1. Sonntag nach Trinitatis (22. Juni 2014)

Autorin / Autor:
Pfarrer Dr. Alexander Fischer, Stuttgart [fischer@dbg.de]

5. Mose 6, 4-9

Liebe Gemeinde!
Wo immer im Alltag ein Bekenntnis vorkommt, geht es um etwas Wichtiges. „Ich liebe die unberührte Natur!“ So bekennt sich der Wanderer zu dem, was ihn belebt, wenn er durch Wald und Wiesen läuft. „Ich glaube an den Verein!“ So bekennt sich der Fußball-Fan zu seinem Fußball-Team, an dem sein Herz hängt. „Ich bekenne mich voll und ganz zur Rentenreform!“ So vertritt die Abgeordnete im Bundestag die feste Überzeugung, dass ihre Partei die richtigen Schritte eingeleitet hat. „Ich staune über die Schönheit der Welt und über die Vielfalt des Lebendigen!“ So formuliert eine Schülerin ihr persönliches Bekenntnis zu Gott, dem Schöpfer des Himmels und der Erde. Wo immer im Alltag ein Bekenntnis vorkommt, geht es um etwas Wichtiges. „Ich bekenne“ sagt mehr als nur „Ich stimme zu, ich bin einverstanden damit“. Bekenntnisse bringen zum Ausdruck, was im Leben, was in meinem Leben eine grundlegende Rolle spielt. Ich stehe voll und ganz dahinter. Ich vertrete meine persönliche Überzeugung. Und so beginnen alle diese Bekenntnisse mit dem Wort „Ich“. Das ist auch naheliegend: Bekenntnisse wollen ja sagen: Ich stehe dafür ein! Der Predigttext für den heutigen Sonntag ist ebenfalls so ein Bekenntnistext. Es handelt sich um Israels Grundbekenntnis aus dem Alten Testament. Mit welchem Wort mag es beginnen? Ich glaube? Ich liebe? Ich bekenne? Oder welches andere Wort könnte sonst an seinen Anfang rücken? Wir werden es gleich erfahren. Ich lese den Predigttext:
„Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein!
Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft. Und diese Worte (die ich dir heute gebiete) sollst du zu Herzen nehmen und sollst sie deinen Kindern einschärfen und davon reden, wenn du in deinem Hause sitzt oder unterwegs bist, wenn du dich niederlegst oder aufstehst. Und du sollst sie binden zum Zeichen auf deine Hand, und sie sollen dir ein Merkzeichen zwischen deinen Augen sein, und du sollst sie schreiben auf die Pfosten deines Hauses und an die Tore.“
Amen.

Der Lärm der Welt

„Höre ...!“ Mit diesem schlichten Wort, liebe Gemeinde, beginnt also das Grundbekenntnis Israels. „Höre ...!“ Das Wort öffnet einen Raum, schiebt anderes beiseite, schafft Platz. „Höre ...!“ Gemeint ist nicht ein einfaches „Hör mal zu!“ oder „Hör doch mal her!“, mit dem man etwas loswerden will, eine Information oder Mitteilung, vielleicht auch eine Frage oder Aufforderung. Und ein barsch gesprochenes „Hör doch mal her!“ kann sogar das Gegenteil bewirken. Das Grundbekenntnis Israels beginnt mit einem „Höre ...!“ ganz anderer Art. Es will durch den Lärm der Welt hindurchdringen, es will den Lärm der Welt zum Schweigen bringen. Unser Leben ist ja immer schon von einem bestimmten Geräuschpegel umgeben. Es ist mitunter laut. Das kennen wir aus der Stadt. Ganz unterschiedliche Klänge, Töne und Geräusche mischen sich ein. Ich nenne wahllos einige Hör-Eindrücke aus meinem Alltag: morgens das Piepsen eines Weckers, das Geräusch der Kaffeemaschine, Motorenlärm von Autos, das Quietschen von Straßenbahnen, das Bellen eines Hundes, Schulkinder auf dem Nachhauseweg, Lärm von einer Baustelle, das Surren eines Staubsaugers, das Klingeln von Mobiltelefonen.
Durch alle diese Geräusche hindurch möchte das Grundbekenntnis Israels zu uns dringen. Wie gut, dass wir heute Morgen hier in der Kirche sind. Da ist es leiser, da geht das leichter. Kein Baustellenlärm, kein Mobiltelefon. Freilich: Das „Höre ...!“ will nicht nur den Lärm um uns herum durchdringen, sondern auch den Lärm in uns drinnen. Und gerade in einem Moment der Stille, in der Kirchenbank, in einem Augenblick, in dem wir zur Ruhe kommen, wird es mitunter laut in uns. Sorgen mischen sich ein, die uns bedrängen. Auch Probleme, die wir momentan nicht lösen können. Ansprüche, die andere an uns stellen oder wir selbst. Wir sind unsicher, ob wir sie erfüllen können. Und wie? Wir setzen uns unter Druck, in der Schule, im Büro, in der Familie. Wir merken, dass uns manches nicht mehr so leicht fällt wie früher. Wir fragen: Haben wir etwas versäumt? Hätte ich nicht ...? Auch diesen Lärm in uns drinnen möchte das „Höre ...!“ zum Schweigen bringen: Schieb jetzt alles zur Seite, für den Moment ist es nicht wichtig! Schaffe Platz: „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein!“

Die Entmachtung der fremden Götter

Versuchen wir uns weiter in das Grundbekenntnis Israels hineinzuhören. Zunächst: Der HERR ist unser Gott, nicht irgendeiner. Oder modern formuliert: Er ist die Wirklichkeit, die alles umfasst: unser Tun und Lassen, unser Lieben und Bangen, unser Leben und Sterben. Und das bedeutet zweitens: Gott allein, kein anderer sonst. Für das biblische Israel ist das zugleich ein Programm: die Entmachtung der fremden Götter. Kein anderer sonst, das heißt: Nicht Baal, der Wettergott von Phönizien! Nicht Hadad, der Sturmgott von Syrien! Nicht Kemosch, der Staatsgott von Moab! Sie alle sind nicht Gott! Und im Zuge dieses Programms werden denn auch die Götterbilder der fremden Völker entzaubert. Sie sind wirkungslos, wie es fast spöttisch in Psalm 115 heißt: „Sie sind nichts weiter als Silber und Gold – ein Werk, von Menschenhand gemacht: Sie haben einen Mund, aber sie können nicht reden. Sie haben Augen, aber sie können nicht sehen. Sie haben Ohren, aber sie hören nichts. Und gar kein Lebensatem ist in ihrem Mund.“ Wir hören die Spitze des Psalms: Diese Götter sind nicht lebendig. Zu ihnen gibt es keine echte Beziehung, sie haben kein offenes Ohr für die Wünsche und Sorgen der Menschen. In dieser Weise werden also die Erfolgs- und Zuständigkeitsgötter entmachtet, die für das Wetter, für den Krieg, für das Wohlergehen des Staates sorgen sollen. Diese haben keinen Platz mehr neben dem, der unsere Wirklichkeit bestimmt, der alles umfasst: Gott allein, kein anderer sonst!
Die Entmachtung der fremden Götter. Ist dieses Programm nicht heute ebenso aktuell? Freilich nicht so, dass wir wie das biblische Israel von fremden Göttern umgeben wären. Wer glaubt schon an einen Baal, Jupiter oder Wotan, abgesehen vielleicht von ein paar Spinnern? Aber so, dass wir in einer Welt leben, in der bestimmte Dinge in unserem Leben umfassende Macht gewinnen können, göttliche Macht beanspruchen, sich zu kleinen oder größeren Göttern auswachsen: Ehrgeiz, Besitz, Familie, Geld, Bildung, Macht, Liebe und anderes mehr. Sie versprechen uns ein angenehmes Leben, ja ein erfülltes Leben. Und wer von uns möchte das nicht? Wir fixieren uns auf diese Dinge und merken nicht, wie sie mehr und mehr Besitz von uns ergreifen. Vielleicht ist es uns sogar recht, weil sie uns unseren Zielen näher bringen. Seltener schon spüren wir das Dämonische, das auch in ihnen steckt, die Mächte, die uns binden wollen und knechten und einengen. Dann helfen sie nicht mehr zum Leben, sondern zerstören es. „Höre ...!“ Da ist es wieder, dieses „Höre ...!“, das unsere kleinen und größeren Götter zur Seite schiebt: „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein!“ Es rückt die Dinge an ihren Platz, es rückt die Verhältnisse zurecht, dass wir in ihnen leben können und frei sind (dass wir die Dämonen lassen und Gott das Feld überlassen).

Das Gebot der Gottesliebe

Liebe Gemeinde! Bekenntnistexte können wachsen. Bei unserem Predigttext ist das der Fall und rückt etwas ganz Erstaunliches in den Blick: In der Überlieferung wurde nämlich das Grundbekenntnis Israels erst später mit dem Gebot der Gottesliebe verbunden: „Und du sollst den HERRN, deinen Gott, lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit all deiner Kraft.“ Erstaunlich deshalb, weil das Gebot der Gottesliebe in einer Zeit dem Grundbekenntnis angefügt wird, als Israels Gottesbeziehung an einem Tiefpunkt angelangt ist. Die Babylonier haben Jerusalem erobert, den Tempel eingerissen, das Land verwüstet und viele aus der Heimat vertrieben. Israel ist am Boden zerstört. Und jetzt macht Israel ernst mit seinem Bekenntnis zu Gott. Er allein ist die Wirklichkeit, die alles umfasst: nicht nur das Gelingen, sondern auch das Scheitern, nicht nur das Lieben, sondern auch das Bangen, nicht nur das Leben, sondern auch den Tod. Und jetzt beginnt Israel – in einer Situation der Schwäche und Depression –, seine Gottesbeziehung zu intensivieren, sein Grundbekenntnis mit dem Gebot der Gottesliebe zu verbinden. Das ist das Erstaunliche. Und ich glaube, dahinter steckt die schier unglaubliche Erfahrung Israels: Gott lässt sein Volk auch im Schlimmsten nicht los!
Und wie geht das nun: Gott lieb haben von ganzem Herzen, von ganzer Seele und mit aller Kraft? Kann ich das auch? Und habe ich nicht schon zu viel um die Ohren, dass ich auch noch Gott meine ganze Aufmerksamkeit schenken könnte? Aha, da lärmt er wieder, der überforderte Mensch in mir. Doch bei der Gottesliebe geht es nicht um die Frage, ob ich neben den vielen Dingen meines Lebens auch noch ein ausreichendes Plätzchen für Gott übrig habe. Gottesliebe ist nicht eine Frage des Zeitmanagements, des Terminkalenders, in den ich eintrage: Zeit, um Gott lieb zu haben. Gottesliebe geht anders, sie ist eine Lebenshaltung, eine innere Bewegung meines Herzens. Du und ich, wir können das, der Anfang ist leicht: auf Gottes Wort hören und jeden Morgen von neuem Vertrauen wagen: Gott ist bei mir und an meiner Seite. Das ist schon viel! Wer freilich meint: Das reicht noch nicht! Das ist nicht fromm genug! Dem möchte ich noch einen weiteren Gedanken zumuten: Das Gebot der Gottesliebe bedeutet nicht, dass ich nur Gott allein lieben darf und außer ihm nichts anderes sonst. Gott lässt sich nicht gegen die Welt ausspielen. Wir dürfen lieben, bis hin zur Leidenschaft: Freunde, Familie, Kunst, Natur, Geselligkeit, ja sogar auch „Geld und Gut“. Aber eben so und nur so, dass wir uns von Gott zu dieser Liebe bewegen lassen. Und so, dass sich aus unserer Liebe und Leidenschaft nicht wieder andere Götter herausbilden, kleine und größere Dämonen, die uns beherrschen und binden. Vielmehr: Wir sollen immer und zu jeder Zeit wissen: Das Leben ist Gottes Geschenk. Wir dürfen den bunten Fächer des Lebens auffalten, und dabei sollen wir darauf vertrauen: Gott bewegt den bunten Fächer, Gott bewegt uns. Deshalb heißt es: „Höre ...!“ Und wieder dieses „Höre ...!“, das unsere kleinen und größeren Götter zur Seite schiebt: „Höre, Israel, der HERR ist unser Gott, der HERR allein!“ Es rückt die Dinge an ihren Platz, es rückt die Verhältnisse zurecht, dass wir in ihnen leben können und frei sind, dass wir die Dämonen lassen und Gott das Feld überlassen. Sonst liegt kein Segen darauf.

Die Merkzeichen

Liebe Gemeinde! Das will Tag für Tag eingeübt werden: Gottes Wirklichkeit wahrnehmen mitten im Leben. Das biblische Israel hat dafür Merkzeichen entwickelt, Erinnerungszeichen. Und die gibt es im Judentum bis heute. Wenn es in unserem Predigttext heißt: „Und diese Worte ... sollst du zu Herzen nehmen“ ist damit zunächst ein Amulett gemeint, das die Worte enthält: „Höre, Israel!“ bzw. hebräisch: „Schema Jisrael!“ Dieses Amulett wird auf dem Herzen getragen. So rückt man das Bekenntnis ganz nah an das Herz, an unser Wollen und Verstehen. Und wenn es weiter heißt: „Du sollst diese Worte binden zum Zeichen auf deine Hand ... und zwischen deine Augen“ sind damit die jüdischen Gebetsriemen gemeint, die „Tefillin“. Diese werden zum täglichen Morgengebet um den linken Arm gebunden und um die Stirn gelegt. An den Lederriemen sind kleine Kapseln befestigt, in denen auf ein Stück Pergament das „Höre Israel!“ und weitere biblischen Texte geschrieben sind. Und wenn einer heute in ein jüdisches Haus geht oder es verlässt, dann berührt er mit seiner Hand einen kleinen Behälter, der am Türrahmen befestigt ist. Der heißt „Mesusa“ und enthält ebenfalls das „Schema Jisrael!“ So also durchzieht das „Höre Israel!“ den jüdischen Alltag und erinnert täglich an den, der alles umfasst: unser Tun und Lassen, unser Lieben und Bangen, unser Leben und Sterben. Keiner anderer sonst!
Und wie ist das in unserem Alltag? Besitzen auch wir Christen solche Merkzeichen und Erinnerungszeichen? Ich habe lange darüber nachgedacht, und es ist mir eigentlich nichts eingefallen. Außer vielleicht eines, das zu einem solchen Erinnerungszeichen taugt: die Bibel. Und vielleicht nehmen wir einmal unsere Bibel aus dem Schrank und legen sie an einen besonderen Platz in unserer Wohnung, wo wir sie täglich sehen. Das könnte so ein Erinnerungszeichen sein! Oder noch besser, wir schauen hinein und hören – hören auf Gottes Wort. Amen.

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