Miserikordias Domini (19. April 2015)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Dorothea Schlatter, Ludwigsburg [Dorothea.Schlatter@elkw.de]

Johannes 10, 11-16

Das Bild vom guten HirtenWann haben Sie das letzte Mal einen Hirten oder eine Hirtin bei der Arbeit beobachtet? Die Gelegenheit dazu ist seltener geworden als zu meiner Kinderzeit. In schwer zugänglicher Landschaft dienen Hirt und Herde der Landschaftspflege. Doch vielerorts ist die Landschaft zugebaut und von Straßen zerfurcht.
Auch wenn die Möglichkeit, einen realen Hirten zu erleben, seltener geworden ist, so haben doch viele ein inneres Bild davon. Das Bild vom guten Hirten weckt unterschiedliche Gefühle. Die einen spricht es an und steht für Schutz und Geborgenheit, für andere ist die Vorstellung vom guten Hirten sehr fern und fremd. Sie passt weder in unsere Zeit mit Massentierhaltung noch zur Idee des Menschen, der selbst entscheidet, was er braucht und wohin er will.
Bei Kindern ist es ganz klar, sie brauchen jemand, der sich um sie kümmert, eine Person, die sie versorgt und gut führt. Als Erwachsene haben wir gelernt, dass Eigenständigkeit und Unabhängigkeit wichtig sind. Dagegen ist nichts zu sagen, und doch bleibt da eine tiefe Sehnsucht nach einem Gegenüber, das mich begleitet, dem ich mich rückhaltlos anvertrauen kann, der mich beschützt und die solidarisch ist. In jeder Beziehung wird dieses Gegenüber gesucht, manchmal auch gefunden, und manchmal endet eine Beziehung auch in großer Enttäuschung, durch die deutlich wird, die andere Person konnte die Sehnsucht nicht stillen.
Auch für die Beziehung zu Gott gilt, dass diese Sehnsucht mitschwingt und die Hoffnung, dass ich hier nicht ausgenutzt werde, das Vertrauen nicht missbraucht wird, die Macht nicht ausgespielt wird, sondern Vertrauen und Liebe sich lohnen, und dass Gott mich nicht vernichten will, sondern Leben fördert. Ist das Bild vom guten Hirten, das schon im ersten Testament für Gott selbst steht und Jesus auf sich bezieht, harmlos und naiv? Dem widerspricht der Predigttext und sein Umfeld.

Die AdressatenJesus hält seine Rede vom Hirten und vom Mietling nicht vor seinen Anhängern, sondern vor solchen, die ihm äußerst skeptisch gegenüberstehen. Es sind Menschen, die ihn für einen Gotteslästerer halten, für einen, der sich anmaßt, Gott selbst zu sein. Ihnen will er klar machen, dass er der Sohn Gottes ist, im Auftrag Gottes redet und handelt, auch auf die Gefahr hin, noch mehr Anstoß zu erregen. Von Pharisäern ist die Rede, die kurz zuvor von einer Heilung am Sabbat erfahren haben und diesen Umstand heftig beklagen. Ihr Ärger ist so groß, dass sie den Geheilten, als er ihnen nicht wunschgemäß antwortet, ausschließen.
Jesus sucht daraufhin nicht das verbindliche Gespräch, sondern fordert sie erneut heraus, indem er den Unterschied vom guten Hirten und vom Mietling beschreibt. Damit heizt er den Konflikt noch weiter an, und er begründet das mit dem Hinweis: Ich bin zum Gericht in diese Welt gekommen. An ihm scheiden sich die Geister, und er fordert zur Entscheidung heraus. Die Frage ist: wem vertraue ich mich und mein Leben an?

Der Mietling und der HirteDer Mietling kümmert sich um die Schafe, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Die Schafe gehören ihm nicht. Er ist dem Besitzer der Schafe gegenüber Rechenschaft schuldig, wenn ein Tier fehlt. Kann er nachweisen, dass ein Wolf das fehlende Tier gerissen hat, muss er keinen Schaden ersetzen. Jesus beschreibt ihn hier als verantwortungslosen Arbeitnehmer, der die Schafe nicht nach Kräften schützt, sondern sich bei Gefahr aus dem Staub macht.
In hellem Kontrast dazu steht dann das Bild des guten Hirten, der sich nicht nur hingebungsvoll um das Wohl seiner Tiere kümmert, jedes einzelne kennt, sondern darüber hinaus sein eigenes Leben für die Schafe einsetzt. Diese völlig andere Haltung begründet Jesus mit der Einheit zwischen Gott und ihm. In der Beschreibung des Hirten ist einerseits Gott beschrieben als der, der Leben schafft, bewahrt und jedem Wesen seine Würde erhält. Andererseits wird deutlich, dass es nicht um Hirtenidylle geht, sondern um eine Entscheidung auf Leben und Tod. Jesu Tod am Kreuz scheint durch. Seine Hingabe des Lebens, damit andere leben, erweist ihn als den guten Hirten, der nicht auf seinen Vorteil aus ist, sondern seinen Auftrag bis zur letzten Konsequenz durchführt.

Brauchen wir einen guten Hirten?Wenn ich mir die Welt um mich herum ansehe, so nehme ich viel Unsicherheit, Angst und Misstrauen wahr. Ich höre von einer steigenden Zahl von Einbrüchen, von älteren Menschen, die um ihre Ersparnisse betrogen werden, von Flüchtlingen, die in den Ländern ihrer Sehnsucht und Hoffnung nicht sicher sind, sondern bedroht werden.
Ich rede mit Menschen, denen all das Angst macht. Und ich sehe, das ist nicht nur im kleinen Umfeld so, sondern auch in den größeren Zusammenhängen. Völker trauen einander nicht über den Weg. Da gibt es immer neue Verträge, die dann doch nicht eingehalten werden, es werden Mauern gebaut, Waffen ohne Ende ge- und verkauft, Geld und Misstrauen scheinen überhand zu nehmen. Besonnene Stimmen scheinen rar zu sein und echtes Vertrauen ein Glücksfall.
Und in der globalen Arbeitswelt wird ebenfalls deutlich: Wo Macht und Profit im Vordergrund stehen, da wird der Mensch zum Objekt, austauschbar und ausnutzbar. Hat er Schaden genommen, wird er ausgetauscht. Die Textilbranche ist da nur ein Beispiel.
Für mich ist das nicht eine negative Weltsicht, sondern die Realität des bedrohten Lebens. Sie macht es für mich völlig einleuchtend, dass viele Menschen eine große Sehnsucht haben nach einem, der sich einsetzt. Einem, der sie wahrnimmt. Einem, der seine Versprechen hält. Einem, der das kleine Bedrohte, Verletzte, Ängstliche sieht und schützt. Einen, der Mut macht zum Leben.
In Jesus Christus kann ich diesen Einen finden, der sagt: Ich bin gekommen, dass sie das Leben und volle Genüge haben sollen. Von ihm heißt es: Er kennt uns mit unseren Licht- und Schattenseiten. Er hält zu uns und traut uns zu, dass wir ihm folgen, ihm nachfolgen können, bei ihm bleiben, uns an ihm orientieren und uns mit ihm auf den Weg machen.
Doch wir sind keine Schafe, die ungefragt einer Herde zugeteilt werden. Die eigene Entscheidung ist gefragt, nicht nur einmal grundsätzlich, sondern immer wieder, täglich neu, in jeder Situation neu. Mit der Nachfolge schaffen wir keine Nöte, Grenzen, Abhängigkeiten aus der Welt, und auch unsere eigenen Schwächen verschwinden dabei nicht. Aber es tun sich Lebensräume auf, in denen Gottes Zutrauen das Sagen hat. Räume, in denen Vertrauen wachsen kann, Vertrautheit entstehen kann, Geborgenheit erlebbar werden kann.
Damit genährt und versorgt können Nachfolger und Nachfolgerinnen absehen von der Sorge um sich selbst und sich um das Wohl in ihrem Umfeld kümmern. Sei es in der Sorge und Befriedigung der Bedürfnisse von nahen Menschen, sei es in der Verantwortung für den Zustand der Natur, sei es im Einsatz für menschenwürdige Arbeit. Wo Vertrauen, Ehrfurcht vor dem Leben, sorgende Anteilnahme das Sagen haben und der Angst, der Hoffnungslosigkeit, der Ohnmacht und Gleichgültigkeit widersprochen wird, atmet Lebendiges auf und kann sich entfalten. Unsere Welt braucht solche lebensförderlichen Räume und wir können sie im Auftrag Jesu schaffen.

Nachfolge führt in die WeiteJesu Hirtenamt gibt es nicht exklusiv. „Ich habe noch andere Schafe, die sind nicht aus diesem Stall und auch diese muss ich herführen und sie werden meine Stimme hören und es wird eine Herde und ein Hirte werden.“ Zunächst bedeutet das für die ersten Zuhörer und Zuhörerinnen: Außerhalb Israels gibt es Menschen, die seine Stimme hören werden und zu ihm gehören. So sind ja auch wir dazugekommen.
Doch Jesu Weite reicht noch viel weiter - die Herde, die Christus vor Augen hat, ist größer als die Christenheit und globaler. Wer hat da das Recht, Grenzen zu setzen und Zäune aufzurichten? Es gibt Menschen, die hören Gott und andere hören ihn nicht. Manche sind auf dem Weg, unentschlossen, auf der Suche. Es gibt Menschen, die befinden sich in einem anderen Stall - haben wohl auch andere Hirten, und doch hat sie Jesus im Blick, ruft sie, braucht sie für sein großes Ziel der Einheit aller. Wie er dieses Ziel erreicht - das entzieht sich meinem Blick und auch meinem Urteil.
Weiten lassen möchte ich mir das Herz, dass ich nicht Menschen ausschließe, mit denen Christus doch längst seine Geschichte hat. Schärfen lassen möchte ich mir mein Ohr, dass ich nicht seine Ruf überhöre und die Weisung für meinen Weg verstehe. Führen lassen möchte ich meine Sinne, dass sie brauchbar werden, Lebendiges zu schützen. Ausrichten lassen möchte ich meine Füße, dass sie den Weg einschlagen, der ihm folgt und sichere Schritte tun können. Still werden möchte ich, dass Vertrauen in mir wachsen und wohnen kann.
Amen.

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