Palmarum / Palmsonntag (29. März 2015)

Autorin / Autor:
Pfarrer Reinhard Mayr, Stuttgart-Untertürkheim [reinhard.mayr@elkw.de]

Johannes 12, 12-19

Liebe Gemeinde, dass wir vorher ein jubelndes Adventslied (Tochter Zion, EG 13) mitten in der Passionszeit gesungen haben, war kein Versehen. Am Palmsonntag bedenken wir ja in der heute beginnenden Karwoche den Weg Jesu ans Kreuz, der unmittelbar mit dem festlichen Einzug nach Jerusalem beginnt.
Anders als die anderen Evangelisten, die uns diese Palmsonntagsgeschichte auch erzählen, legt Johannes in seinem Bericht einen besonderen Akzent: Ihn interessieren die Menschen, die da am Straßenrand stehen, die mitziehen oder die etwas abseits stehend sich so ihre eigenen Gedanken machen. Und damit fragt Johannes natürlich die Lese-rinnen und Leser seines Evangeliums: Wo steht ihr? Ja, liebe Mitchristen: Wo stehen wir? Sehen wir uns doch einmal mit den Augen des Evangelisten die Szenerie an: die Jubelnden, die mitziehenden Jünger, die grummelnden Pharisäer. Bei welcher Gruppe fühlen wir uns im Augenblick am besten aufgehoben?

Jesus kommt – und löst befreiten Jubel ausDa sind also die jubelnden Menschen: „Eine große Menschenmenge, die zum Passahfest gekommen war, nahm Palmzweige, ging ihm entgegen und rief: Hosianna. Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herrn, der König von Israel.“ Jesus kommt und stößt auf begeisterte Sympathie. Zumindest ein Teil des Volkes ist mit Jubelrufen Jesus entgegengezogen und hat ihn als engsten Vertrauten Gottes und als Heilskönig gefeiert. Das war übrigens auch die Botschaft am ersten Advent: Mit Jesus kommt einer, in dessen Gegenwart Menschen jubeln können. Warum? Johannes betont ausdrücklich, dass die Jubeln-den auf eine bestimmte Erfahrung mit Jesus zurückblicken. Unmittelbar vor dem Einzug Jesu in Jerusalem schildert der Evangelist die Auferweckung des Lazarus. Eine Erfahrung, die mit zu den tiefsten und ergreifendsten gehört, die Menschen in ihrem Glauben mit Gott machen können: Sie haben erlebt, dass in der Gegenwart Jesu Totes lebendig werden kann. Wer einmal erfahren hat, wie faszinierend es ist, wenn Erstarrtes, Totes oder Verhärtetes zu neuem Leben aufbricht, kann den Jubel und die Begeisterung verstehen. Sie haben erlebt: Wo Jesus ist, da ist dem Tod das entscheidende, letzte Wort entzogen. Und das nicht nur im Falle Lazarus. In Jesu Gegenwart konnten sich Feinde versöhnen, da fanden Stumme ihre Sprache wieder, da konnten sich Verbitterte wieder freuen, da blieben Traurige nicht ohne Bei-stand, und vom Leben enttäuschte Menschen konnten wieder neuen Sinn finden. In Gottes Gegenwart ist die oft so übermächtig wirkende Macht des Todes gebrochen. Hoffnung kann aufkeimen, wo vorher nur Lähmung und Trauer zu spüren war. Diese Erfahrung können Menschen bis auf den heutigen Tag machen, bisweilen in Lebenssituationen, die auf den ersten Blick überhaupt nicht zum Jubeln einladen: am Kranken- oder Sterbebett etwa, oder da, wo Menschen sich zum Protest gegen Krieg und staatlich verordnetes Morden zusammen finden. Hier wird sich wohl kein Jubel einstellen, aber die Erfahrung, getröstet zu werden, neuen Mut zu bekommen, eine neue Perspektive für das eigene Leben wieder zu entdecken. Bei den Jubelnden wird nicht immer unser Platz sein können – aber in den Momenten unseres Lebens, wo wir sehr klar Gottes Zuwendung und Nähe spüren, darf unser Platz dort sein.

Jesus kommt – und wird nicht verstandenDer Evangelist Johannes schenkt nun einer zweiten Menschengruppe für einen kurzen Augenblick seine Aufmerksamkeit: den Jüngern. Sollte Ihnen, liebe Mitchristen, heute bei den jubelnden Menschen doch nicht so recht wohl sein, vielleicht finden Sie sich bei den Jüngern gut aufgehoben. Wir müssen uns freilich von Johannes berichten lassen, dass sie Jesus nicht verstanden haben. Was haben sie nicht verstanden? Nun, dass Jesus so schweigsam bleibt und ausgerechnet in der Stunde des Triumphes auf einem Esel daher kommt. Und tatsächlich: in einer Situation, wo Prachtross oder Sänfte angemessen erscheinen, sitzt Jesus stumm auf einem schon augenfällig lächerlich wirkenden Eselsfüllen. Warum ruft er nicht jetzt – die Begeisterung nutzend – das Reich Gottes aus? Warum nicht jetzt Leid, Armut und Tod end-gültig abschaffen? Warum hier, getragen von der Begeisterung der Leute, diese Geste der Machtlosigkeit und des Gewaltverzichts? Das verstanden seine Jünger nicht, und wir verstehen das auch nicht. Jesus nicht zu verstehen, ja, mit Enttäuschung ihm gegenüber zu reagieren, das gehört eben auch zu den Erfahrungen, die wir im Glauben mit Gott machen. Und Johannes will uns genau darauf ansprechen: wir können nicht nur Gottes lebenserneuernde Macht erfahren – sondern auch seine Ohnmacht, sein Schweigen, sein Nichteingreifen und den von Gott geduldeten scheinbaren Triumph des Todes. In den Tagen, in denen wir ohnmächtig den Gewaltexzessen in Kriegs- und Bürgerkriegsländern zusehen müssen oder angesichts übermäßigen Leidens eines kranken Menschen erleben wir das als besonders bedrückend.
Wir müssen damit fertig werden, dass Gott uns weder Not noch Leid erspart, noch dass er uns die Verantwortung für Unrecht und Unmenschlichkeit auf Erden einfach abnimmt. Es mag uns hart ankommen, dass Gott uns aus den Niederungen der Welt nicht gleich in den Himmel entrückt – aber er selbst ist diesen Weg eben auch nicht gegangen. Am Palmsonntag tritt Jesus sehr bewusst den Weg an, der am Kreuz endet. Sein Weg war und ist der anstrengende Weg zu den Armen und Leidtragenden – nicht nur zu den Freuden, sondern auch zu den Konflikten des Lebens. Und weil sich der Meister den Ritt auf dem Eselchen nicht erspart, ist es auch den Nachfolgerinnen und Jüngern verwehrt, den Weg durch das Leben per Sänfte oder Prachtross zu nehmen. „Das verstanden seine Jüngerinnen und Jünger zuerst nicht“ – für mich ist es ein großer Trost, liebe Mitchristen, dass dieses Unverständnis immerhin zu unserem Glauben dazu gehören darf.

Jesus kommt – und wird angefeindetDie Enttäuschung über einen Gott, der sich ganz anders verhält, als man es gerne hätte, kann bei Menschen, auch und gerade aber bei frommen Menschen, bei Menschen, die gerne zu Gott gehören wollen, in Ablehnung und Feindschaft umschlagen. Wie bei den Pharisäern, in denen uns Johannes eine dritte Menschengruppe vor Augen führt. Dass Gott hier, in dem Eselsreiter, sein wahres Gesicht zeigen soll, geht ihnen nicht in den Kopf. Gott in einem, der mit Frommen und Sündern gleichermaßen isst und trinkt – unmöglich. Gott in einem, der sich auch den Fremden, den Nichtjuden zuwendet – ausgeschlossen. Gottes Schöpfermacht, die sich in der Verwandlung von Wasser zu Wein zeigt, wo doch Wasser das liebste Getränk der religiösen Asketen ist – ein Skandal. Und dann soll Gottes Gegenwart auch noch in einem sein, der Frauen und Kindern gleichberechtigten Zugang zum Gottesreich zuspricht – das war zu viel für sie. Nach dem Evangelium des Johannes fassen sie ihren Entschluss, Jesus zu töten, genau zu dem Zeitpunkt, als Jesus den toten Lazarus auferweckt hatte. Ironischer-weise entlarven sich die Frommen, eigentlich Anhänger des lebendigen Gottes, als die wahren Verehrer des Todes, die sich offensichtlich mit der scheinbaren Allmacht des Todes auf Erden ganz gut abgefunden haben. Sie reagieren genau da mit der größten Feindschaft, wo mit Jesus wahres Leben, wo Versöhnung und Großzügigkeit einziehen und wo die Grenzen der Todesmacht deutlich werden. Ein Rätsel bis in unsere Tage, dass Menschen, die sich nach Gott sehnen und die den Namen Gottes im Munde führen, sich zu Handlangern und Gehilfen des Todes machen lassen.
Ob wir uns zu ihnen stellen? Vielleicht nicht bewusst. Aber es wird mit Sicherheit Momente in unserm Leben gegeben haben und noch geben, wo unser Unverständnis über diesen Gott in so etwas wie eine innere Gegnerschaft umschlägt. Vielleicht zeigt sich das dann darin, dass wir anfangen, Gott in Jesus nicht mehr ausreden zu lassen, dass wir ihm ins Wort fallen und nicht mehr für uns gelten lassen, dass Gott eben genau so, wie er uns in Jesus begegnet, ernst genommen und geehrt sein will. Dass wir damit anfangen, uns Jesus so zu Recht zu biegen, dass er in unsere Vorstellungen passt und ein Gott nach unserem Bilde wird.

Jesus kommt – und vollendet den Weg der VersöhnungWas geschieht mit den Menschen, die den Weg Gottes in der Person Jesu nicht verstehen – wie die Jünger? Oder die ihn offen anfeinden, wie einige Fromme damals? Vergessen wir nicht, dass genau diese Feindschaft des Menschen gegen Gott das Thema der Passionsgeschichte ist. Wegen dieser Feindschaft geht doch Jesus seinen Weg, um am Ende auf Golgatha Gott und Mensch miteinander zu versöhnen. Jesus ist ja nicht gegen die Pharisäer gestorben – sondern für sie,
genauso wie für die von ihm so begeisterte Volksmenge, die nur wenig später seine Hinrichtung fordert oder für seine gutwilligen und zu-gleich so verständnislosen Jünger.
Wohin wir uns also am Palmsonntag auch immer stellen – wir bleiben in der Gegenwart dieses geheimnisvollen, aber unermesslich gnädigen Gottes. Dass dieser Gott zu uns unterwegs bleibt und wir ihn in Ewigkeit nicht loswerden – das ist die frohe Botschaft dieser Palmsonntagsgeschichte. Amen.

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