Estomihi (02. März 2014)

Autorin / Autor:
Dekan a.D. Dr. Hartmut Fritz, Leonberg [hafri.leo@t-online.de]

Jesaja 58, 1-9

Liebe Gemeinde,
Katerstimmung in Jerusalem: Es ist die Zeit der Rückkehr Israels aus der Gefangenschaft in Babylon. Die Rückkehrer treffen auf einen kleinen Rest von Übriggebliebenen. Die Erwartungen sind groß, die Stimmung ist mies. Es gibt sozialen Unfrieden. Zwar hatte man das Land neu verteilt. Und dafür gab es auch eine Art Treuhand-Gesellschaft. Aber wie das in solchen Situationen zu gehen pflegt: Der Besitz bündelt sich schnell in der Hand von einigen wenigen; die wussten, wie man das macht. Jetzt lahmt die Wirtschaft und nichts geht voran. Die Mauer um die Stadt muss geschlossen werden. Der Tempelbau bleibt in den Anfängen stecken. Deshalb intensiviert man die kollektiven Bußfeiern und Fastentage. Strengeres Fasten ist angesagt; die intensivere Buße müsste Gott doch gnädig stimmen. Doch nichts wird besser. Im Gegenteil. Der Misserfolg führt zu Frust und zu Unmut gegeneinander – und vor allem: zu Unmut gegenüber Gott. Warum fasten wir, und du, Gott, siehst es nicht an? Warum kasteien wir unseren Leib und du willst’s nicht wissen? Die gläubigen Israeliten – zuerst vertrieben, dann wieder heimgekehrt – befinden sich in einer Deutungs- und Gewissheitskrise, was das Fasten, eine ihrer wichtigen Frömmigkeitsübungen, betrifft. Sie stehen in einer Sinnkrise ihrer Religion, der sie doch gerade auch in der babylonischen Gefangenschaft treu geblieben sind; sie haben sich ihren Glauben und ihre Lebenspraxis erhalten. Viele lebten ihren Glauben ehrlich und aufrichtig; man besuchte den Gottesdienst, sang inbrünstig aus dem Buch der Psalmen, fragte nach Gottes Willen und fastete regelmäßig. Aber irgendwie schien das alles aus göttlicher Sicht nur „viel Lärm um nichts“ zu sein, ein äußerliches Getue, das nur Lärmbelästigung im Himmel erzeugt! Deshalb wird der Prophet aufgerufen dieser Lärmbelästigung mit lautem Ruf und vollem Klang eine andere Stimme entgegenzusetzen: „Verkünde es aus voller Kehle, laut wie Trompetenklang und halte dich nicht zurück!“ (Jesaja 58,1)

Die Botschaft des Propheten

Was hat denn der Prophet seinem Volk so laut, so unüberhörbar und unmissverständlich zu sagen?
Die Botschaft des Propheten geht in zwei Richtungen:
– Einmal verstärkt er noch den Frust über das erfolglose Fasten damit, dass er sagt: „Mit eurem Fasten stimmt wirklich etwas nicht!“ (V.3b–5). Euer Motiv und eure Zielsetzungen sind verfehlt. Denn euer Fasten ist ein äußerliches Ritual, aber es bleibt folgenlos. Die vorgebliche Enthaltsamkeit passt nicht zusammen mit eurer Lebenspraxis. Der Verzicht, den ihr euch abringt und den ihr euch auferlegt, passt nicht zusammen mit der gleichzeitigen Bereicherung im fortlaufenden Geschäfte-Machen. Das Kasteien eures Körpers passt nicht zusammen mit der Ausbeutung eures eigenen Körpers und mit der Ausbeutung der anderen.
– Zum anderen fordert der Prophet, dass die Frömmigkeitsübungen ihre Entsprechung finden – nicht nur in einem anderen Verhalten, sondern auch in einer erneuerten Haltung: „Euer Verzicht schaffe anderen Menschen Gewinn!“ (V.6f.) Wahre Frömmigkeit verliert nicht den Blick für den Nächsten, lässt den nahen wie den fernen Nächsten nicht aus den Augen und nicht aus dem Sinn.

Vom falschen und vom rechten Fasten

Liebe Gemeinde, unser Textabschnitt, der an die frühere Gerichtsprophetie z.B. eines Amos anknüpft, ist überschrieben: „Vom rechten und vom falschen Fasten“. Er ist wohl deshalb für den heutigen Sonntag vorgeschlagen, weil mit dem Ende der Faschingszeit herkömmlicherweise der Beginn der Fastenzeit markiert ist. Festen und Fasten sind so in eine schöne Ordnung gebracht. Allerdings hat das Fasten bei uns seinen ausschließlich religiösen Sinn verloren. Der Protestantismus hat das Fasten als Werkgerechtigkeit abgetan und bekämpft, so als ob man Gott damit beeindrucken und beeinflussen könnte. Der Mensch verdient sich Heil und Heilung nicht durch seine guten Werke! Erst langsam, aber immer deutlicher haben wir dann doch auch bei uns und hierzulande die spirituelle Bedeutung des Fastens wieder entdeckt und wieder belebt. Fasten ist ja nicht nur ein Gesundheitsinstrument, ein Hungern um der Diät willen und schon gar nicht ein Mittel, um Gott zu gefallen und ihm einen Gefallen zu tun.
Nun, ich bin kein Gesundheitsapostel und auch kein Propagandist des Fastens. Aber ich meine, man kann den Kern, den tieferen Sinn des Fastens erkennen, tiefer, als dass man da eine Weile Schmalhans Küchenmeister sein lässt. Es liegt darin vielmehr etwas Ganzes, bei dem herauskommt, ob und inwiefern Frömmigkeit unser ganzes Leben betrifft und umfasst, den Gottesdienst und den Alltag, unsere guten Vorsätze und ihre manchmal beschämende Einlösung, das, was wir eigentlich wollen, und das, was wir dann fertig bringen und in Wirklichkeit tun. Es kommt offenbar weniger darauf an, was wir sozusagen in das Schaufenster unseres Lebens hineinstellen und ausstellen, präsentieren und vorzeigen. Denn Gott sieht nicht das an, was vor Augen ist, sondern er sieht das Herz an.
An einer anderen, neuen Art des Fastens hat Gott Gefallen, so verkündet es der Prophet damals und heute: Alles Opfer, aller Verzicht, unsere Gebete und Gottesdienste, unser Gemeindeleben verlieren ihren Sinn, wenn ihnen nicht die Tat der Liebe folgt, wenn ihnen nicht die Praxis der Liebe entspricht. Der Prophet sagt das im Namen Gottes so: „Das ist ein Fasten, an dem ich Gefallen habe: Lass los, die du mit Unrecht gebunden hast; lass frei, auf die du das Joch gelegt hast. Gib frei, die du bedrückst! Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus … Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte…“
Ein neuer Morgen leuchtet auf, wo das ganze Heer von Benachteiligten und Bedrängten vor unsere Augen tritt; denn die im Dunkeln, die sieht man nicht. Wir denken an die Krisen- und Kriegsgebiete unserer Zeit, in denen besonders die Kinder die Verlierer sind und zu leiden haben: Lampedusa, Syrien, Sudan, Ukraine-Kiew, Zentralafrika. Der Weltgebetstag am nächsten Freitag rückt die bedrängte Christenheit in Ägypten in den Blick. „Wasserströme in der Wüste“, so lautet das Motto dieses Weltgebetstags. Es ist das Gebet und die Hoffnung der Christen in diesem in seinen Grundfesten erschütterten und zugleich von Hoffnung ge-tragenen Land, dass alle Menschen in Ägypten, christlich und muslimisch, erleben sollen, dass sich Frieden und Gerechtigkeit Bahn brechen, wie Wasserströme in der Wüste! (Jesaja 41,18ff.)

Der tiefere Sinn des Fastens

Fasten in diesem Sinn, das gibt einen klaren Blick für die Not und für die Bedürfnisse unserer Nächsten, die es ja vor unserer Haustüre gibt genauso wie in den fernen Ländern. Ich bin froh, dass in dieser Zeit immer mehr Vesper-Kirchen ihre Türe öffnen, dass bedürftige Menschen in Tafelläden preiswert einkaufen und für einen reichhaltigeren Speiseplan sorgen können, dass in Diakonie-Läden Haushalts- und Ausstattungsgegenstände für den täglichen Bedarf erworben werden können. Ich bin froh, dass sich immer mehr Menschen um diejenigen kümmern, die auf der Flucht sind und bei uns eine neue Heimat finden wollen.
Dieses Fasten legt auch den Blick frei für manche Widersprüche und Ungereimtheiten, die es in uns selber gibt und in unserer Gesellschaft. Papst Franziskus hat dazu in seinem ersten großen Lehrschreiben (November 2013) ein drastisches Beispiel genannt: „Es ist unglaublich“, so schreibt er, „dass es kein Aufsehen erregt, wenn ein alter Mann, der gezwungen ist, auf der Straße zu leben, erfriert, während ein Kursrückgang um zwei Punkte an der Börse Schlagzeilen macht.“
Der französische Schriftsteller André Gide hat gesagt: „Nur was du hingibst, wird sich entwi-ckeln, was du dir zu sichern versuchst, verkümmert.“ Für mich ist das ein Satz mit großer Heilkraft und Hellsichtigkeit. Und ich erkenne da auch Jesaja in seinem Anliegen wieder, der Menschen im Blick hatte, die genau wie wir heute auf der Suche nach einem gesunden Selbstbewusstsein sind und denen es aufgetragen ist, immer wieder neu einen sozialen Ausgleich zu schaffen.
Ein solches „Fasten“ schärft unsere Sinne und unseren Verstand für unser Zusammenleben, und ein solches „Fasten“ in diesem Sinn gibt auch den Blick frei für mich selbst. Dann nämlich, wenn ich Fasten so übersetze und verstehe, dass ich einen heilsamen Abstand, eine manchmal so notwendige Distanz gewinne zu den Dingen des Lebens, die mich in Anspruch und auch gefangen nehmen, am Tag und manchmal auch in der Nacht. Unser unruhiges Herz treibt uns voran; wir stürzen uns hinein in das Getriebe von Pflicht und Arbeit und lassen uns gefangen nehmen und beherrschen von Gewohnheiten und Programmen, die wir manchmal nicht mehr übersehen können. Abstand gewinnen – manchmal sieht eine Sache, ein Streit, der Ärger des gestrigen Tages im Abstand betrachtet wieder ganz anders aus, und manches bekommt wieder eine andere Rang- und Reihenfolge und eine neue Ordnung und sein rechtes Maß.

Ein Beispiel für zeitgemäßes und sachgerechtes Fasten

„7 Wochen ohne“, so lautet ja das Motto, mit dem seit Jahren ein sinnvolles, kreatives Fasten in der heutigen Zeit empfohlen wird. Es gibt nicht wenige, die sich unter diesem Motto als Gruppen und als Einzelne manches vornehmen; sie verzichten auf etwas in den 7 Wochen der Fastenzeit, um sich unabhängig zu machen von manchen eingeschliffenen Gewohnheiten oder auch Untugenden. Sie wollen herausfinden, dass Verzicht auch Gewinn bedeuten kann, dass nicht nur der Körper Hunger verspürt, sondern auch die Seele, dass auch die Seele eine Nahrung braucht und nicht vernachlässigt werden sollte. Von der heiligen Teresa ist das Wort überliefert: „Sei freundlich zu deinem Leib, damit deine Seele Lust hat, darin zu wohnen.“
In diesem Jahr gibt es die Anregung, nicht nur 7 Wochen ohne Alkohol, Schokolade, Tabak, Fernsehen oder Computer-Spiele auszukommen, sondern 7 Wochen ohne – „falsche Gewissheiten“. Manches Mal lassen wir uns besinnungslos treiben von den Strömungen in un-serer Gesellschaft, von Stimmen und Stimmungen. Selber denken und bewusster leben, das ist gefragt, nicht einfach den Idolen und den Promis, der Werbung und den großen renommierten Verbänden blind vertrauen. Man muss nicht jeder Neuerung zustimmen und jeder Mode hinterherlaufen. Die Dinge gründlich prüfen, unterscheiden, nicht vorschnell urteilen, sondern alle Seiten abwägen. Weisheit des Fastens und die Gabe der Erkenntnis fordern auf, nüchtern zu bleiben, sich nicht allein von Emotionen bestimmen zu lassen, so wichtig das „Bauchgefühl“ auch sein mag. Wie viele ungeprüfte Gemeinplätze lagern da so in unserem Oberstübchen? Worauf berufen wir uns, wenn wir bekannte Regeln und Argumente zitieren und nur dem folgen, was mehrheitsfähig ist? Das Geländer vermeintlicher Gewissheiten muss immer wieder kritisch geprüft werden. So geht es um einen neuen, eigenen Blick auf die Dinge – um vielleicht denkend sich selber und die Welt neu zu entdecken.

„Siehe, hier bin ich!“

Jeder und jede mag da ein eigenes „Fasten“-Programm aufstellen und einen eigenen „Fasten“-Plan – nicht um ein Gesetz zu absolvieren, sondern um eine neue Freiheit zu gewinnen. Vielleicht haben wir es immer wieder nötig, unser Herz von allem möglichen Ballast zu befreien, aufzuräumen und auszuräumen, leer zu werden, dass wieder Platz geschaffen wird für Neues, für den Anruf Gottes an uns, dass wir wieder aufnahmebereit werden für Gottes Gebot und Zuspruch, dass Christus wieder Raum gewinnt in uns und dass ein immer größe-rer Raum entsteht für uns und andere Menschen. Ein neuer Tag kündigt sich in der Morgenröte seiner Liebe an, die wir empfangen, damit wir sie weitergeben. Und es wird dann geschehen, was der Prophet am Schluss unseres Textes sagt und verheißt: „Dann wirst du rufen, und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.“
Ich wünsche mir und uns allen eine Fastenzeit, in der wir etwas von dieser Nähe Gottes spüren und diese Nähe (auch im Sinn unserer Jahreslosung) weitergeben – im Abstand zu den Dingen und in der Zuwendung zu den Menschen, die wir brauchen und die uns brauchen und die auf uns warten. Amen.

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