3. Sonntag nach Trinitatis (06. Juli 2014)

Autorin / Autor:
Pfarrer Christof Weiss-Schaut, Bretzfeld [Christof.Weiss-Schautt@gmx.de]

Ezechiel 18, 1-32

Liebe Gemeinde!
Wer fällt Ihnen ein, wenn Sie das Sprichwort hören: „Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm.“ Wer tritt Ihnen da vor Augen? (kurzes Innehalten)Sind Ihnen Menschen eingefallen?
Wir verwenden dieses und ähnliche Sprichworte nicht ohne Grund. Solche Redewendungen halten Lebenserfahrungen fest, die viele Menschen machen.
Familie prägt. Kinder erlernen von ihren Eltern Verhaltensweisen und Strategien, ihr Leben zu meistern. Manchmal sind das auch schwierige Muster.
Wem fallen nicht Familien ein, die ein Motto haben, das sich durch Generationen hindurchzieht. Wie zum Beispiel: Uns kann keiner was! Oder: Wir kümmern uns um andere!
Familienbande sind stark. Und es gibt auch Familien, in denen beispielsweise viele an derselben Krankheit erkranken, an Alkoholismus, an Brustkrebs usw.
Ich frage mich: Wie viel kann ein Mensch selbst gestalten, und wie viel ist vorgegeben durch unsere Erbanlagen und die Erziehung?
Wie vorherbestimmt ist mein Leben und wie viel Freiheit habe ich, mich selbst zu entscheiden?

Bis ins dritte und vierte Glied

Auch in der Bibel ist diese Erfahrung festgehalten. Die Generationen sind abhängig voneinander. Die Art und Weise, wie unsere Vorfahren handelten, hat Auswirkungen für unser Leben heute. In bedrückender Weise wird das in der Einleitung der Zehn Gebote im 2. Buch Mose greifbar, dort heißt es: „Ich, der HERR, dein Gott, bin ein eifernder Gott, der die Missetat der Väter heimsucht bis ins dritte und vierte Glied an den Kindern derer, die mich hassen“
(2. Mose 20,5).
Bin ich für die Schuld meiner Vorfahren verantwortlich? Muss ich auslöffeln, was sie sich eingebrockt haben?
Zu Zeiten des Propheten Hesekiel machte ein Sprichwort die Runde: „Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden.“
Die Menschen, die diese Worte für bare Münze nahmen, waren sich sicher, dass sie von Gott für die Schuld ihrer Vorfahren zur Rechenschaft gezogen wurden. Diese Menschen saßen fern der Heimat im babylonischen Exil. Sie hatten keine Hoffnung mehr, sie waren resigniert. Was sollten sie auch tun, wenn Gott an ihnen die Missetaten ihrer Eltern heimsuchte? Ihnen blieb nur, sich ihrem Schicksal zu ergeben. Sie waren wie gelähmt, dabei hatten sie als Nachgeborene nichts mit den Ereignissen von damals zu tun, die zur Deportation geführt hatten.
Sie wussten, was zur Katastrophe geführt hatte. Die falsche Bündnispolitik und die Überschätzung der eigenen Stärke waren die wesentlichen Gründe für den Untergang. Dazu kam, dass auch im Innern vieles im Argen lag: Korruption, soziale Ungerechtigkeit, … Menschen, die wache Sinne hatten, hatten es kommen gesehen. Das, was eingetreten war, war die logische Folge vieler politischer Fehlentscheidungen.
Aber was hatte Gott damit zu tun? Konnte es wirklich Gottes Willen sein, dass es ihnen, den Nachfahren, so schlecht ging? Sie begannen an diesem Gott zu zweifeln, der einen unbarmherzig für Dinge bestraft, für die man nicht selbst verantwortlich ist. Das ist doch nicht gerecht!
Ich kann diese zweifelnden Fragen gut verstehen.
Auch heute brechen diese angesichts gesellschaftlicher und globaler Probleme zwischen den Generationen auf. Bei der Veränderung des Klimas erleben wir gerade Entwicklungen, die ihre Ursachen in 80er und 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts haben.
Trotz aller Beteuerungen und politischen Anstrengungen leben wir weiter auf Kosten unserer Nachkommen.
Lässt sich für das, was zwischen Generationen an Konflikten und Schuld entsteht, wirklich Gott verantwortlich machen? Sind wir IHM ausgeliefert?

Wir hören Worte des Propheten Hesekiel:
Hesekiel 18, 1-4.21-24.30-32

Das Leben wählen

Liebe Gemeinde! Die Botschaft des Hesekiel eröffnet mir eine neue Sicht, sie befreit mich von meinen Vorurteilen, sie stellt meine Füße auf einen weiten Raum, einen Raum der Gegenwart, einen Raum des Lebens.
Hier begegnet mir ein Gott, der das Leben möchte, der keinen Gefallen am Tod hat. Das zeigt mir: Gott ist ein Freund des Lebens.
Ja, ER ist ein eifernder Gott, aber sein Eifer gründet in der Liebe zum Leben.
Dafür gibt er alles, selbst sein Liebstes – seinen Sohn. So sehr liebt er die Welt.
Er lässt nichts unversucht, um Menschen einzuladen.
Jedem Einzelnen wendet er sich zu.
Ich nehme mir diese Lebensworte zu Herzen:
Gott wirbt um mich, er wendet sich mir zu,
das ermöglicht mir einen anderen Blick auf mich selbst.
Mich annehmen, so wie ich bin.
Verantwortung für mein Leben übernehmen.
Mich nicht auf das Gestern festlegen lassen,
auf meine Herkunft, meine Familie, meine Gene.
Mich so annehmen, wie ich geworden bin, mit meiner Geschichte,
mit aller Begrenzung, mit meinem Scheitern, meiner Schuld.
Mich annehmen mit meinen Gaben,
mit dem, was mich auszeichnet und besonders macht.
Dazu muss ich innehalten,
mein Leben in den Blick nehmen.
Schweres und Schönes betrachten.
Mich von Gott einladen lassen, das Schwere abzulegen.
Mich versöhnen mit meiner Vergangenheit,
sie nicht weiter mein Leben bestimmen lassen:
Aufbrechen mit leichtem Gepäck,
mit den Ahnungen, wo das Leben zu finden ist.
Mich der Gegenwart zuwenden,
mich zum Leben bekehren.
Die Worte des Propheten machen mir Mut:
Ich kann mich jeden Tag neu für das Leben entscheiden.
Ich kann wählen zwischen Gut und Böse, zwischen Leben und Tod.
Nichts muss ablaufen, wie es immer schon war.
Gott eröffnet mir Lebensalternativen,
er weist mir Wege ins Leben.
Heute ist meine Gelegenheit zu leben.
Heute ist der Tag des Heils.
Ich bin selbst für mein Leben verantwortlich.
Ich brauche mich nicht hinter anderen zu verstecken,
nicht hinter meinen Eltern, meinen Geschwistern, meinem Umfeld.
Ich brauche nicht länger die Schuld bei anderen zu suchen.
Ich brauche mich nicht lähmen zu lassen durch das Handeln anderer.
Die Entscheidung liegt bei mir.
Gott lädt mich ein in die Freiheit.
Ich trage Verantwortung für mein Leben, aber auch für andere, für die Welt.
Dazu fordert mich Gott durch sein Wort auf.
Ich kann meinen Teil dazu beitragen,
dass die Welt gerechter wird,
dass sie etwas mehr dem entspricht, was Gott mit ihr beabsichtigt.
Ich kann Ungerechtigkeit beim Namen nennen,
kann Zeichen der Gerechtigkeit setzen,
indem ich mit anderen teile, mich den Armen zuwende,
den Rechtlosen zu ihrem Recht verhelfe.
Nichts ist alternativlos.
Ich bin von Gott eingeladen,
mich auf den Weg der Gerechtigkeit zu machen und
meine Füße auf den Weg des Friedens zu richten.
Gott möchte mich als Lebenspartner, welch eine Auszeichnung!
Er nimmt mich so, wie ich bin.
Er ruft mich immer wieder neu ins Leben.
Er schenkt mir ein neues Herz und einen neuen Geist.

Gebundene Freiheit

Liebe Gemeinde! Am Anfang meiner Predigt standen Fragen: Wie viel kann ein Mensch selbst gestalten, wie viel ist vorgegeben durch unsere Erbanlagen und die Erziehung?
Wie vorherbestimmt ist mein Leben und wie viel Freiheit habe ich, mich selbst zu entscheiden?
Diese Fragen kommen nicht von ungefähr.
Sie lassen sich nicht einfach beiseite schieben.
Sie beinhalten Lebenserfahrung.
Es gibt Momente, in denen fühlen wir uns durch andere bestimmt,
da ist es so als hätten wir keine Wahl.
Es gibt Situationen, da sind unsere Handlungsspielräume verschwindend klein.
Alles scheint entschieden zu sein.
Wir leben nun mal nicht auf einer Insel, wir sind eingebunden in Umwelten, die uns begrenzen und befördern, stören und unterstützen.

Und wo bleibt die Freiheit?

Die Lebensworte des Hesekiel nehmen einen radikal anderen Blickwinkel ein.
Gott nimmt bewusst den einzelnen in den Blick, hebt ihn heraus aus der Masse, sieht jeden als sein Kind, als Tochter, als Sohn.
Und er würdigt jeden und jede, indem er ihnen Verantwortung für ihr individuelles Leben zugesteht. Er holt sie heraus aus Sippenhaft, aus Zwangssystemen und aus Kollektivschuld. Jeder und jede ist von Gott befähigt, über sein Geschick selbst zu entscheiden, ihr Dasein selbst zu gestalten.
Gott gibt uns einen neuen Geist, ein neues Herz, er eröffnet uns eine andere Sicht der Wirklichkeit. Er lädt uns ein, dem Leben in unserem Alltag Raum zu geben.
Dieser Weg ins Leben ist ein durchaus mühsamer und abenteuerlicher Weg.
Selbst Verantwortung zu übernehmen, ist aufwändig und anstrengend.
Ich kann mich immer wieder dem lebendigen Gott zuwenden – umkehren.
Bekehrung zum Leben als tägliche Übung:
Heute möchte ich Gott Raum geben.
Heute will ich in Situationen abwägen, was zu mehr Lebendigkeit führt und was sie behindert und mich dann für das Leben entscheiden.
Heute möchte ich Verantwortung übernehmen auch für das, was schwierig ist und nicht die Schuld bei anderen suchen und mich hinter ihnen verstecken.
Heute möchte ich aufmerksam durch meinen Tag gehen und wahrnehmen, wo das Leben pulsiert, wo es keimt und wächst, damit ich sensibler werde für die Lebendigkeit.
Heute möchte ich Gott für die lebendige Freiheit danken, die ich erlebe, die ich in mir spüre.

Mich laden die Worte des Hesekiel ein, die Seiten zu wechseln, nicht mehr länger zu überlegen, wo ich überall begrenzt werde, fremdbestimmt bin usw., sondern den Lebensblick einzunehmen, den Wind der Freiheit zu spüren, zu entdecken, das Gott ein Gott des Lebens ist. Amen.

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