Jubilate (26. April 2015)
Pfarrer Gerd Ziegler, Backnang [Altenheimseelsorge.Backnang-Staigacker@elkw.de]
Johannes 15, 1-8
Liebe Gemeinde!
Wohlschmeckende Trauben und köstlicher Wein sind die guten Früchte des Weinstocks. Wer in einer Weingegend wohnt, hat im Jahreslauf ein faszinierendes Farbenspiel vor Augen. Aus kahlen, braunen Hölzern im Winter sprießen zartgrüne Blätter und Schösslinge im Frühjahr heran. Über den Sommer wachsen die Reben und gedeihen die Trauben in Grün und Tiefblau. Der ganze Weinberg verwandelt im Herbst sein Kleid in leuchtendes Gelb und Rot.
Im Zeitalter des maschinell unterstützten Weinbaus hat der Weingärtner nach wie vor viel zu tun. Der Weinberg benötigt übers Jahr sorgfältige Pflege. Die Weinstöcke müssen achtsam behandelt werden, um zur Erntezeit reiche Frucht zu bringen. Die Kulturpflanze Wein fügt sich ganz in den Rhythmus der Natur. Ihr Gedeihen hängt maßgeblich von der Arbeit des Weingärtners ab.
Der Weinstock steht auch für eine besondere Qualität des Lebens. In Israel wurde er bald zu einem Sinnbild, in dem die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk zum Ausdruck kommt. „Du hast einen Weinstock aus Ägypten geholt“ heißt es im achtzigsten Psalm, „… hast ihn lassen einwurzeln, dass er das Land erfüllt hat“. Anhand dieses Sinnbildes beschreibt der Beter segensreiche und leidvolle Erfahrungen, die sein Volk gemacht hat. Angesichts von Krieg und Zerstörung bittet er Gott um Trost und um – neues – Leben.
Das Wohl der Reben„Ich bin der wahre Weinstock“, so beginnt Jesus seine Rede an die Weggefährten. Das in Israel vertraute Sinnbild greift er auf und bezieht es sogleich auf Gott: Sein Vater ist der Weingärtner. Dessen Tätigkeit gleicht der üblichen Arbeit eines jeden Winzers: Reben ohne Früchte werden abgeschnitten und weggeworfen, gute Reben jedoch gereinigt, der verdorrte Abfall wird gesammelt und verbrannt.
Beim ersten Hören klingt das in Teilen hart. Sollten diese Hinweise Angst machen? Wer könnte sich davon bedroht fühlen? Ich meine nicht, dass Jesus beabsichtigt, den Angesprochenen zu drohen und sie zu verängstigen. Im Gegenteil: „Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe.“ Die Beziehung zwischen Jesus und den Angesprochenen gleicht einer organischen Verbindung. Sie stellt er in den Mittelpunkt: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht.“ Unsere Verbindung mit Christus zeitigt Früchte gleich den gesunden Reben am Weinstock. In den Früchten liegt das Wohl der Reben. Gott genießt diese Früchte. Nach den Worten Jesu: Darin wird der Vater verherrlicht und die Angeredeten werden zu Jüngerinnen und Jüngern.
Was bleibt?Das Stuttgarter Haus der Wirtschaft zeigte in den vergangenen Wochen die Ausstellung „Das Prinzip Apfelbaum. 11 Persönlichkeiten zur Frage ‚Was bleibt?‘“. Eine Initiative gemeinnütziger Organisationen informiert unter diesem Titel zu Möglichkeiten, Teile des eigenen Nachlasses einem guten Zweck zukommen zu lassen. Um für ihr Anliegen zu werben, nutzt die Initiative das organische Bild aus dem Martin Luther zugewiesenen Ermutigungssatz: „Wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.“ Im Begleitbuch zur Ausstellung äußern sich ganz unterschiedliche Persönlichkeiten dazu, was ihnen wichtig ist, worin sie den Sinn des Lebens sehen und was einmal bleibt. Fotografien der Künstlerin Bettina Flitner zeigen die ausgewählten Personen in eindrucksvollen Portraits. Zu ihnen gehören Wim Wenders, der Filmemacher, Reinhold Messner, der Bergsteiger, oder Margot Käßmann, die Theologin.
Drei SichtweisenIm Gedächtnis anderer Menschen liegt für Wim Wenders die wesentliche Form, in der jemand nach dem Tod erhalten bleibt. Wichtiger als alles andere, was man hinterlässt, ist für ihn, wie man in der Erinnerung der Menschen weiterlebt. Und so erhofft er sich, in einer freundlichen Erinnerung zu bleiben. Seine Angst vor der Ewigkeit hat er verloren „durch den Glauben an einen freundlichen Gott“. –
Anders blickt Reinhold Messner auf das Universum. Nichts bleibt ewig, am Ende „verlieren wir uns in der Unendlichkeit“, so der Bergsteiger. Von dem, was Menschen zwischenzeitlich geschaffen haben, besteht seiner Auffassung nach nur fort, was von anderen belebt und weitergetragen wird. Als sein Erbe an nachfolgende Generationen will er seine Museen und sein Wissen einbringen. Es geht ihm nicht darum, anderen als Individuum in Erinnerung zu bleiben. –
Mit den Menschen, die vor ihr geglaubt haben und mit denen, die heute auf der ganzen Welt glauben, weiß sich Margot Käßmann verbunden. Weil auch nach unserem Tod die Welt weitergeht, ist für sie wichtig, verantwortlich im Hier und Jetzt zu leben und an die Kinder, Enkelkinder und die Welt insgesamt zu denken. Die Theologin ist überzeugt: „Die Liebe bleibt“; lassen wir Liebe zurück, wirkt diese weiter.
Wer bleibt?„Bleibt in mir und ich in euch.“ Ist das eine Aufforderung oder Bitte? Handelt es sich um einen Wunsch oder ein Versprechen? Ich höre unterschiedliche Töne in den Worten Jesu schwingen. Er bittet und fordert auf, er wünscht und er verspricht: Bleiben. Wen redet er an? Die ihn hören, redet er an. In welchen seine Worte bleiben sollen, die spricht er an. Die Damaligen gehören dazu: die Weggefährten zuerst, dann die jungen christlichen Gemeinden, die dem Evangelisten Johannes und seinen Schülern gegen Ende des ersten Jahrhunderts vor Augen stehen. Viele der frühen Christen erfuhren Anfeindungen und Ausgrenzungen. Mut und Durchhaltevermögen waren nötig, um als christliche Gemeinde zu bestehen. „Bleibt“, hörten die Damaligen. Und viele blieben.
Heute gehören wir zu den Angesprochenen. Bleiben wir viele? In Deutschland schrumpft die Zahl der Mitglieder in der evangelischen und katholischen Kirche. Pessimistische Beobachter der Entwicklungen sehen hierzulande die Spätzeit des Christentums angebrochen. Sie prognostizieren das Übrigbleiben einer Minderheit, wenn ab 2030 die letzte kirchlich sozialisierte und aktive Generation ausstirbt und auf gesellschaftlichen Druck die Kirchensteuer wegfallen wird. Was antworten wir darauf in einer Zeit, die – noch? – mit einer respektablen Statistik zum kirchlichen Leben aufwartet? In anderen Ländern werden gegenwärtig massiv Christen verfolgt. Brüder und Schwestern in Christus werden misshandelt, ermordet, zur Flucht getrieben. Beten wir, dass sie in ihm bleiben und er in ihnen.
Das Prinzip WeinstockDie Organe eines Lebewesens pflegen Beziehungen untereinander. Sie senden und empfangen Botschaften, sie tauschen sich aus. Organe führen verschiedene Aufgaben aus und haben ihren eigenen Platz. Im menschlichen Körper haben Gehirn und Herz hervorgehobene Bedeutung nicht, weil sie „besser“ als andere Organe wären, sondern weil sie den gesamten Organismus maßgeblich steuern und beseelen.
Der Weinstock gibt den Reben Kraft. Aus der Verbindung mit ihm bringen die Reben Früchte hervor. „Denn ohne mich könnt ihr nichts tun“, sagt Jesus. Was vordergründig wie ein Ausschlusskriterium klingt, halte ich mehr für die Bestätigung der Kraft im lebendigen Organismus. Im Prinzip Weinstock sehe ich ein Bild der Kraft Gottes. Christus verbindet uns in seinem Geist.
Frucht bringenWas bleibt? Wir stellen uns diese Frage als Menschen, die in ihrer Gegenwart bewusst leben wollen. Wir stellen sie aus Sorge um die Zukunft angesichts weltweiter Entwicklungen. Und wir fragen „was bleibt?“, weil wir letztlich darauf antworten müssen – sei es nur jede und jeder für sich selbst. Die Antworten fallen verschieden aus, bei dem einen anders als bei der anderen. Wie ich antworte, wird zeigen, was mir wichtig ist und wofür ich mich einsetze.
Carl Friedrich von Weizsäcker hat auf dem Düsseldorfer Kirchentag 1985 den konziliaren Prozess von Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung einer breiten Öffentlichkeit ins Bewusstsein gerufen. Als junger Student hat mich das tief berührt. Was sich aus dieser Bewegung ergibt, wurzelt für mich im Prinzip Weinstock. Im Geist Christi für das Recht benachteiligter und unterdrückter Menschen einzutreten, gleicht der Frucht einer Rebe. Mit den Getriebenen und Friedlosen zu fühlen, ihnen Orte der Ruhe und Sicherheit zu verschaffen, gleicht der Frucht einer Rebe. Kluge Konzepte für die Umwelt zu erdenken und gefährliche Hinterlassenschaften abzubauen, gleicht nicht nur am Jahrestag der atomaren Katastrophe in Osteuropa der Frucht einer Rebe.
Der Filmemacher sieht den Sinn seines Lebens darin, mit den Pfunden, die ihm anvertraut wurden zu wuchern, statt sie zu verscharren. Der Bergsteiger sammelt Artefakte und Wissen, um seine Erfahrungen mit Menschen zu teilen und Verständnis für andere Kulturen zu wecken. Die Theologin stellt sich der Verantwortung für die Gegenwart und denkt an die Zukunft kommender Generationen. Sie teilt meine Überzeugung: Liebe bleibt. Fügen wir weitere Früchte hinzu? Gott mag solche Früchte genießen. Uns und anderen mögen sie wohlschmecken. Wer bleibt, der bringt viel Frucht. Amen.
Literatur: Das Prinzip Apfelbaum. 11 Persönlichkeiten zur Frage „Was bleibt?“, Vergangenheitsverlag, Berlin 2014.
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