzen gemacht, dem alles recht und gut war, was immer die Leute auch taten. Aus dem befreienden, aber bisweilen eben auch kritischen Wort Gottes haben sie einen süßen religiösen Brei gemacht, der allen wohlgefällig ums Maul geschmiert werden konnte. Gottes Schalom, Friede und Heil wurden verkündigt, während das Volk, aufgehetzt von Priesterschaft und Politik zum Krieg rüstete und in blindem nationalem Pathos versank.
Am heutigen Volkstrauertag bedenken wir vor Gott auch die Schuld und Schwäche der Kirche und der Christenheit in den Tagen der Diktatur in Deutschland und der mancherlei skurrilen Verbindungen, die der Glaube an Jesus Christus mit der teutonischen Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis eingegangen ist. Und der Vorgang, sich Gott gefällig und nützlich zu machen, ist beileibe noch nicht abgeschlossen.

Der falsche Weg: Wenn Wahrheit nicht gesagt und Böses nicht bereut wird

Jeremia wirft seinen Zeitgenossen weiter vor, nicht die Wahrheit zu reden und Böses nicht zu bereuen. Wir werden hier an massive Verstöße gegen die Rechtsordnung und gegen die Gebote Gottes denken müssen: an eine tiefgreifende Vergiftung des Miteinanders, an soziales Unrecht, an eine käufliche Justiz und an eine grundlegende Missachtung der Rechte von Schwachen und Armen. Im Buch Jeremia werden sie häufig genug aufgezählt und benannt, wobei die einfachen Leute den Großen und Mächtigen in nichts nachstehen. Alle leiden zwar unter diesen Verhältnissen. Denn sie sind ja alle immer wieder Opfer dieser Umstände, Opfer von Unterdrückung, von Verleugnungsaktionen. Opfer von Preistreiberei und von Rechtsbrüchen. Sie alle merken die Kälte, die sich ausbreitet, wo die Würde des anderen nicht mehr geachtet, wo nur noch der Profit im Vordergrund steht. Nicht zuletzt werden sie die Kriegsfolgen bitter zu spüren bekommen, Tote beklagen und zerstörte Häuser. Aber sie sind alle auch Täter, machen mit, profitieren von diesen Zuständen – und sind unfähig umzukehren, Schuld zuzugeben und neu anzufangen.

Volkstrauertag – lernen von Israel

An diesem Volkstrauertag rufen wir uns ins Gedächtnis, wie schwer es sich das deutsche Volk lange, lange Zeit gemacht hat, über die eigene Schuld nachzudenken, sie zuzugeben und Ver-antwortung zu übernehmen für das geschehene Unheil. Wie giftig man – bis weit in die Rei-hen der Christenheit hinein – reagiert hat, als die Stuttgarter Schulderklärung (EG 837) be-kannt wurde. Wir erkennen, dass das Bekenntnis von Schuld keine selbstverständliche Leis-tung des Menschen ist, sondern ein Werk Gottes, ein Werk seines Geistes. Nicht zufällig endet die Schulderklärung auch mit der Bitte um das Kommen des Geistes Gottes: „So bitten wir in einer Stunde, in der die ganze Welt einen neuen Anfang braucht: Veni creator spiritus – Komm Schöpfer Geist.“
Hier haben wir nun, liebe Gemeinde, von dem Gottesvolk Israel zu lernen: Israel hat die prophetische Kritik des Jeremia im Namen Gottes und das Eingeständnis eigener Schuld zu ei-nem festen Bestandteil seiner Verkündigung gemacht. Die Worte des Jeremia fanden nämlich Eingang in die Heilige Schrift. Nicht nur eine nachträgliche Verbeugung vor einem zu Lebzeiten ungeliebten Propheten. Sondern auch Ausdruck für die Bereitschaft, Gottes kritisches Wort immer wieder neu zu hören und sich seiner Anfrage zu stellen.
Auch uns Christen ist dieses kritische Prophetenwort aufgetragen, damit wir in der Kraft des Geistes Gottes immer wieder prüfen, wem wir als Kirche mehr gleichen: einem im Zeitgeist blind dahin stürmenden Ross oder den am Wort Gottes wohlorientierten Zugvögeln, die um ihr Ziel und um ihre Zeit wissen.
Die Orientierung, liebe Gemeinde, liegt uns vor und wir kennen sie: wir haben in diesem Got-tesdienst über die Seligpreisung der Barmherzigen und Friedensstifter gebetet (EG 760 als Psalmgebet), in der Schriftlesung vom Umgang mit Armen, Gefangenen und Kranken gehört (Matthäus 25, 31 – 40), wir kennen die Gebote und das befreiende Wort von der Versöhnung in Christus. Jetzt brauchen wir nur noch die kritische Kraft des Geistes Gottes, der uns prüfen und Fehler erkennen lässt.
Tun wir auch das, was wir glauben? Haben wir den Mut, unsere Fragen oder unsere Kritik auszusprechen? Wo müssten wir als Kirche, als Gemeinde Jesu Christi deutlicher und lauter werden? Wenn es um die Würde alter und sterbender Menschen geht vielleicht? Müssten wir lauter und deutlicher manchen Angehörigen und Ärzten sagen, dass nicht jede Therapie im hohen Alter menschenwürdig ist und dass diese oftmals nur das Sterben, nicht aber das Leben verlängert? Oder müssten wir noch lauter und deutlicher werden, wenn es um die Aufwei-chung der Sonntagruhe zugunsten immer häufiger begangener verkaufsoffener Sonn- und Feiertage geht? Oder wenn Menschen ausgegrenzt und diffamiert werden, die in irgendeiner Form und sei es in ihrer sexuellen Orientierung „anders“ sind als die Mehrheit? Leicht ist es nicht, liebe Gemeinde, solche Fragen zu stellen – billige und schnelle Antworten gibt es in all diesen Fällen sowieso nicht. Aber dass wir im Vertrauen auf die Gegenwart Gottes solch unbequemen und kritischen Gedanken nicht ausweichen, dazu machen uns dieser Volkstrauertag und das Wort des tapferen Propheten Jeremia Mut.
Amen.

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