Judica / 5. Sonntag der Passionszeit (06. April 2014)

Autorin / Autor:
Pfarrer Jochen Maier, Kirchheim/Teck [Jochen.Maier@elkw.de]

Hebräer 13, 9-14

Liebe Gemeinde,
in den Religionen hat man immer versucht, diejenigen Stellen zu finden, an denen man dem Göttlichen näher sein kann. Man hat versucht, irgendwelche Orte zu entdecken, an denen einem Gott mehr wohnt als anderswo. Heiligtümer haben sich dann entwickelt: heilige Berge, heilige Quellen, heilige Haine, heilige Tempel, Kathedralen, Dome. Es musste doch Stellen geben, an denen die unsichtbare Gottheit erreichbar ist und die Erde berührt!
Man hat in all der Bemühung um heilige Stellen in der Welt sicher auch versucht, sich dem Geheimnis Gottes ehrfürchtig zu nähern. Aber zugleich steckt in allen menschengemachten Ritualen und Kulten und Heiligtümern auch der Versuch, die Unfassbarkeit Gottes irgendwie verfügbar zu machen. Wir hätten es so gern, dass wir Gott verlässlich antreffen können, dass wir ihn sehen und ihm zuverlässig begegnen können. Es ist manchmal so schwierig und mühsam, im Glauben an Gott festzuhalten, wenn man nichts von ihm sieht oder spürt. Es ist manchmal so schwierig, seiner Begleitung zu vertrauen, wenn man auf die schweren Schicksale von Menschen in der Nähe schaut, die unter Erschöpfung oder Depression, unter Krankheit oder herbem Verlust eines nahen Menschen leiden. Wie schön wäre doch ein fester, verlässlicher, sichtbarer, bleibender Ausdruck von Gottes Nahesein!

Sehnsucht nach Beständigkeit

Ich glaube, diese Sehnsucht nach Gewissheit und Beständigkeit, die sich nicht zuletzt auf Gott bezieht, ist ein Grundwesenszug unseres Menschseins. In uns ist die tiefe Sehnsucht nach der Dauer des Guten, des Wahren, des Schönen. Wir hätten gern, dass das Gute beständig und bleibend bei uns ist: nämlich alles, was uns glücklich macht, was uns freut, was uns Heimat gibt. Und auch im Glauben wünschen wir uns so die Dauer des Guten – die verlässliche Bewahrung durch Gott, das bleibende Gefühl der Geborgenheit, eine beständige Gewissheit im Herzen.
Einer meiner größten Glücksmomente als Kind war einmal, als wir im Kindergarten im Frühjahr einen Ausflug in den Wald machten und wir Kinder dort begannen, uns kleine Hütten zu bauen aus Ästen und Zweigen und Laub. Die Sonne war schon ganz warm und hell. Es wurden richtig schöne kleine Hütten. Wir fühlten uns ganz zuhause und aufgehoben darin, und dieses Gefühl der selbstgefundenen Behausung machte mich so selig, dass ich es heute noch genau weiß.
Heute wundert mich nicht mehr, dass sich dieses Gefühl des Glücks ausgerechnet an Hütten festgemacht hat: Als einmal drei Jünger Jesu mit ihm auf dem Berg waren und Jesus plötzlich in verklärtem Licht sahen und spürten: „Hier ist Gott selber da!“ – da sagte Petrus: „Herr, hier ist gut sein! Willst du, so will ich hier drei Hütten bauen.“

Selbstabsicherung

Wir Menschen wollen sicher sein, geborgen sein, aufgehoben sein. Wir wollen zutiefst bleiben können und nicht obdachlos sein.
Alles Suchen nach Glück will im Grunde Ewigkeit.
So ist es wenig überraschend, dass es im Glauben ebenfalls diese Versuche gibt, die Nähe zu Gott möglichst auf Dauer zu stellen:
Das geschieht dann in der Regel dadurch, dass man Orte oder Lehrmeinungen oder Frömmigkeitsformen insgeheim oder offen als heilig betrachtet: Vielleicht Lourdes oder den Evangelischen Kirchentag; vielleicht bestimmte Glaubenslehren oder ein bestimmtes wörtliches Verständnis der Bibel; vielleicht eine bestimmte Form von Lobpreisgottesdienst oder ein Bach-Oratorium.
Aber dann geschieht immer wieder neu – auch in der christlichen Glaubensgeschichte –eine verhängnisvolle Verengung: Der Glaube versucht sich an bestimmten Glaubensformen selbst abzusichern. Man muss dann zu einer bestimmten Gruppe gehören, einer bestimmten Meinung sein oder einen bestimmten Glaubensstil teilen. Und immer wieder wird diese – durchaus fromm gemeinte – Absicherung meines Glaubens dann zu einer Abschottung des Glaubens oder zur Glaubenserstarrung.

Lebensbewegungen des Glaubens

Auf diesem Hintergrund hören wir jetzt auf die Aussagen des heutigen Predigttextes aus dem 13. Kapitel des Hebräerbriefes, zuerst auf Vers 9 bis 12:
„Lasst euch nicht durch mancherlei und fremde Lehren umtreiben, denn es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade, nicht durch Speisegebote, von denen keinen Nutzen haben, die damit umgehen. Wir haben einen Altar, von dem zu essen kein Recht haben, die der Stiftshütte dienen. Denn die Leiber der Tiere, deren Blut durch den Hohenpriester als Sündopfer in das Heilige getragen wird, werden außerhalb des Lagers verbrannt. Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor.“

Liebe Gemeinde, die alttestamentliche Bilderwelt von Altar und Allerheiligstem und Sündopfer ist uns eher schwer zugänglich. Aber diese Rede vom Allerheiligsten in der Stiftshütte einerseits – und dem Sterben Jesu draußen vor dem Tor andererseits – möchte veranschaulichen, wo für uns Christen wirklich das Heil und die Heiligkeit Gottes zu finden sind.
Kurz gesagt: Das wahre Heiligtum, der wahre Ort der Anwesenheit Gottes, ist nicht im gesicherten Bereich, nämlich der Stadt, sondern draußen vor dem Tor. Der wahre Ort der Anwesenheit Gottes ist nicht im berechenbaren, routinemäßigen Bereich der gewohnten religiösen Riten, – nämlich dem traditionellen Tempeldienst der Hohenpriester – sondern im Niemandsland von Golgatha, dem Hinrichtungsort Jesu, dem Ort von Blut und Tränen, Unrecht und Leiden.
Gottes Heil und Gnade finden wir nicht in der Absicherung unseres Glaubens durch religiöse Gewohnheiten, und seien sie noch so fromm! Gottes Heil und Gnade finden wir darin, dass wir uns mit Jesus hinausführen lassen an die unsicheren, unklaren und manchmal schmerzlichen Ränder des Lebens.
Das Heilige ist nicht in bestimmten Orten oder Glaubensgewohnheiten fest verankert, sondern es ereignet sich in bestimmten Lebensbewegungen.
Ich sage „Lebensbewegungen“, weil im Predigttext tatsächlich zwei Bewegungsrichtungen genannt sind.


Ehrlichwerdung

Die erste Bewegungsrichtung ist beschrieben in Vers 12 und 13:
„Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor. So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen.“
Die erste genannte Lebensbewegung im Glauben an Christus ist der Mut, sich nicht stark und gesichert, sondern sich schwach, angefochten und verletzlich zeigen zu können.
„Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig!“ hat Jesus zu seinen Jüngern gesagt. Damit hat er beschrieben, in welcher Lebensbewegung Gottes Nähe und Kraft zu erfahren ist – nämlich im Vertrauen nicht auf die eigenen Glaubenskräfte und die eigen Glaubensstärke, sondern im Vertrauen auf Gottes Kommen in meine Schwachheit, meine Ratlosigkeit, meine Hilflosigkeit hinein.
Der gekreuzigte Jesus ist bemitleidenswert, erbärmlich, lächerlich schwach. Könnte es sein, dass der gekreuzigte Jesus, den Gott in allem Scheitern und allem Leid dennoch hält und ins Osterlicht der Auferstehung führt, uns vor Augen führen soll, wohin Gott auch bei mir kommen muss, damit mein Leben geheiligt wird? Und mit „geheiligt“ ist gemeint: von Gottes Barmherzigkeit durchdrungen. Im gekreuzigten Jesus geht es Gott um unsere Ehrlichwerdung. Dass wir uns nicht mehr belügen müssen über unsere Schwachheit. Dass wir angewiesen sind auf Hilfe. Dass wir den Glauben lernen als Weg zum Verzicht auf unsere Selbstbehauptung. Im Glauben geschieht eine heilsame Enttäuschung, die uns zuallererst zu Menschen nach Gottes Willen macht: dass wir uns nicht als stark aufspielen müssen, sondern zu uns stehen können als Schwache.
Gott hat für diese Welt einen Verwandlungsweg vor, in dem einmal die Hingabe ganz über die Selbstbehauptung siegen soll. Das ist im Weg Jesu schon vorgezeichnet. Es ist ein Verwandlungsweg, auf dem einmal die Liebe ganz über den Tod siegen soll. So ist es noch nicht! Aber im Glauben sind wir wirksamer Teil dieses Weges.

Leben im Übergang

Darum geht es in der zweiten Lebensbewegung, die im Predigttext beschrieben ist. „ Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“
Die letztjährige Jahreslosung beschreibt diese Lebensbewegung der biblischen Glaubensverheißung: Wer an den Gott Abrahams und Moses und den Vater Jesu Christi glaubt, der weiß sich auf eine Wanderschaft gerufen. Oder anders gesagt: Ein Christ lebt im Übergang. Was jetzt ist, ist nicht nichts. Aber es ist auch ganz gewiss nicht schon alles! Was jetzt ist, ist Teil meiner suchenden und hoffenden Lebensbewegung in Richtung der Heimat bei Gott. Dieses Ziel gibt meinen gegenwärtigen Schritten Gewicht und Bedeutung. Was heute in meinem Leben ist, es mag schön und schwierig sein, ist nicht unwichtig, denn es hat seine Bedeutung als Schritt auf dem Weg zum Ziel! Ich darf und soll mein Leben als Hinführung zum Ziel achten und schätzen.
Aber zugleich gilt: Was jetzt ist, ist Etappe auf dem Weg, ist bestenfalls ein Stückchen Hinführung zum Ziel. Das gibt für das Hier und Jetzt in meinem Leben auch ein wohltuendes Maß: Was jetzt ist, ist wichtig, aber nicht entscheidend.
Als Christ kann ich also mit dem Bewusstsein leben, dass die momentanen Habseligkeiten und Befindlichkeiten in meinem Leben nur gewissermaßen zeitweilige Etappenerfahrungen und Etappenausrüstungen sind. Ein Christ lebt im Übergang.
Gesundheit und Fähigkeiten meines Leibes, Willenskraft und Gefühlskraft und Sehnsuchtskraft meiner Seele – alles Ausrüstungen fürs Unterwegssein, fürs erwartungsvolle Suchen , für das Wachstum im Vertrauen. Aber auch die Kräfte von Wehmut und Trauer, von Krisen und Fehlern können sich im vertrauenden Mitgehen mit Gott dann als Fundstellen vertieften Lebens entpuppen. Diese dunklen Etappen sind nicht an und für sich gut; sie sind sogar oft anstrengend und schmerzlich. Aber sie sind für uns im Glauben vorübergehende Abschnitte auf dem Weg.
Denn das Ganze ist kein Weg, an dem wir uns am Ende in Verirrung und Erschöpfung verlieren, sondern ausdrücklich eine begründete und erfolgversprechende Suche. „Wir haben hier keine Stadt mit bleibendem Charakter, sondern die von Gott her kommende Heimat erstreben wir!“ So müsste man eigentlich diesen Vers genau übersetzen!
Glauben ist die Lebensbewegung, in der ich mit auf Gottes Verheißungen geheftetem Blick vorwärts gehe. Und in diesem Unterwegssein lassen wir uns die zaghaften, wackeligen, kleinen Hoffnungen unseres alltäglichen Lebens mit der großen Hoffnung auf Gottes zukünftige Vollendung aller unsrer Heimat-Sehnsucht füllen. Die große Hoffnung auf den Himmel formt dann die kleinen Hoffnungen unseres alltäglichen Lebens. Das wirkt sich dann etwa heilsam so aus, dass ich zunehmend merke, dass erfülltes Leben vor allem in Herzensruhe besteht und weniger in äußeren Erfolgen und Leistungen. Es wirkt sich dann heilsam so aus, dass ich meinen Nächsten weniger übersehe, dass ich dem anderen zuliebe auf etwas verzichten kann, dass ich Enttäuschungen nicht zum Maßstab meines Handelns mache. Und darin, dass ich mich nicht zu wichtig nehme, aber daran festhalte, dass Gott mich unerschütterlich wichtig nimmt, auch über mein leibliches Sterben hinaus.
Die große Hoffnung auf Gottes Himmel formt im Glauben die alltäglichen Schritte zu gelassenen, mutigen, neugierigen Schritten. Denn wir gehen Gott entgegen, der unsere Heimat ist. Wenn wir unser Leben so – als Heimweg – gehen, dann wird unser Leben geheiligt, ja, dann sind wir selber solche heiligen Stellen in der Welt, an denen Gott die noch unvollendete Welt schon berührt.
Amen.

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