Neujahrstag (01. Januar 2014)

Autorin / Autor:
Dekanin i.R. Anne-Kathrin Kruse, Berlin [kruse.anne-kathrin@gmx.net]

Philipper 4, 10-20

Letzte Worte

Eng hält er sie umschlungen und flüstert ihr ins Ohr. Umgeben von all der Hektik, als der Zug einfährt und die Reisenden zu den Wagentüren drängen, scheint für die beiden die Zeit still zu stehen. Ein Streicheln, ein Kuss, dazwischen ein „Vergiss nicht… und könntest du noch…?“ Sie drängt, er greift nach dem Koffer „Denkst du an mich?“ – „Ich freu mich jetzt schon auf dich! Wir sehen uns – schon bald!“
Letzte Worte, Abschied, Ausblick auf das Neue, von dem wir nicht wissen, wie es sein wird.
Letzte Worte wiegen im Rückblick manchmal schwer. Jeder und jede nimmt anders Abschied vom Alten und geht vorwärts, ins Ungewisse. Ob Sie den Jahreswechsel in der vergangenen Nacht feucht-fröhlich-laut begangen haben oder eher besinnlich in kleinem Kreis bei einem guten Glas Wein oder ob Sie einfach gut durchgeschlafen haben… Je nachdem, ob Sie froh sind, es überstanden zu haben und gerne nach neuen Ufern aufbrechen. Oder ob Sie die Menschen, die Sie lieben, die gewohnte Umgebung, Ihren Beruf auch im neuen Jahr niemals missen möchten. Weil sie Ihr Leben ausmachen. – Und dann gibt es auch das Alltägliche, was im Übergang zum Neuen zu regeln ist und das schon den neuen Kalender füllt. Und doch, die Zeit scheint an Neujahr für einen Tag still zu stehen.

Abschiedsworte zum neuen Jahr?

Der Predigttext, liebe Gemeinde, ist vielleicht das letzte Lebenszeichen von Paulus, das die Gemeinde im nordgriechischen Philippi erreicht hat und das wir heute mitlesen und mithören können:
"Ich bin aber hocherfreut in dem Herrn, dass ihr wieder eifrig geworden seid, für mich zu sorgen; ihr wart zwar immer darauf bedacht, aber die Zeit hat‘s nicht zugelassen. Ich sage das nicht, weil ich Mangel leide; denn ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, wie‘s mir auch geht. Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluss haben und Mangel leiden; ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht. Doch ihr habt wohl daran getan, dass ihr euch meiner Bedrängnis angenommen habt. Denn ihr Philipper wisst, dass am Anfang meiner Predigt des Evangeliums, als ich auszog aus Mazedonien, keine Gemeinde mit mir Gemeinschaft gehabt hat im Geben und Nehmen als ihr allein. Denn auch nach Thessalonich habt ihr etwas gesandt für meinen Bedarf, einmal und danach noch einmal.
Nicht, dass ich das Geschenk suche, sondern ich suche die Frucht, damit sie euch reichlich angerechnet wird. Ich habe aber alles erhalten und habe Überfluss. Ich habe in Fülle, nachdem ich durch Epaphroditus empfangen habe, was von euch gekommen ist: ein lieblicher Geruch, ein angenehmes Opfer, Gott gefällig. Mein Gott aber wird all eurem Mangel abhelfen nach seinem Reichtum in Herrlichkeit in Christus Jesus. Gott aber, unserm Vater, sei Ehre von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen."

Vielleicht die letzten Worte des Paulus an seine „Liebste“, seine erste Gemeinde, die er auf europäischem Boden gegründet hatte und die ihm wohl deshalb besonders ans Herz gewachsen war. "Denn ihr Philipper wisst, dass am Anfang meiner Predigt des Evangeliums, als ich auszog aus Mazedonien, keine Gemeinde mit mir Gemeinschaft gehabt hat im Geben und Nehmen als ihr allein."
Im Gefängnis schrieb er diesen Brief. Nicht das erste Mal hatte man ihn verhaftet und eingekerkert wegen Volksverhetzung, Unruhestiftung oder unerlaubter Missionierung. Es steht nicht gut um ihn. Er muss mit allem rechnen. Und er rechnet mit allem.
Ich versuche mir vorzustellen, was ihn in dieser Situation umgetrieben haben mag: die Einsamkeit, das Gefühl, verlassen zu sein von allen, die ihm nahestanden und wichtig waren. Die Angst vor dem, was ihm bevorstand, die Ungewissheit.
Eingeschlossen in einer Zelle – ausgeschlossen vom Leben.
"Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott. Wer ich auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!" So endet das Gedicht eines anderen Gefangenen, Dietrich Bonhoeffer 1944.
Umso schlimmer, dass Paulus keine Nachricht bekommt. Er sehnt sich nach einem Lebenszeichen aus Philippi. Wie es ihnen wohl gehen mag. Haben Sie ihn schon vergessen…? Aus den Augen – aus dem Sinn? Erwartet er zu viel? Sie werden sich aus Angst vor den Römern doch nicht von ihm und dem Glauben abgewandt haben! Ach was! Sie werden genug in der Gemeinde zu tun haben – sie können sich nicht auch noch um ihn kümmern!

Liebliche Düfte

Endlich kommt ein Brief – und wohl mehr als das: ein Päckchen mit Geld, Lebensmitteln, warmen Sachen zum Anziehen. Endlich! Er hatte schon nicht mehr damit gerechnet.
"Ich bin aber hocherfreut in dem Herrn, dass ihr wieder eifrig geworden seid, für mich zu sorgen; ihr wart zwar immer darauf bedacht, aber die Zeit hat‘s nicht zugelassen…Ich habe aber alles erhalten und habe Überfluss. Ich habe in Fülle!"
Als ich ein Jahr in Jerusalem studierte, sehnte ich mich bei aller Begeisterung für das Studium in der Fremde unendlich nach einem Lebenszeichen von zuhause. Computer gab es noch nicht. Telefonieren war unbezahlbar. Jeder Brief von meinen Eltern wurde gefeiert wie ein Fest und immer wieder gelesen. Dann zu Weihnachten ein Paket! Es war das schönste Paket, was ich je bekommen habe: Lauter Kleinigkeiten, nichts Aufregendes, aber alles einzeln liebevoll verpackt, und zwischen den kleinen Päckchen steckten Orangen, Nüsse und Tannenzweige und Strohsterne. "Ein lieblicher Geruch, ein angenehmes Opfer, Gott gefällig."
Ein lieblicher Duft steigt von solch einem Paket auf. Ein Duft von zuhause, von Heimat, Geborgenheit, Liebe und Fürsorge: auch wenn du weit fort bist, wir denken an dich. Wir sind in unseren Gedanken ganz nah bei dir!
Paulus freut sich „riesig“ darüber, dass ihn seine Philipper nicht vergessen haben. Bei aller Sehnsucht, seinem Wunsch nach Befreiung weiß er sich von der Gemeinschaft der Gemeinde in Philippi getragen – das ist sein Überfluss!

Hocherfreut aus tiefstem Grund

Ein letzter Brief aus der Haft bekommt im Rückblick eine ganz besondere Bedeutung.
Jedes Wort ist wichtig und erzählt von der verdichteten Gefühlslage eines Menschen
und denen, die ihm nahestehen. Im letzten Brief, den Maria von Wedemeyer am 19.12.1944 von ihrem Verlobten Dietrich Bonhoeffer aus der Haft bekommt, heißt es:
„Ich bin so froh, dass ich Dir zu Weihnachten schreiben kann, und durch Dich auch die Eltern und Geschwister grüßen und Euch danken kann. Es werden sehr stille Tage in unsern Häusern sein. Aber ich habe immer wieder die Erfahrung gemacht, je stiller es um mich herum geworden ist, desto deutlicher habe ich die Verbindung mit Euch gespürt. Es ist, als ob die Seele in der Einsamkeit Organe ausbildet, die wir im Alltag kaum kennen. So habe ich mich noch keinen Augenblick allein und verlassen gefühlt… Es ist ein großes unsichtbares Reich, in dem man lebt und an dessen Realität man keinen Zweifel hat…Du darfst also nicht denken, ich sei unglücklich. Was heißt denn glücklich und unglücklich?...“

Wie ähnlich klingt da Paulus: "Ich habe gelernt, mir genügen zu lassen, wie‘s mir auch geht. Ich kann niedrig sein und kann hoch sein; mir ist alles und jedes vertraut: beides, satt sein und hungern, beides, Überfluss haben und Mangel leiden; ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht."
Das sind keine zeitlosen Allerwelts-Weisheiten für den neuen Kalender 2014.
Es sind Erfahrungen und Erkenntnisse, die für uns nicht leicht zugänglich sind
und die nur Paulus für sich so sagen kann. Eingeschlossen in einer Zelle – ausgeschlossen vom Leben findet er in die Wirklichkeit Gottes hinein, in der es sich mit seinen begrenzten Möglichkeiten leben lässt; seine Seele bildet „Organe aus(…), die wir im Alltag kaum kennen“. „Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht.“ In der Kraft, die Christus ihm gibt, kann er es „sich genügen lassen und darum vergnügt sein“. In der Kraft Christi kann er hoffnungsvoll leben und – getrost sterben.

Getrost erwarten, was kommen mag

Hoffnungsvoll leben und eines Tages getrost sterben – das wär‘ s doch! Mehr noch: mit dieser Aussicht zuversichtlich, fröhlich und vergnügt ins neue Jahr gehen! Wenn schon Paulus und Dietrich Bonhoeffer in der Haft von dieser tiefen Freude erzählen können, vielleicht verlockt uns das umso mehr! Weder unsere Sorgen noch unsere gute Vorsätze für das neue Jahr reichen weit und helfen wirklich. Paulus schließt seinen Brief mit Grüßen, vor allem aber mit einem Segen Gottes: "Mein Gott aber wird all eurem Mangel abhelfen nach seinem Reichtum in Herrlichkeit in Christus Jesus."
Und diesen Segen möchte ich Ihnen ans Herz legen. Er soll Sie bergen und heben und durch das Neue hindurch tragen. Gottes Ja ist von Anfang an da und umgibt uns mit einer umfassenden Geborgenheit. Unser ganzes Leben können wir da einhüllen.
Dietrich Bonhoeffer hat am Ende seines letzten Briefes an Maria von Wedemeyer als Weihnachtsgruß – uns wie ein Segen – das Gedicht angefügt, das wir gestern am Altjahrsabend gesungen haben. "Von guten Mächten wunderbar geborgen erwarten wir getrost, was kommen mag. Gott ist bei uns am Abend und am Morgen und ganz gewiss an jedem neuen Tag."
Amen.

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