Rogate (25. Mai 2014)

Autorin / Autor:
Dekan i.R. Dr. Jochen Tolk, Weingarten [Jochen.Tolk@t-online.de]

2. Mose 32, 7-14

Liebe Leserin, lieber Leser!
Sie kennen die Geschichte von der Befreiung des Volkes Israel aus der Sklaverei in Ägypten. Sie wissen um das Wunder am Schilfmeer, um Hunger und Durst auf der Wanderung durch die Wüste, um Entbehrungen, Gefahren, Murren und Verzweiflung, und wie Gott auf wunderbare Weise immer wieder geholfen hat. Und dann der Bundesschluss am Berg Sinai, wo Gott ihnen versprach: Ich will euer Gott sein und ihr sollt mein Volk sein. Ja, sagten sie, wir wollen Gottes Volk sein. „Alles, was der Herr gesagt hat, wollen wir tun und darauf hören.“
Mose steigt auf den Berg, um die Gesetzestafeln zu empfangen. Tage vergehen, er kommt nicht zurück. Die Israeliten am Fuß des Berges warten und warten, geraten in Zweifel, bekommen Angst: Was wird aus uns ohne Mose und seinen Gott? Wer wird uns führen und schützen auf unserem Weg? Ihre Antwort ist das goldene Kalb. Aus dem Goldschmuck der Frauen gießt Aaron ein Götterbild in Gestalt eines jungen Stiers, Symbol für Fruchtbarkeit und Stärke, und sie beten es an und rufen: „Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat.“ Sie bringen Opfer dar, essen, trinken und tanzen.
Von all dem weiß Mose nichts, droben auf dem Berg bei Gott. Aber Gott sieht es und weiß es. Er unterbricht das Gespräch mit Mose und sagt ihm, was dort unten im Lager des Volkes geschehen ist.

„Der HERR aber sprach zu Mose: Geh, steig hinab; denn dein Volk, das du aus Ägyptenland geführt hast, hat schändlich gehandelt. Sie sind schnell von dem Wege gewichen, den ich ihnen geboten habe. Sie haben sich ein gegossenes Kalb gemacht und haben`s angebetet und ihm geopfert und gesagt: Das ist dein Gott, Israel, der dich aus Ägyptenland geführt hat. Und der HERR sprach zu Mose: Ich sehe, dass es ein halsstarriges Volk ist. Und nun lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie vertilge; dafür will ich dich zum großen Volk machen. Mose aber flehte vor dem HERRN, seinem Gott, und sprach: Ach HERR, warum will dein Zorn entbrennen über dein Volk, das du mit großer Kraft und starker Hand aus Ägyptenland geführt hast? Warum sollen die Ägypter sagen: Er hat sie zu ihrem Unglück herausgeführt, dass er sie umbrächte im Gebirge und vertilge sie von dem Erdboden? Kehre dich ab von deinem grimmigen Zorn und lass dich des Unheils gereuen, das du über dein Volk bringen willst. Gedenke an deine Knechte Abraham, Isaak und Israel, denen du bei dir selbst geschworen und verheißen hast: Ich will eure Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel, und dies ganze Land, das ich verheißen habe, will ich euren Nachkommen geben, und sie sollen es besitzen für ewig. Da gereute den HERRN das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte“(2. Mose 32,7-14).

Der Zorn Gottes – darf man davon noch reden?

Geh, dein Volk hat schändlich gehandelt. Mein Volk ist es nicht mehr. Sie haben den Bund gebrochen. Schluss, aus! „Es ist ein halsstarriges Volk. Lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie vertilge.“
Ist das nicht die Stimme eines archaischen, vorchristlichen Gottes, dessen Zorn entbrennt, wenn sein Gesetz nicht eingehalten, seine Liebe nicht erwidert wird? Ein vernichtender, ein tödlicher Zorn.

Liebe, Zorn... Hat Gott Emotionen? Natürlich hat er die: Mitleid, Erbarmen, Liebe sind Emotionen, die ihn bewegen. Deshalb hat er die Schreie der Versklavten in Ägypten erhört, hat sie unter Zeichen und Wundern aus der Hand des Pharao errettet. Deshalb hat er sie auserwählt vor allen Völkern und einen ewigen Bund mit ihnen geschlossen.
Nichts anderes als Mitleid, Erbarmen und Liebe war es, als er seinen Sohn in die Welt sandte, um über die Grenzen seines auserwählten Volkes hinaus zu suchen und zu retten, was verloren ist. In Jesus begegnen wir einer bedingungslosen, einer grenzenlosen Liebe, die keinen Menschen verloren gibt, mag er noch so verloren, noch so böse sein in den Augen seiner Mitmenschen.

Und hier: „Lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne...“ Müssen wir nicht diesen archaischen, alttestamentlichen Gott hinter uns lassen, dessen Zorn entbrennt? Darf man überhaupt noch vom Zorn Gottes reden, seit Jesus die bedingungslose, grenzenlose Liebe Gottes gelebt hat? Seitdem kann, muss man doch jedem Menschen zurufen: Gott liebt dich, wie du bist! Und er liebt nicht nur dich, sondern alle Menschen ohne Unterschied.

Liebe und Zorn Gottes – ein Widerspruch?

Liebe ja, Zorn nein. Der Gott der Liebe kann nicht zornig sein. Er ist immer freundlich, nachsichtig, verständnisvoll, gnädig. „Gott liebt dich, wie du bist“, hört man oft. Von Sünde, Zorn, Gericht Gottes ist heute kaum die Rede, obwohl auch das Neue Testament an vielen Stellen davon spricht. Aber das passt nicht ins heute so beliebte Bild des allgütigen Vaters, des guten Hirten, der uns stets behütet, tröstet, weiterhilft und alles verzeiht. Das würde uns vor die unangenehme Frage stellen, ob Gott uns wirklich liebt, wie wir sind, ob wir nicht Buße tun und unser Leben ändern müssten, damit Gott Freude an uns haben kann.
Zorn... Wenn Gott uns liebt, dann kann er nicht mit freundlicher Nachsicht zuschauen, wenn wir gegen seine Gebote handeln, Böses tun, anderen Menschen, der Schöpfung schaden und unser eigenes Leben verderben. Dann wird er zornig, heißt es hier. Mit Hass und Rachsucht hat das nichts zu tun, mit Willkür schon gar nicht, wenn in der Bibel vom Zorn Gottes die Rede ist. Er hört ja nicht auf zu lieben, ruft immer wieder zur Umkehr von den Wegen, die ins Verderben führen, führen müssen. Denn alles, was wir tun, hat Konsequenzen. Wir können es nicht ungeschehen machen, das Böse wirkt weiter und entfaltet eine zerstörerische Kraft. Die Zerstörung geht nicht von Gott, sie geht von uns selbst aus, und sie schlägt über kurz oder lang auf uns selbst zurück. Es ist unsere Entscheidung, und Gott nimmt sie ernst. Er ist zornig über unser Tun und liebt uns doch.

Mose widerspricht Gott – und betet für sein Volk

Deshalb wagt Mose, Gott zu widersprechen. Deshalb gibt er die Hoffnung nicht auf, dass Gott sich doch noch dazu bewegen lässt, mit diesen schwachen, kleingläubigen, ängstlichen, wankelmütigen, verblendeten Menschen weiterzumachen. Gott hat die Tür noch einen Spalt weit offen gelassen, als er sagte: “Lass mich, dass mein Zorn über sie entbrenne und sie vertilge.“ Noch ist es nicht geschehen, noch ist der Zorn Gottes nicht entbrannt, das heißt: noch hat er sich nicht vor diesem Volk verschlossen.
Mose bittet für sein Volk, auch wenn sie oft genug gemurrt haben, verzweifelt und widerspenstig waren auf dem Weg durch die Wüste. Auch wenn sie, am Fuß des Berges zurückgelassen, nicht länger auf ihn warten wollten, ihn für tot erklärt haben. Er nimmt das großartige Angebot Gottes nicht an, der ihn statt der Nachkommen Abrahams zu einem großen Volk machen will. Mose tritt für seine Leute ein, er will nicht zulassen, dass Gottes Zorn über sie entbrennt. Es sind doch nur schwache Menschen, denen gar nicht bewusst ist, was sie da tun, und welche Folgen das haben wird, wenn sie fröhlich essen und trinken und um das goldene Kalb tanzen. Sie wollen doch nichts Böses, sie brauchen halt etwas Sichtbares, Greifbares, Hoffnung Stiftendes in all ihrer Unsicherheit – von Mose und Gott anscheinend verlassen mitten in der Wüste. Sie machen sich ein Bild, das ihre Wünsche und Sehnsüchte verkörpert, einen Gott zum Anfassen, eine sichtbare, glänzende Hoffnung mitten in der bedrohlichen Wüste.

Der Tanz ums goldene Kalb

Der Tanz ums goldene Kalb – bis heute die Metapher für eine Gesellschaft, die Wohlbehagen, Wohlstand und Lebensgenuss zu den höchsten Werten und Zielen erhebt. Von vielen, auch von kirchlicher Seite, wird immer wieder die zunehmende Habgier, die Genusssucht, der Werteverfall angeprangert und gewarnt: Das kann nicht gut gehen. Es ist ein Tanz am Abgrund. Wer ist gemeint? Sitzen wir nicht alle im selben Boot? Auch wenn wir uns dessen gar nicht bewusst sind?

Die Israeliten in der Wüste wurden getrieben von der Angst ums Überleben, sie träumten von einem Land, in dem Milch und Honig fließt. Ihre Ängste und Sehnsüchte gossen sie in das Bild des goldenen Jungstiers – Symbol der Stärke und des Wohlstands. Wir leben heute in einem Land, in dem für die meisten unter uns mehr als nur Milch und Honig fließt. Wohlstand scheint normal, ja selbstverständlich, und alle sollen daran teilhaben, nicht nur die Reichen. Aber wird es so weitergehen? Es gibt keine Sicherheit, das wissen wir. Werde ich gesund bleiben? Werde ich im Alter genug zum Leben haben? Werden wir überhaupt eine Zukunft haben, wenn immer weniger Kinder geboren werden? Da sind so viele Fragen, die uns beunruhigen. „Du musst dich absichern, Vorsorge treffen, Vermögen bilden“, sagt man uns. Und überhaupt: Man möchte doch etwas vom Leben haben, es ist so kurz.
Haben und genießen, wer will das nicht? Es muss nichts Übertriebenes sein, nur das, was man zur Sicherheit braucht, nur das, was in unserer Gesellschaft als „normal“ gilt. Was „man“ hat, was „man“ braucht, was „man“ sich leistet. Habgierig sind die anderen, ich nicht. Genusssüchtig sind die anderen, ich nicht. Wer den Tanz ums goldene Kalb anprangert, sollte sich dessen bewusst sein, dass er selbst in einem Wohlstand lebt, wie es ihn in der Geschichte der Menschheit noch nie gegeben hat. Er weiß oder kann zumindest wissen, dass Millionen Menschen in armen Ländern brutal ausgebeutet werden für diesen Lebensstandard, damit wir unsere Nahrung und Kleidung, unsere Smartphones, Laptops, Fernsehgeräte, Kameras, Werkzeuge und Haushaltsgeräte so billig kaufen können. Er weiß oder kann zumindest wissen, wie im Interesse des Wirtschaftswachstums die Erde ausgeplündert und die Schöpfung zerstört wird, und wie diese Zerstörung unser eigenes Leben bedroht. Tanz am Abgrund...

Moses Appell an Gottes Treue – und unsere Umkehr

Mose hat im Ringen mit Gott ein Argument, das den Zorn überwinden und den Sturz in den Abgrund verhindern kann. Er appelliert an Gottes Treue, er fleht zu ihm – trotz der Untreue des Volkes – mit diesen Menschen weiter zu machen, ihnen treu zu bleiben, sie ins Gelobte Land zu bringen und die Verheißungen zu erfüllen, die er ihren Vätern gegeben hat. Du bist doch anders als sie, du bist doch Gott. Bleib dir selber treu! „Da gereute Gott das Unheil, das er seinem Volk zugedacht hatte.“
Gott ist zornig und liebt uns doch. Noch ist nicht entschieden, ob unser Weg ins Verderben führt. Noch ist Umkehr möglich, denn stärker als sein Zorn ist die Liebe und Treue Gottes zu seiner Schöpfung und ihren Geschöpfen. „Allein den Betern kann es noch gelingen...“( Reinhold Schneider). Wir können nicht – wie Mose – als Vermittler auftreten zwischen Gott und seinen Menschen. Wir sind ja selbst mit hineinverflochten in diese sich wiederholende Geschichte vom Tanz um das goldene Kalb. Wir werden zunächst für uns selbst beten müssen und dann für die anderen, dass Gott uns allen einen Weg zeigen möge, wie wir umkehren und unser Leben ändern können, damit die Zerstörung des Lebens ein Ende findet und neues Leben aufblühen kann auf unserer geplagten Erde.
Amen.

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