8. Sonntag nach Trinitatis (10. August 2014)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Dr. Antje Fetzer, Waiblingen [antje.fetzer@ev-michaelskirche.de]

Römer 6, 19-23

Liebe Gemeinde,
Sind Sie eigentlich zufrieden mit Ihrem Leben?
Ich meine: Sind Sie zufrieden mit dem, was Sie erreicht haben, sind Sie glücklich darüber, wie Sie den Alltag bewältigen? Finden Sie, dass Sie sich im Großen und Ganzen ganz gut schlagen? Wie steht es mit Ihren täglichen Entscheidungen? Können Sie auch bei tieferem Nachdenken dazu stehen?
Das sind unbequeme Fragen, so früh am morgen. Vielleicht denken Sie jetzt: „Was soll denn das? Sind wir nicht hierher in den Gottesdienst gekommen, um Zuspruch und Geborgenheit zu tanken? – Natürlich sind wir zufrieden, meistens zumindest. Aber völlig zufrieden zu sein, das kann ja wohl kein Mensch von sich sagen.“
Sind wir wirklich mit unserem Leben zufrieden? Mit dieser steilen Frage konfrontiert uns der heutige Predigttext aus Römer 6, 19-23.
Es ist der Apostel Paulus, der uns hier auf den Zahn fühlt, uns ins Nachdenken stürzt. Er tut es in Worten und Bildern, die uns heute fremd vorkommen. Bei genauerer Betrachtung stellt er aber sehr aktuelle Fragen ans Leben und unseren Umgang damit.

Drei Denkfiguren von Paulus: 1. Sklaverei oder Knechtschaft

Bevor ich den Text vorlese, möchte ich Ihnen einige dieser Bilder vorstellen: Da ist zum ersten die Sklaverei oder Knechtschaft. Zu Lebzeiten des Paulus war Sklaverei ein gewöhnliches Alltagsphänomen, sozusagen eine Lebens- und Erwerbsform unter anderen. Zum Teil wurde sie sogar beinahe freiwillig gewählt, um eine Verschuldung zu beenden. Sich zu versklaven war eine antike Spielart der Privatinsolvenz: Man traf die Entscheidung dazu aus einer konkreten Notsituation heraus, aber man hatte immerhin die Freiheit, sich den zukünftigen Herrn selbst auszusuchen.
Die Schuldknechtschaft vereint also zwei Aspekte, die uns vertraut vorkommen dürften: Sie bedeutet einen massiven Einschnitt in die Selbstbestimmung, ist aber in bestimmten Engpässen des Lebens unvermeidlich; sie ist ein notwendiges Übel wie der Kredit für den Hausbau oder der Offenbarungseid bei der Insolvenz. Auch wir heutigen Menschen kommen nicht um solche Entscheidungen herum, die uns viel abverlangen, wenn wir unser Leben absichern wollen.
Zum anderen, und das ist interessant, müssen wir zwar in den sauren Apfel der Abhängigkeit beißen, aber wir haben doch die Wahl, von wem wir uns abhängig machen, welche Bank uns den Kredit gewähren soll. Offenbar gibt es auch moderne Formen der „Knechtschaft“.

2. Das Schwarz-Weiß-Denken

Die zweite Denkfigur des Paulus, die ich voranstellen will, ist sein Schwarz-Weiß-Denken. Paulus stellt oft Gegensätze einander gegenüber, wie zum Beispiel Tod und Leben, Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, Unreinheit und Heiligkeit. Ich denke, er tut es aus rhetorischen Gründen, damit seine Leser besser folgen können, und um ihnen klar zu machen, was auf dem Spiel steht. Das wirkt manchmal sehr holzschnittartig und auch arrogant; es kann so klingen, als ob er selbst immer auf der richtigen Seite stünde, ja als ob es überhaupt möglich wäre, immer auf der richtigen Seite zu stehen.
Ich denke, Paulus hat am eigenen Leib erlebt, dass das nicht möglich ist. Auch nach seiner Bekehrung zum Christen ist er ein Mensch mit Fehlern und Schwächen geblieben, ein eifriger, zorniger, manchmal auch verzweifelter Mensch, der sich weit von einem glücklichen Leben entfernt fühlte. Lassen wir uns also von den Schwarz-Weiß-Bildern beim Hören nicht abschrecken, sondern lassen Sie uns fragen, was dahinter steckt.

3. Sünde und Tod

Die dritte Erläuterung, die ich dem Predigttext voranstellen will, betrifft den Kern der Botschaft des Paulus, und hier bin ich mir selbst nicht sicher, ob sie überhaupt übersetzbar ist. Wahrscheinlich erschließt sie sich nicht dem Nachdenken, sondern nur dem Erleben. Ich meine seine Auffassung von Sünde und Tod.
Paulus hat sein Leben lang mit den dunklen Seiten des Lebens gerungen. Er war ein gebildeter Mann, hatte eine Ausbildung zum Schriftgelehrten, und vor seinem sprichwörtlichen Damaskus-Erlebnis, das zu seiner Bekehrung zum Christsein führte, hatte er religiöse Ansichten, die man heute fundamentalistisch nennen würde. Bei seinem Kampf für den vermeintlich rechten Glauben hatte er sich in die Christenverfolgung verrannt. Wie jeder Fundamentalist projizierte er alles Böse auf die anderen, in dem Fall die junge christliche Gemeinde. Und er verfolgte sie mit tödlichem Eifer.
Und dann kam Damaskus. Das Entscheidende an seiner Bekehrung war, dass er plötzlich die dunklen Seiten bei sich selbst entdeckte und sie aushalten konnte.
Ich denke, dass er deshalb so viel von Sünde und Tod spricht, weil diese Erkenntnis wie ein Blitz in sein Leben einschlug: „Ja, ich bin selbst ein Mensch, der Fehler macht, manchmal droht mich mein schlechtes Gewissen zu erdrücken. Manchmal habe ich grausame Angst vor dem Tod. Aber diese dunklen Seiten haben niemals das letzte Wort. Das letzte Wort hat Gott allein. Er nimmt mir in Jesus Christus das Dunkle ab und schenkt mir echtes Leben.“
Sünde und Tod sind eine Realität in unserem Leben, aber sie haben keine Macht, wenn wir Gott vertrauen. Diese tiefe Urerfahrung des Paulus webt sich durch alle seine Briefe, und diese Urerfahrung ist es, die er uns weitergeben möchte, damit wir sie in unserem eigenen Leben entdecken.

Doch nun genug der Vorrede. Hören Sie selbst, was Paulus, dieser spät Bekehrte, zu den Gemeindegliedern in Rom sagt, die auch noch nicht lange Christen waren. Ich lese aus Römer 6, 19-23:
„Ich muss menschlich davon reden um der Schwachheit eures Fleisches willen: Wie ihr eure Glieder hingegeben hattet an den Dienst der Unreinheit und Ungerechtigkeit zu immer neuer Ungerechtigkeit, so gebt nun eure Glieder hin an den Dienst der Gerechtigkeit, dass sie heilig werden.
Denn als ihr Knechte der Sünde wart, da wart ihr frei von der Gerechtigkeit.
Was hattet ihr nun damals für Frucht? Solche, deren ihr euch jetzt schämt; denn das Ende derselben ist der Tod.
Nun aber, da ihr von der Sünde frei und Gottes Knechte geworden seid, habt ihr darin eure Frucht, dass ihr heilig werdet; das Ende aber ist das ewige Leben.
Denn der Sünde Sold ist der Tod; die Gabe Gottes aber ist das ewige Leben in Christus Jesus, unserm Herrn.“

Soweit der Text. Wie stellt Paulus es an, uns seine Urerfahrung von der Befreiung im Glauben nahe zu bringen? Und was hat das alles mit Zufriedenheit zu tun?
Der Schlüssel dazu liegt am Ende des Abschnitts:
„… die Gabe Gottes aber ist das ewige Leben in Christus Jesus, unserm Herrn.“
Paulus bringt mit diesem Satz auf den Punkt, worauf es im Leben letztlich ankommt, und zwar auf Gottes Geschenk. Gott muss den Anfang machen; den Teufelskreis aus Leistungsdenken, Versagensangst und Unzufriedenheit,
in dem wir alle mehr oder weniger tief drinstecken, können wir nicht selber durchbrechen. Solange wir darauf starren, wie wir immer reibungsloser unseren Alltag bewältigen oder immer effizienter unsere Ziele verfolgen können, bleiben wir darin gefangen und drehen uns tiefer hinein.

Um zu verstehen, warum das so ist, hilft ein Blick in den ganz normalen Alltag: für jede noch so kleine Tätigkeit entwickeln wir im Laufe unseres Lebens einen gewissen Standard, wie gut sie ausgeführt werden sollte, damit wir zufrieden sind:
Fürs Aufräumen im Wohnzimmer, für die Sauberkeit im Bad, dafür, wie gründlich wir den Unterricht vorbereiten oder das Paper für das nächste Meeting. Wir brauchen solche unbewussten inneren Standards, sonst müssten wir jedes Mal neu überlegen, wo das richtige Maß liegt. Das wäre viel zu anstrengend und zeitraubend. Solche Standards sind aber auch gefährlich, denn sobald wir sie einmal nicht erreichen, wenn z.B. die Küche längere Zeit unordentlich aussieht oder das wichtige Paper notdürftig zusammengeschustert ist, dann wenden sie sich wie große Zeigefinger gegen uns und fordern ihr Recht. Je schlechter wir innerlich abschneiden, desto unzufriedener werden wir, und wir setzen alles daran, vor uns selbst zu bestehen und wieder in die grüne Zone „angemessener“ Leistung zu kommen. So funktioniert Zufriedenheit „made on earth“.
Diese menschengemachte Zufriedenheit hält auf Dauer nicht, weil wir selbst so vielen Schwankungen unterliegen; weil wir nicht in der Lage sind, barmherzig mit uns zu sein. Weil wir ständig fürchten müssen, zu versagen.
Die hart erkämpfte Entsprechung von Standards und Leistung ist von ständiger Anspannung begleitet, von Zufriedenheit kann man im Grunde gar nicht sprechen. Denn was uns Sicherheit vermitteln soll, setzt uns in allen Bereichen des Lebens unter Druck.

Worauf es im Leben ankommt: Gottes Geschenk

Wenn aber der menschliche Weg in die Irre führt, wie können wir dann Zufriedenheit finden?
Paulus lenkt unseren Blick weg von der Beschäftigung mit uns selbst und unseren kleinen Zielmarken hin auf das Lebensnotwendige: „Versklave dich nicht unter deine selbst auferlegten Leistungszwänge! Du hast die Wahl. Komm herüber in den Machtbereich Gottes, der dich geschaffen hat.“
Unser Leben ist von Anfang an ein Geschenk. Wir sind da, weil Gott uns will und weil er seine ganze Schöpfung liebt. Da gibt es nichts zu beweisen oder zu verbessern. Wir können die Welt durch unser rastloses Optimieren nicht wirklich besser machen, wir schleifen ihr höchstens die Zähne ab, verbrauchen uns selbst in einer Reibungslosigkeit, die uns selbst zum Schmiermittel der unpersönlichen Erfolgsmaschine werden lässt.
Die gute Nachricht ist: wir können die Welt zwar nicht verbessern, wir müssen es aber auch nicht! Ein ganz anderes Leben wartet auf uns, wenn wir uns von Paulus daran erinnern lassen, wer unser Leben eigentlich trägt.
Immer, wenn wir uns selbst in eine Sackgasse verrennen, wenn die Räume eng werden und wir uns überfordern, dann sollen uns diese Worte im Herzen sein: die Gabe Gottes ist das ewige Leben.

Diese Gabe mit offenem Herzen zu empfangen, das ist gar nicht so einfach. Es bedeutet einen bewussten Schritt weg von dem, was unserem Leben sonst so selbstverständlich Struktur und Halt gibt: weg von den Anforderungen im Beruf, weg vom Jahresrhythmus teurer Anschaffungen und Urlaube, weg von den großen und kleinen Standards unseres Lebens.
Es braucht Kraft zum Sprung, denn unser Wille zum Erfolg ist ein mächtiger Sklavenhalter. Es braucht Geduld, unter Gottes so ganz anderer Herrschaft heimisch zu werden.
Ich möchte uns alle ermutigen, diesen Sprung zu wagen. Trauen wir uns! Lassen wir uns ein auf den „Machtbereich“ der Liebe Gottes. Dort gilt Teilen mehr als persönlicher Besitz. Dort ist Konsum uninteressant, weil unsere Bedürfnisse im Tiefesten gestillt sind. Dort gibt es keinen Neid, weil jede und jeder die Chance bekommt, so zu werden, wie Gott sie gemeint hat.
Liebe Gemeinde, sind Sie zufrieden mit Ihrem Leben? Nehmen Sie sich ruhig Zeit für die Antwort.
Amen.

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