Okuli / 3. Sonntag der Passionszeit (08. März 2015)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Dr. Dörte Bester, Aichtal [Doerte.Bester@elkw.de]

Lukas 9, 57-62

Mit offenen Augen„Oculi“ heißt dieser Sonntag – „Augen“. Ein Psalmwort hat ihm seinen Namen gegeben: „Meine Augen sehen stets auf den Herrn“ (Psalm 25,15). Der dritte Sonntag der Passionszeit ist es. Wir gehen dem Weg Jesu nach, gehen ihn mit in Worten, Geschichten und Liedern. Lukas erzählt von drei kurzen Begegnungen Jesu mit Menschen am Weg. Begegnungen auf seinem Weg nach Jerusalem.

Mit offenen Augen für die WeltDer erste der drei, von denen Lukas erzählt, kommt von sich aus auf Jesus zu: „Ich will dir folgen, wohin du gehst“ (Lk 9,57). Worte voller Vertrauen. Vielleicht auch voller Begeisterung und Sehnsucht. Worte, die nach Aufbruch klingen. Da ist jemand entschlossen und von den besten Absichten erfüllt, die Augen sind auf Jesus gerichtet. „Ich will dir folgen.“ Ich bin von Dir, Jesus und Deiner Sache überzeugt. Gerechtigkeit und Frieden und die Liebe Gottes! – Ja, ich mach mich mit Dir auf den Weg, dem Reich Gottes entgegen.“
Die Antwort Jesu – ernüchternd: „Die Füchse haben Höhlen, und die Vögel des Himmels haben Nester, der Menschensohn aber hat keinen Ort, wo er sein Haupt hinlegen kann“ (Lk 9,58).
Keine Heimat. Keine Nestwärme. Kein sicherer Ort zum Bleiben, geschweige denn zum Schlafen.
Du sollst wissen, worauf du dich einlässt, wenn Du Dich mit ihm auf den Weg machst. Und das gilt auch für uns, die wir in sicheren Häusern wohnen. Der Weg in der Nachfolge Jesu, er führt nicht dorthin, wo „trautes Heim Glück allein“ verspricht.
Wenn du ihm folgst, auf dem Weg der Gerechtigkeit, auf seinem Weg des Friedens, da werden sich die Maßstäbe verändern. Da ist nochmal anders zu fragen, nach dem, was wichtig ist und was zählt in deinem Leben. Da wirst du die Augen nicht mehr zumachen können, vor der Not der Welt.
Die Augen, die sich auf Jesus richten, sehen sein Gesicht im Nächsten – und das verändert den Blick. Sehen Menschen, die ihre Heimat verlieren in den Kriegen unserer Welt. Sehen Menschen hier bei uns, die den Halt verloren haben, krank geworden sind in einer scheinbar heilen Welt. Sehen Kinder und Jugendliche, denen das Nötigste zum Leben fehlt. Essen. Trinken. Nestwärme.
Kein sicherer Ort zum Bleiben, geschweige denn zum Schlafen? Jesu Antwort: keine Romantik der Armut, sondern bittere Realität. Damals und heute.
Jesus setzt unsere Füße auf den Weg der Gerechtigkeit und lenkt unsere Augen auf die Wirklichkeit der Welt.
„Unsere Augen sehn stets auf den Herrn.“
Oculi nostri ad Dominum Deum (EG 787.6)

Mit offenen Augen für Gottes ZukunftMit dem Willen, ihm zu folgen, wendet sich noch ein anderer an Jesus: „Herr, ich will dir nachfolgen, aber erlaube mir zuvor, dass ich Abschied nehme von denen, die in meinem Haus sind“ (Lk 9,61).
…das ist doch wohl das Mindeste, dass einer „Auf Wiedersehen“ – oder doch zumindest „Ade“ – „Adieu“ – „Gott befohlen“ sagt, bevor er geht. Wie schmerzlich ist es, wenn Menschen einfach gehen ohne Abschied, den Kontakt abbrechen ohne Worte.
Sich Verabschieden und damit auch den anderen die Chance zum Abschiednehmen zu geben, das hat etwas mit Achtung voreinander zu tun.
Und doch gab es damals und gibt es heute noch die, die im Abschied stecken bleiben: „Ich will… dies oder das tun oder lassen, aber…“.
Ja – aber. Mancher Aufbruch, manche Veränderung, mancher neue Weg bleibt stecken in diesem „Ja – aber“. Mancher Abschied wird zu einer endlosen Schleife. Immer neue Gründe findet da einer, warum sich jetzt gerade nichts ändern lässt, immer Neues findet sich, was noch erledigt werden muss, was die Gedanken gefangen nimmt, den Blick fesselt, den Aufbruch verhindert. „Ich will ja – aber.“
Für alle, die sich in die Nachfolge Jesu stellen, macht Jesus die Perspektive klar: Die Augen, die sich auf ihn richten, die öffnet er für das Reich Gottes. Wer sich in die Nachfolge Jesu stellt, der kann in dieser Welt niemals ganz „daheim“ sein, der kann sich nicht einrichten in seinem Leben hier auf der Erde, als sei es für die Ewigkeit gegeben. Und: Menschen, die sich in die Nachfolge Jesu stellen, sie riskieren mancherorts bis heute auch, in Widerspruch zu geraten – zu den Nächsten, zu Freunden und Verwandten, zu Nachbarn, zum Staat.
„Wer seine Hand an den Pflug legt und sieht zurück, der ist nicht geschickt für das Reich Gottes“ (Lk 9,62).
Nicht in endlosen Abschiedsschleifen stecken bleiben, sondern: „Abschiedlich leben“. Bereit zum Abschied sein, bereit, die Hand an den Pflug zu legen, und immer wieder neu aufzubrechen aus all dem, was die Gedanken gefangen nimmt, den Blick fesselt und dem Willen Gottes widerspricht. Immer wieder neu anfangen zu beten und zu arbeiten dafür, dass Gottes Wille geschehe – „im Himmel wie auch auf Erden“.
"Unsere Augen sehen stets auf den Herrn."
Oculi nostri ad Dominum Deum (EG 787.6)

Mit offenen Augen für das LebenDrei Menschen begegnen Jesus. Zwei sprechen ihn von sich aus an, wollen ihm folgen. Der dritte ist ein Mensch in Trauer. Sein Vater ist gestorben. Er spricht Jesus nicht selbst an, sondern Jesus ruft ihn. Wie könnte es auch anders sein. Wer in Trauer ist, der ist der Welt ein Stück entzogen. Der sieht die Welt durch den Schleier der Tränen, der sich über die Augen und das Herz legt. Die Wirklichkeit des Todes zu begreifen bindet alle Kraft.
Jesus spricht den Trauernden an – aber wie?! „Lass die Toten ihre Toten begraben, du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes.“ Was soll das? Da ist gerade der nächste Mensch, der Vater, die Mutter, der Bruder, die Schwester, das Kind gestorben. Da ist doch anderes dran! „Erlaube mir, nach Hause zu gehen und meinen Vater zu begraben.“
Eigentlich braucht‘s da keine Erlaubnis. Selbstverständliche Pflicht der Nächstenliebe ist es.
„Lass die Toten ihre Toten begraben, du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes!“
Es gibt Sätze, die darf man nicht aus ihrem Zusammenhang reißen, sonst werden sie falsch. Es gibt Sätze, bei denen es wichtig ist, wer sie wann und wo und zu wem gesagt hat. Dieser Satz, den der Evangelist Lukas hier aufgeschrieben hat, – „lass die Toten ihre Toten begraben“ – das ist so ein Satz.
Jesus spricht ihn aus. Er ist auf dem Weg nach Jerusalem.
„Lass die Toten ihre Toten begraben“ – und komm mit und schau, was passiert in Jerusalem. Da stirbt Jesus am Kreuz. „Gekreuzigt, gestorben und begraben. Hinabgestiegen in das Reich des Todes – und am dritten Tage auferstanden von den Toten.“
Da in Jerusalem, da lässt sich Gott selbst ein auf die Auseinandersetzung mit dem Tod. Da steigt Jesus hinab in die Tiefe des Todes.
Keine Trauer, kein Leid, kein Tod, kein Sterbender, kein Toter, ist in diesen Tiefen mehr verloren, denn Gott selbst ist in die tiefsten Tiefen des Todes hinabgestiegen – und hat sie überwunden.
„Hinabgestiegen in das Reich des Todes – und am dritten Tage auferstanden von den Toten.“ In Jerusalem wird das geschehen, am Ostermorgen.
Und was da geschehen wird, was das geschehen ist, das muss der, der da um seinen Vater trauert, sehen. Dafür öffnet Jesus allen die Augen, die durch einen Schleier von Tränen in die Welt schauen.
Und wenn einer, wie dieser um seinen Vater trauernde Sohn, und wenn du das gesehen hast, wenn du mit Jesus diesen Weg nach Jerusalem gegangen bist, den Blick aufs Kreuz ausgehalten hast und dann im Licht des Ostermorgens standest – dann wirst du etwas ahnen von der Gewissheit, dass „weder Tod noch Leben, weder Engel, noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes […] uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“ (Röm 8,38f).
Da hast du die Kraft, jemand beizustehen, wenn der Tod kommt und musst nicht weglaufen vor der Trauer. Deiner eigenen nicht – und auch nicht der Trauer der anderen. Du wirst erzählen von dem, was tragen kann im Leben und Sterben. Von dem, was allein tragen kann, wenn Tod und Trauer sich breit machen. Wenn Tränen fließen angesichts des Todes von Kindern, von Müttern und Vätern, Verwandten und Freunden.
„Lass die Toten ihre Toten begraben. Du aber geh hin und verkündige das Reich Gottes.“ Dieser Satz ist nicht unbarmherzig gegen die Trauernden, sondern gegen den Machtanspruch des Todes (1). Nicht der Tod hat das letzte Wort, sondern der lebendige Gott!
Dafür öffnet Jesus uns die Augen. Auf ihn richten sich unsere Augen:
Oculi nostri ad Dominum Deum. Amen.



Wichtige Anregungen für diese Predigt sind entnommen aus:
Müller, Klaus, Okuli: Lk 9,57–62 in: Predigtmeditationen im christlich–jüdischen Kontext. Zur Perikopenreihe I mit einem Geleitwort von Professor Dr. Chana Safrai, 2002, 129–133.

1 Zur Formulierung vgl. Müller, S. 130;131.


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