5. Sonntag nach Trinitatis (20. Juli 2014)

Autorin / Autor:
Pfarrer Jochen Maurer, Stuttgart [Jochen.maurer@elkw.de]

2. Thessalonicher 3, 1-5

Liebe Schwestern und Brüder!
„Der Glaube ist nicht jedermanns Ding!“ Viele Beobachtungen und Erfahrungen, die Sie oder ich machen, belegen die Wahrheit dieses Satzes.
Mir fällt der nichtöffentliche Teil unserer KGR–Sitzungen ein: „Aus-, Ein- und Übertritte“: Selten ein Eintritt, gelegentlich ein, zwei Übertritte – Austritte dagegen haben wir jedes Mal, und sie sind auch immer in der Mehrzahl.
Ein anderes Beispiel ist die große Spannung, die ich, die wir erleben, zwischen dem, was wir mit Taufe und Trauung verbinden und was für uns daran unverzichtbar ist – und den Erwartungen und Bedürfnissen der Paare, der Eltern und der jeweiligen Familien. Das zeichnet sich meist schon im Trau- bzw. Taufgespräch ab: Wenn der Wunsch nach der kirchlichen Trauung oder der Taufe für das Kind nicht mehr zu sein scheint, als einen festlicher Rahmen für ein „schönes“ Familienfest zu schaffen.
Wenn wir den Blick noch weiter fassen, nehmen wir wahr, dass in der Bundesrepublik heute 36,6% der Bevölkerung konfessionslos leben – das heißt 29,6 Millionen; daneben sind 30,3% katholisch und 29,8% (ca. 25 Mio.) gehören den Kirchen der EKD an.
Und wenn der Glaube nicht jedermanns Ding ist: Ist er denn unser, ist er mein Ding?
Wie ich heute auf dieses Thema komme? Es ist, ganz einfach, einer der Spitzensätze des heutigen Predigttextes:

„Weiter, liebe Brüder, betet für uns, dass das Wort des Herrn laufe und gepriesen werde wie bei euch und dass wir erlöst werden von den falschen und bösen Menschen; denn der Glaube ist nicht jedermanns Ding. Aber der Herr ist treu; der wird euch stärken und bewahren vor dem Bösen.Wir haben aber das Vertrauen zu euch in dem Herrn, dass ihr tut und tun werdet, was wir gebieten. Der Herr aber richte eure Herzen aus auf die Liebe Gottes und auf die Geduld Christi.“

Liebe Gemeinde: Eigentlich ist der Glaube schon mein Ding. Aber dieser Predigttext?
Beim ersten Lesen bin ich enttäuscht: Was sind denn das für Themen?!
„Erfolg der Mission“, dazu die Klage über „falsche und böse Menschen“, dass sich da einer beruft auf das, was er „gebietet“, das heißt befiehlt.
Das klingt weinerlich – ein alter Mann, der mit den geänderten Zeitläuften nicht zurechtkommt! Und dazu kommt, dass so vieles fehlt, was sonst für Spannung sorgt:
Ich finde keine gegensätzliche Argumentation vor, wie wir sie sonst von Paulus kennen; kein einziges Paradoxon; keine steilen Thesen und existentielle Infragestellung, über die ich mich ärgern könnte.

Kein Wunder, dass die neutestamentliche Forschung davon ausgeht, dass der zweite Brief an die Thessalonicher kein echter Paulusbrief ist. Wahrscheinlich hat ein Nachfolger, dessen Namen wir nicht kennen, dieses Schreiben unter dem Namen des Apostels veröffentlicht.
Nein: Auf den ersten Blick ist der heutige Predigttext eine Enttäuschung.
Aber es gibt doch einige reizvolle Wendungen, die das Nachdenken lohnen.
Einsichten, die einer guten Beobachtung entspringen – „Der Glaube ist nicht jedermanns Ding!“

Ich finde einen ersten Ansatzpunkt: „Betet für uns“ – der Wunsch nach Fürbitte!
Mit dieser Bitte begegnet uns das, was Kernbestand unseres Glaubens ist, was unverzichtbar dazu gehört und wovon ich als Christ lebe: dass ich bin, weil es Gottes Wille ist. Dass es nicht egal ist, was ich tue und lasse; was mir zustößt und angetan wird. Und dass wir uns betend an Gott wenden können – und schließlich – da ist der Glaube voll und ganz „mein Ding“: Dass es kein Gebet gibt, das näher bei Gott ist als ein anderes.
Beten ist demokratisch – auch in kirchlichen Hierarchien steht da kein Bischof unmittelbarer zu Gott als der letzte und verachtetste Außenseiter.


… und erlöse uns von den falschen und bösen Menschen

Liebe Gemeinde: Das ist der nächste der Spitzensätze dieses Textes. Und sofort die Frage: Wer sind „die“ bösen Menschen? In dieser Bitte begegnen Menschen, die als geballte aggressive Macht auftreten: Bewusst und mit voller Absicht stellen sie sich der Verkündigung des Evangeliums entgegen, um mit allen Mitteln zu verhindern, dass es zu den Leuten kommt. Wie überhaupt im zweiten Thessalonicherbrief „dem“ Bösen, Satan nämlich, eine gewichtige Rolle zukommt – im Vorfeld des jüngsten Gerichts und als Widersacher Gottes und der Christen.
Wahrscheinlich spiegelt sich darin die zunehmende Gefährdung der christlichen Gemeinden durch die Herrschaft im römischen Imperium.
„Seid nüchtern und wacht; denn euer Widersacher, der Teufel, geht umher wie ein brüllender Löwe und sucht, wen er verschlinge“ (1. Petr 5,8).

Ein Bild der Angst: Furchteinflößend diese Manifestation des Bösen im Auftreten und im Gehabe böser Menschen.Und das, liebe Gemeinde, müssen wir ernst nehmen: denn das gibt es auch in unserer Zeit: machtvoll und furchteinflößend. Zum Beispiel in dem, was junge Menschen treibt, erlittene Zurücksetzung und Demütigung heimzuzahlen ohne Mitleid und Erbarmen – die Namen der Städte Emsdetten, Freising, Erfurt und Winnenden zeugen davon.
Und welche Bewertung verdient die demonstrative Pose des Boko–Haram–Führers AbuBaker Schekau in Nigeria nach der Entführung der zweihundert Mädchen, die er und seine Truppe aus ihrem Internat entführt haben?
Bei allem Verständnis für eine andere Position und dem Bemühen, zu verstehen, was die Menschen treibt, für die er zu stehen vorgibt: Können wir dieses Gehabe, dieses Verhalten anders beschreiben als „böse“?
Und viel näher an unserer Realität: Die öffentliche Haltung zu den Morden, die der NSU begangen hat, damals, als noch niemand wusste – richtiger müssen wir sagen: nur ganz wenige wissen wollten – welchen Hintergrund diese Tötungen hatten: Wie das Gift der Lüge und des Hasses sich ausbreitete unter den Sicherheitsbehörden und in den Medien und dazu führte, die Opfer zu verdächtigen – die aber völlig schuldlos waren.

Wir sehen: Das Böse lässt sich nicht immer mit Transparent und Werbebanner identifizieren oder sich durch Brüllen erkennbar machen. Auf demonstrativ vorgetragene Aggression und Hass könnten wir ja reagieren: mit Gegengewalt, durch Vermittlungsbemühungen oder aber vorbeugend, indem den Auslösern und dem Wurzelgrund des Hasses begegnet wird.
Doch das Böse hat ja noch die andere, sehr gefährliche Seite: Es ist seine Fähigkeit, sich unauffällig und unbemerkt einzuschleichen. Es ist eben nicht zu »sehen, wie es über Ihre Schwelle kommt und sich vorstellt: ›Hallo, ich bin das Böse‹« (Joseph Brodsky in einer Rede an Studenten).
Das Böse kommt auf sanften Füßen, in leuchtenden Farben und betörenden Tönen – das gilt für unsere Schulen und die Mobbing–Strukturen dort so sehr wie die sich aufbauenden Feindseligkeiten unter verschiedenen Bevölkerungsgruppen, sei es in Ruanda, sei es in der Ukraine – und besonders beunruhigend ist das der Fall beim NSU, leider auch jetzt noch, wo es um die Frage geht, ob alle Aspekte schon ausgeleuchtet sind.

„Erlöse uns von den falschen und bösen Menschen.“ Ja: Dieser Wunsch ist kein frommer Wunsch. Er hat absolut sein Recht, und wir müssen das Böse ernstnehmen: Es ist eben nicht nur ein Ausrutscher, ein Unfall unserer immer weiteren zivilisatorischen Höhen zustrebenden Weltgeschichte. Das Böse ist vielmehr eine im innersten Kern wohnende Größe. Aber genau darum ist es erst ernstgenommen, wenn auch meine Falschheit und mein Böses in den Blick kommen.
Soweit der Glaube „mein Ding“ ist, meine ich auch zu verstehen, dass diese saubere Trennung der Welt und der Geschöpfe in das gute „Wir“ und die bösen „Anderen“ die Wirklichkeit nicht trifft – so sehr wir uns das auch wünschen mögen. Mit Paulus gesprochen: „Wir sind allzumal Sünder“ – und bleiben das auch zeitlebens.

Und darum bin ich froh, dass wir so nicht in jedem Gottesdienst beten! Es mag ja sein, dass unsere Welt, die Kirche und ich selbst unter den „falschen und bösen“ Menschen zu leiden haben – aber darum ist die Bitte „Erlöse uns von dem Bösen“ grundsätzlicher und sachlich angemessener als die Formulierung, die uns in unserem Predigttext begegnet.


Aber der Herr ist treu – von der Geduld Christi

Liebe Gemeinde: Böse Leute sind eine ernstzunehmende Gefahr – und zwar nicht nur, wenn es um diejenigen geht, die die Ausbreitung des Evangeliums hindern.
Da hat der Autor des 2. Thessalonicher–Briefes Recht.
Doch noch gefährlicher ist es, wenn ich diese Wahrnehmung auf die „anderen“ projiziere und „natürlich“ davon ausgehe, dass ich zu den „Guten“ gehöre.
Wurden die großen Verbrechen nicht immer von Menschen begangen, die sich selbst natürlich als die „Guten“ stilisierten? Das geschah und geschieht immer durch die Ausschaltung jeden Selbstzweifels – ohne die eigene Position in Frage zu stellen.

Wir sind in der Frage der Erkenntnisfähigkeit des Menschen an einem zentralen Punkt: Nicht nur die aktuelle Neurowissenschaft fragt danach, wie bzw. ob der Mensch zur Unterscheidung von Gut und Böse in der Lage ist.
Schon in den ersten Kapiteln unserer Bibel begegnet uns diese grundsätzliche Überlegung: War das nicht das Versprechen der Schlange, dass der Mensch wissen könne, was gut und böse ist – wenn er denn von der verbotenen Frucht kosten würde? Woher wissen wir, was gut und böse ist?
Wir kennen die Maßstäbe: Die Zehn Gebote; das Liebesgebot – weitere Grundsätze unseres Glaubens, nach denen wir unser Handeln ausrichten sollen.

Aber Sünder sein: Das heißt schwanken und umfallen; tun, was Gottes Willen widerspricht – und das geschieht meistens bewusst und absichtlich. Das bedeutet aber: nicht unterscheiden zu können zwischen Gottes Willen und dem, was mein Herz begehrt.
„Betet für uns“ – das ist in diesem Zusammenhang gewiss ein guter Wunsch:
„Betet für uns“: um die Erkenntnis dessen, was Recht ist, was gut – und wo wir in Gefahr sind, die Klarheit über unser Tun und Lassen zu verlieren.

Liebe Gemeinde: „Aber der Herr ist treu!“
Gott sei Dank bietet uns unser Predigttext auch diesen weiteren Satz.
Und das kleine ABER – es ist dabei sehr wichtig: Denn gerade da zeigt sich, dass Gott unser Gegenüber ist – und sein Wesen ist Liebe, ist Treue – das heißt Festigkeit, Zuverlässigkeit. Eben das, wonach wir uns sehnen, was wir oft verfehlen und verspielen – in so vielen Zusammenhängen unseres Lebens.
Gottes Treue – das ist der eigentliche Wurzelgrund unseres Glaubens (und das findet in diesem Text schon sprachlich Ausdruck: Treue und Glauben sind derselbe Wortstamm!)

Die Treue Gottes also – an ihr hängt alles! Sie ist die Substanz dessen, was wir als „Glauben“ kennen und diese Treue Gottes – sie gilt allen: den Guten und den Bösen.
Die Treue Gottes – und die Geduld Christi: Das sind zwei Geschwister.
Die Treue Gottes zu seiner Schöpfung – auch an den Stellen, wo sie ihr ursprüngliches „Gutsein“ aufs Spiel setzt – entspricht der Geduld Christi, der für alle Menschen den Weg der Versöhnung gegangen ist.

„Der Herr aber richte eure Herzen aus auf die Liebe Gottes und auf die Geduld Christi.“
Die Geduld Christi, liebe Gemeinde: Was für ein besonderes, gewichtiges Wort! Was es bedeuten kann, finde ich ausgedrückt in den folgenden Gedanken, sie stammen von einem namenlosen Menschen.
Es ist das Gebet einer unbekannten Frau, die im Konzentrationslager Ravensbrück gefangen war und den folgenden Text hinterlassen hat:

Gott, denke nicht nur an die Männer und Frauen guten Willens,
sondern auch an die mit bösem Willen. Doch erinnere dich nicht an die Leiden, die sie uns zugefügt haben. Erinnere dich an die Früchte, die wir durch dieses Leiden gebracht haben, unsere Kameradschaft, unsere Loyalität, unsere Demut, unseren Mut, unsere Großzügigkeit, die Größe des Herzens, die daraus gewachsen ist. Und wenn sie zum Gericht kommen, lass alle Früchte, die wir hervorgebracht haben, ihre Vergebung sein.

Die Geduld Christi: Das ist Mitleid, es bedeutet auch Leiden für andere – und dieses „für“ macht keine Unterschiede zwischen Nahen oder Fernen – die Geduld Christi schließt sie alle ein – die Guten und die Bösen!

Liebe Gemeinde: Damit sind wir beim eigentlichen Kern dieses Predigtabschnittes.
Dieser Gedanke von der geduldigen Treue Gottes, seiner gnädigen Allmacht – das ist der alles umfassende Grundgedanke, den ich in diesem Text entdecke.
Zugegeben: Keine Liebe auf den ersten Blick, dieser Abschnitt aus dem 2. Thessalonicher–Brief. Wir müssen schon zweimal hinschauen, dann werden wir fündig: Gewichtige Worte, schön und von tiefer Bedeutung – die uns ja ebenso beschäftigen wie die Christen, die nach Paulus kamen – und von denen einer diesen zweiten Brief an die Thessalonischer verfasst hat.

Und so, liebe Schwestern und Brüder, kann ich nur mit ganzem Herzen schließen: Dieser Glaube an den treuen und geduldigen Gott in Jesus Christus – das ist mein Ding!
Amen.

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