22. Sonntag nach Trinitatis (01. November 2015)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Kira Busch-Wagner, Karlsruhe [Kira.Busch-Wagner@kbz.ekiba.de]

Matthäus 18, 21-35

Heute ist also der erste November. Gestern haben wir den Reformationstag begangen, konnten uns aufs Neue vor Augen führen, dass wir doch ganz aus der Gnade Gottes leben. Und der Sonntag heute: zugleich das Fest Allerheiligen, auch in vielen evangelischen Gesangbüchern verzeichnet, Gedenken dessen, dass wir alle von der Heiligkeit Gottes zehren, dass wir Gemeinschaft der Heiligen werden aus seiner Zuwendung.

Heute – das ist auch der erste Tag desjenigen Monats, in dem die verschiedenen Gottesdienste bis zum neuen Kirchenjahr am ersten Adventssonntag sich auch mit großer Härte annähern an die Tatsache, dass unsere Zeit begrenzt ist, dass alles zu einem Ende kommt und alles an seinem Ende eben auch so bleibt, wie es ist und dann zur Entscheidung steht. Wir warten auf den Auferstandenen. Dass ER richte die Lebenden und die Toten. Und wir tun das heute mit der Frage, wie denn Gericht und Vergebung zueinander stehen, Liebe und Zorn Gottes zueinander stehen.

Hören wir auf Worte des Evangeliums nach Matthäus, Kapitel 18, 21-35:

„Petrus trat zu Jesus und fragte: Herr, wie oft muss ich denn meinem Bruder, der an mir sündigt, vergeben? Genügt es siebenmal?
Jesus sprach zu ihm: Ich sage dir: nicht siebenmal, sondern siebzigmal siebenmal.
Darum gleicht das Himmelreich einem König, der mit seinen Knechten abrechnen wollte.
Und als er anfing abzurechnen, wurde einer vor ihn gebracht, der war ihm zehntausend Zentner Silber schuldig. Da er’s nun nicht bezahlen konnte, befahl der Herr, ihn und seine Frau und seine Kinder und alles, was er hatte, zu verkaufen und damit zu bezahlen.
Da fiel ihm der Knecht zu Füßen und flehte ihn an und sprach: Hab Geduld mit mir, ich will dir’s alles bezahlen.
Da hatte der Herr Erbarmen mit diesem Knecht und ließ ihn frei, und die Schuld erließ er ihm auch.
Da ging dieser Knecht hinaus und traf einen seiner Mitknechte, der war ihm hundert Silbergroschen schuldig; und er packte und würgte ihn und sprach: Bezahle, was du mir schuldig bist!
Da fiel sein Mitknecht nieder und bat ihn und sprach: Hab Geduld mit mir, ich will dir’s bezahlen.
Er wollte aber nicht, sondern ging hin und warf ihn ins Gefängnis, bis er bezahlt hätte, was er schuldig war.
Als aber seine Mitknechte das sahen, wurden sie sehr betrübt und kamen und brachten bei ihrem Herrn alles vor, was sich begeben hatte.
Da forderte ihn sein Herr vor sich und sprach zu ihm: Du böser Knecht! Deine ganze Schuld habe ich dir erlassen, weil du mich gebeten hast; hättest du dich da nicht auch erbarmen sollen über deinen Mitknecht, wie ich mich über dich erbarmt habe?
Und sein Herr wurde zornig und überantwortete ihn den Peinigern, bis er alles bezahlt hätte, was er ihm schuldig war.
So wird auch mein himmlischer Vater an euch tun, wenn ihr einander nicht von Herzen vergebt, ein jeder seinem Bruder.“

Liebe Gemeinde,
für manche vielleicht eine befremdliche, eine irritierende Geschichte. Erst Vergebung und am Ende doch Übergabe an die Peiniger? Für andere vielleicht gerade darum auch zufriedenstellend. Unterschiedliche Maßstäbe anzulegen, das ginge doch auch nicht.
Lassen sie uns noch einmal unserem Predigtabschnitt entlang gehen.

Zunächst fragt Petrus, wie oft er denn vergeben solle, vergeben müsse. Siebenmal?
Siebenmal ist viel. Wir kennen ein Sprichwort, wo es heißt: „Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht, selbst wenn er dann die Wahrheit spricht.“ Wir kennen die Rede von der „Null-Toleranz“. Siebenmal vergeben, siebenmal dem anderen zugutehalten, siebenmal ist eine ungeheuer große Zahl. Jesus greift die Siebenmal auf und führt sie mit der nächsten Wendung ins Absurde. Siebzigmal siebenmal. Jesus geht es nicht um das eine Mal mehr. Es geht um eine Grundhaltung. Es geht um die Grundhaltung, dass wir alle erst einmal aus der Gnade leben.

Reich der Himmel – Teil 1: Die GnadeSo erzählt Jesus dem Petrus ein Gleichnis. Ein Gleichnis vom Reich der Himmel. Eine Geschichte nicht über Petrus, sondern über Gott. Gott geht es – erzählt Jesus – wie einem König, der mit seinen Knechten, seinen Ministern abrechnet. Sie stehen in seinem Dienst. Sie stehen in seiner Schuld. Es sind ja wohl seine Gelder, mit denen sie umgehen.

Und dann stellt sich bei der Revision heraus: Einer ist dem König zehntausend Zentner Silber schuldig. Eine ungeheure Summe. Ein Bruchteil dessen, was Galiläa und Peräa an Steuergeldern aufbringen. Der Reichtum eines ganzen Landes. Und der Minister, der Knecht, der königliche Beamte steht in der Verantwortung. Als sein Fehlverhalten entdeckt wird, ist sofort seine ganze Umgebung gefährdet. Seine Familie wird mitgerissen. Das Leben aller Angehörigen zerstört. Aber selbst der Erlös aus ihrer Schuldknechtschaft bringt nur einen winzigen Teil des Geldes und hat allenfalls symbolischen Charakter. Das ist das Ende.
Der Beamte fleht um Gnade. Seine Familie! Seine Kinder! Hab Geduld, bittet er. Stunde es mir! Ich will dafür aufkommen. Ich will meine Schuld bezahlen! –

Seine Schuld bezahlen – wie will er das machen? Hat er nicht begriffen, dass es aussichtslos ist? Woher will er soviel Geld nehmen? Immer noch scheint er nicht verstanden zu haben, was er getan hat. Er hat die Summe ganzer Volkswirtschaften in den Sand gesetzt und will begleichen? Das ist, als wolle der ehemalige Vorstandsvorsitzende Martin Winterkorn den Aktieneinbruch von VW und allen Schaden aus der Abgasaffäre aus der privaten Tasche zahlen.

Vielleicht ist es die absurde Situation, die den König erweichen lässt. Er lässt den Betroffenen frei. Und: Er erlässt ihm die Schuld. Der König schreibt die ungeheure Summe ab. Er nimmt seinen Knecht, seinen Statthalter, nicht in Haftung. Er verzichtet auf seine Ansprüche. Er rehabilitiert seinen Knecht. Es ist alles gut. Der Schuldner kann aufatmen, aufleben. Nichts ist ihm an Zukunft verbaut.

Reich der Himmel – Teil zwei: GnadenlosEiner der ersten, die ihm in der geschenkten Zukunft, im neuen Leben begegnen ist ein Untergebener, ein Mitarbeiter. Und ein Schuldner. Jetzt geht es um hundert Silbergroschen, hundert Denare. Im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg – zwei Kapitel weiter im Matthäusevangelium – ist der Tagesverdienst ein Silbergroschen, ein Denar. Um Hundert Tagessätze geht es jetzt, hundert mal Mindestlohn. Ein winziger Bruchteil der Summe, von der vorhin beim König die Rede war. Ein stattlicher Betrag für einen Arbeiter, aber immer noch eine überschaubare Schuld. Und ein Klacks im Vergleich zu dem, was der König erlassen hat.

Auf diese hundert Silbergroschen hat der Statthalter, der königliche Knecht ein Recht. Unrecht aber ist, was er mit seinem Schuldner treibt. Er hält ihn fest, würgt ihn, ignoriert die Bitte, wortgleich mit der seinen, er wirft ihn ins Gefängnis. Er zeigt sich als Gläubiger und Inkassoschläger in einer Person.

Reich der Himmel – Teil drei: Gnade für die zweite ReiheEs bleibt mehr als ein schaler Nachgeschmack. Die Beamtenschaft des Königs ist entsetzt. Sie wenden sich an den König. Sie setzen sich ein: für den Gefangenen, seine Familie, seine Schuld. Sie rufen nach einem Richter. Und der König gibt ihnen Recht.
Nicht zornig wurde er über die Schuld seines Beamten, seines Statthalters. Zornig wird er um des ungerecht Behandelten willen. Zornig wird er zugunsten des Klein-Schuldners. Zornig wird er wegen der Unbarmherzigkeit, die dem widerfährt.

So wird auch mein himmlischer Vater tun, sagt Jesus zu Petrus.
Jesus bestätigt den Zorn Gottes. Nicht Zorn über Schuld. Sondern Zorn zugunsten des Untergebenen, des Kleinschuldners, des Betroffenen in der zweiten Reihe. Zorn, weil der Kleinschuldner leidet unter der Erbarmungslosigkeit, unter der mangelnden Bereitschaft des Königsknechtes, des Großschuldners, sich zu verändern; Neues anzunehmen, dazu zu lernen, sich zu freuen an Gottes Gaben. In religiöser Sprache wäre das: Buße tun.
Wer hat Angst vor Gottes Zorn? Der Kleinschuldner nicht. Und nicht die, die sich ihm verwandt fühlen. Der Kleinschuldner sieht sich durch den Zorn gerettet.

Luther hat um einen gnädigen Gott gerungen. Und er hat einen gnädigen Gott verkündet. Auch das Gleichnis erzählt von der Gnade Gottes. Von Gottes Vergebung großer Schuld. Unserer Schuld.
Und dann geht das Gleichnis Schritt weiter. Weil es jetzt weitergehen muss mit der Gnade. Weil immer noch Menschen leiden. Leiden unter menschlicher Erbarmungslosigkeit, unter Unrecht, Übergriffen, Gewalt und Willkür.
Gottes Zorn und Gottes Gnade sind beides Gesichter seiner Liebe. Gottes Gnade hat die große Schuld erlassen. Der Zorn, der im Gleichnis den ehemaligen Großschuldner trifft, kommt aus der Liebe zu dem, der unter dem leidet, dem doch die Schuld erlassen war.

Das ist es, was ich im Gleichnis finde: Gottes Gnade ist nicht möglich auf Kosten der Kleinen. Auf Kosten derer in der zweiten Reihe. Gottes Gnade will alle erreichen.
Das ist die Antwort auf die Frage des Petrus: Wie oft muss ich vergeben?
Das bist eigentlich nicht du, Petrus, der vergibt. Gib weiter von dem, was dir gegeben, was dir vergeben ist. Gib weiter von der Freundlichkeit Gottes. Von seiner Gnade.
Sie ist dir geschenkt. Siebzigmal siebenmal das ganze Reich der Himmel.
Amen.

Literaturhinweis: Heinz Schröder, Jesus und das Geld. Wirtschaftskommentar zum Neuen Testament. Karlsruhe 1979 (2.Aufl.).

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