Drittletzter Sonntag des Kirchenjahrs (09. November 2014)

Autorin / Autor:
Pfarrer Jochen Schlenker, Stuttgart [jochen.schlenker@elk-wue.de]

1. Thessalonicher 5, 1-11


Liebe Gemeinde,
es mangelt uns in diesen Monaten nicht an Katastrophen in beinahe apokalyptischen, endzeitlichen Ausmaßen! Sie brauchen nur Ihr Radio anzuschalten und binnen weniger Minuten wird jemand über die Ebolaepidemie berichten. Auch wenn diese Seuche aufgrund unserer hygienischen Standards bei uns wohl nicht um sich greifen wird, in Afrika treibt sie auf eine Katastrophe zu. Ich gestehe: Ich höre inzwischen oft weg. Ich schalte aus. Es macht mir Angst und ich fühle mich hilflos.
Auch der Griff zur Fernbedienung und ein Zappen durch die Fernsehprogramme liefert weiteres Material. Die Bilder von Menschen in der Wüste haben sich schon so eingeprägt, dass sie nur kurz auf dem Bildschirm auftauchen müssen, und wir wissen, dass wieder gewalttätige Extremisten Menschen in die Flucht, in den Tod treiben. Ich kann diese Bilder oftmals nicht mehr sehen. Ich schalte weiter. Sie machen mir Angst. Es mangelt uns nicht an Katastrophen in beinahe apokalyptischen, endzeitlichen Ausmaßen!

Ende des Kirchenjahres: Endzeit, Tod und Weltgericht …

Und die Predigttexte am Ende des Kirchenjahres scheinen mit den Themen Endzeit, Tod und Weltgericht in die Düsternis der Weltlage einzustimmen - so der Predigttext für den heutigen drittletzten Sonntag des Kirchenjahres aus dem 5. Kapitel des Briefs des Paulus an die Gemeinde in Thessalonich über das Weltende.
In der Gemeinde in Thessalonich wird das Weltende so konkret und so nah erwartet, dass der Tod einiger Gemeindeglieder die Gemeinde verunsichert fragen lässt: Was ist nun mit den vor der Wiederkunft Christi Verstorbenen? Sind sie verloren? Sind sie ewig tot? Paulus antwortet kurz vor dem heutigen Predigttext mit einer Beschreibung des Weltendes – zuerst werden die Toten auferstehen, dann werden die Lebenden entrückt werden und so werden beide, Tote und Lebende, bei dem Herrn sein allezeit. Mit diesen Worten sollen sich die Christen und Christinnen untereinander trösten.
Dann schreibt Paulus weiter:
"Von den Zeiten und Stunden aber, liebe Brüder, ist es nicht nötig, euch zu schreiben;
denn ihr selbst wisst genau, dass der Tag des Herrn kommen wird wie ein Dieb in der Nacht.
Wenn sie sagen werden: Es ist Friede, es hat keine Gefahr -, dann wird sie das Verderben schnell überfallen wie die Wehen eine schwangere Frau, und sie werden nicht entfliehen.
Ihr aber, liebe Brüder, seid nicht in der Finsternis, dass der Tag wie ein Dieb über euch komme.
Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis.
So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein.
Denn die schlafen, die schlafen des Nachts, und die betrunken sind, die sind des Nachts betrunken. 8 Wir aber, die wir Kinder des Tages sind, wollen nüchtern sein, angetan mit dem Panzer des Glaubens und der Liebe und mit dem Helm der Hoffnung auf das Heil.
Denn Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, das Heil zu erlangen durch unsern Herrn Jesus Christus, 10 der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben.
Darum ermahnt euch untereinander und einer erbaue den andern, wie ihr auch tut."

… und der Tag des Herrn

Der Tag des Herrn wird nicht an den Zeitläufen abzulesen sein – er wird hereinbrechen wie ein Dieb in ein Haus des Nachts. Der Tag des Herrn wird sich nicht exakt vorausberechnen lassen – er wird plötzlich losbrechen wie auch in gewissem Maße heute noch die Wehen einer Schwangeren mit Heftigkeit und Schmerz. Zeit und Stunde sind nicht feststellbar. Und so sind auch nicht Katastrophennachrichten aussagekräftig für den Tag des Herrn. Das schreibt Paulus den Weltuntergangspredigern ins Stammbuch – damals und heute. So schreibt Paulus ja vom Tag des Herrn – und nicht von der Nacht des Untergangs; vom ewigen Sein bei Gott schreibt er – und nicht von ewigem Tod und Vernichtung; als Trost schreibt er es – und nicht als Drohung.
Für mich ist das ein Trost, an dem ich in und gegen alle Katastrophen festhalte: Gott hat uns "bestimmt das Heil zu erlangen durch unsern Herrn Jesus Christus, der für uns gestorben ist, damit, ob wir wachen oder schlafen, wir zugleich mit ihm leben." Wir werden mit Jesus Christus leben!

Zwischen Lähmung und Flucht

Dieser trotzige Trost gibt mir Halt, wenn in diesen Monaten die Nachrichten von Katastrophen sich zu einem nach unten ziehenden, dunklen Strudel der Angst und Hilflosigkeit zu verbinden drohen. Ich brauche diesen trotzigen Trost, um nicht im dunklen Strudel zu versinken und mich nicht in die Weltuntergangsstimmung hinziehen zu lassen, zu resignieren, im Nichtstun zu verharren. Sich nicht von den Nachrichten lähmen zu lassen, sondern wach und nüchtern zu sein, dazu ruft Paulus sich selbst, die Leser und Leserinnen seines Briefes, uns auf: "So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein."
Die Katastrophen sind weit weg und betreffen mich, uns doch nicht direkt. Gerne würde ich fliehen: aus der Welt, aus der Realität, in eine heile Welt, in eine Realitätsferne, in eine Träumerei, wie sie in diesen Zeiten nur Schlafenden möglich wäre. Daher ruft Paulus auch, sich nicht abzuwenden: "So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein."

Die Kinder der Lichts - wach und nüchtern

Ich kenne beides: die Angst, mich in den dunklen Aussichten zu verlieren, und die Verführung, mich von allem bedrohlich Düsteren abzuwenden.
Wenn ich mich in dunklen Aussichten verliere, bekommt auch Gott eine dunkle Seite, die meine Fragen unbeantwortet und das Leid unerklärt lässt. Das ängstigt mich. Es ist der Glaube Martin Luthers, der mir die Angst nimmt. Luther kennt die dunkle Seite Gottes – die das Leid der Welt unerklärt und die drängenden Fragen nach dem 'Warum' und nach dem 'Wie lange noch' unbeantwortet lässt. Luther ringt sich immer wieder die trotzige Glaubenshaltung ab, dass wir uns an die helle Seite Gottes halten sollen. "Gott hat uns nicht bestimmt zum Zorn, sondern dazu, das Heil zu erlangen.", schreibt Paulus. Luther trotzt dem Leid und den ins Dunkel ziehenden Fragen, indem er auf die Liebe Gottes schaut, die Jesus Christus in der Welt sichtbar und erlebbar wurde – uns zum Heil. Seit dem Tag der Auferstehung Jesu Christi von den Toten erhellt die Liebe Gottes die Welt heilvoll mit dem Licht des ewigen Lebens. Kinder dieses Tages der Auferstehung und dieses Lichtes des ewigen Lebens sind wir und können darauf vertrauen: der Tag des Herrn wird der Tag der Freude und der Fröhlichkeit sein, der Umarmung des barmherzigen Vaters, des Festes eines allgütigen Gastgebers. Luther gemahnt ausschließlich daran festzuhalten, wie Paulus: "Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis. So lasst uns nun nicht schlafen wie die andern, sondern lasst uns wachen und nüchtern sein."

Die Kirche – wach und nüchtern?

Als Kind des Lichts kann ich mich dann auch gegen die Verführung wehren, mich von allem bedrohlich Düsteren abzuwenden. Ich brauche die Finsternis der Nacht nicht zu scheuen. Sich nicht abzuwenden sich nicht vorzuenthalten, nicht zu schlafen, sondern zu wachen, das ist der Auftrag der Kirche.
Am 9. November gedenken wir an das Gelingen und das Scheitern der Kirche hierbei:
Wir gedenken an die wache evangelische Kirche in der DDR. Sie ermutigte vor 25 Jahren Menschen in den Leipziger Nächten nach den Montagsgebeten sich nicht schlafen zu legen, sondern wachzubleiben und mit dem Licht von Kerzen einer finsteren Zeit der Unfreiheit und der Unterdrückung heimzuleuchten. Und dies nüchtern zu tun – nicht mit Gewalt, denn darauf hätten die Regierenden eine Antwort gehabt. Auf die nüchternen Mahnwachen, auf Kerzen und Gebete hingegen waren die Einsatztruppen – so ein Leipziger Polizeikommandant später –nicht vorbereitet.
Wir gedenken aber auch an eine Zeit in der Geschichte unserer Kirche vor 76 Jahren, in der nur wenige wachblieben in der Reichspogromnacht, nur wenige ihre Stimme erhoben in den Plünderungen, Brandschatzungen und Prügeleien in dieser Nacht und in den folgenden dunklen Jahren in Deutschland. Nur wenige blieben nüchtern und ließen sich nicht in Führerkult und Rassenwahn hineinziehen.

Die Scheidung zwischen Licht und Finsternis: Das Gesicht des Gegenübers

"Denn ihr alle seid Kinder des Lichtes und Kinder des Tages. Wir sind nicht von der Nacht noch von der Finsternis.", so gemahnt uns Paulus. Die klare und endgültige Scheidung zwischen Licht und Finsternis, zwischen Tag und Nacht, zwischen Gut und Böse ist Gott vorbehalten. Die klare und endgültige Scheidung zwischen Licht und Finsternis ist die erste Tat des Schöpfers und wird am Tag des Herrn seine letzte sein. Für uns ist die Scheidung zwischen Licht und Finsternis, zwischen Tag und Nacht, zwischen Gut und Böse schwer. Sie ist eine übermenschliche Aufgabe und oftmals mit Versagen und Schuld behaftet. 'Wann ist der Übergang von der Nacht zum Tag?' – so fragte ein Rabbi seine Schüler. Der erste Schüler antwortete: 'Dann, wenn ich ein Haus von einem Baum unterscheiden kann.' – 'Nein', gab der Rabbi zur Antwort. – 'Dann, wenn ich einen Hund von einem Pferd unterscheiden kann', versuchte der zweite Schüler eine Antwort. – 'Nein', antwortete der Rabbi. Und so versuchten die Schüler nacheinander, eine Antwort auf die gestellte Frage zu finden. Schließlich sagte der Rabbi: 'Wenn du das Gesicht eines Menschen siehst und du entdeckst darin das Gesicht deines Bruders oder deiner Schwester, dann ist die Nacht zu Ende und der Tag ist angebrochen.'

Wache Kinder des Lichts und des Tages sind Menschen, die im Gesicht eines anderen Menschen das Gesicht ihres Bruders oder ihrer Schwester erkennen. Eine wache Kirche lässt sich weder von den Katastrophen in der Welt lähmen noch wendet sie sich von den Katastrophen in der Welt ab. Eine wache Kirche stellt stets die Gesichter der Brüder und Schwestern im Dunkel, die man nicht sieht, ins Licht.

Amen.

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