3. Sonntag nach Trinitatis (28. Juni 2020)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Ulrike Nuding, Herrenberg [Ulrike.Nuding@elkw.de]

Micha 7, 18-20

IntentionDer Psalm über den barmherzigen und gnädigen Gott im Nachwort des Micha-Buches besingt die Vergebung in eindrücklichen Bildern. Die Predigt will die Entstehung und den Sitz des Lebens des Psalms erkunden. Die kraftvolle Bildersprache fasst die Vergebung des unvergleichlichen Gottes in Worte. Die Predigt will ermutigen, in das Lob des barmherzigen Gottes einzustimmen und eigenen Erfahrungen von Versöhnung nachzuspüren.

Versöhnung lässt aufatmenIn den Arm genommen werden und spüren: „Ich bin geliebt! Was gewesen ist, steht nicht mehr zwischen uns.“ Kennen Sie dieses Gefühl, liebe Gemeinde? Das lösende, erlösende Gefühl der Versöhnung mit einem geliebten Menschen, die Erleichterung, das ganz tief innen Berührtsein?
So mag es dem Verlorenen Sohn gegangen sein. Bevor er den Mund aufmachen und seinem Vater seine Schuld eingestehen konnte, fiel der Vater ihm um den Hals und küsste ihn (Lukas 15, 20.21). Eine solche Umarmung kann Ausdruck von Versöhnung sein oder auch ein erlösendes Wort, ausgesprochen oder geschrieben, ein Wort, das berührt und Verhärtung löst.
Versöhnung lässt aufatmen, Vergebung eröffnet Zukunft. Versöhnung macht einen neuen Anfang möglich.

Lobpreis auf den barmherzigen und gnädigen GottIn unserem Predigttext heute geht es um Versöhnung. Es ist ein Lobpreis auf den barmherzigen und gnädigen Gott. Hören Sie die letzten Verse aus dem Propheten Micha (Mi 7, 18-20):
„Wo ist solch ein Gott, wie du bist, der die Sünde vergibt und erlässt die Schuld denen, die geblieben sind als Rest seines Erbteils; der an seinem Zorn nicht ewig festhält, denn er hat Gefallen an Gnade! Er wird sich unser wieder erbarmen, unsere Schuld unter die Füße treten und alle unsere Sünden in die Tiefen des Meeres werfen. Du wirst Jakob die Treue halten und Abraham Gnade erweisen, wie du unsern Vätern vorzeiten geschworen hast.“
Dieses Nachwort zum Micha-Buch ist wie ein Psalm gestaltet. Es besingt den unvergleichlichen Gott, der wie kein anderer Vergebung schenkt und Gefallen hat an der Gnade. Auffällig ist, dass der Psalm nur von der Barmherzigkeit Gottes spricht. Der zornige und der strafende Gott bleibt außen vor.
Kann der Unheilsprophet Micha den gnädigen Gott verkündigen?
Wie kann das sein? Der Prophet Micha, in dessen Buch sich unser Predigttext findet, war doch ein Unheilsprophet. Er musste dem Volk Israel den Zorn seines Gottes verkündigen. Gelebt hat er im 8. Jahrhundert vor Christus. Im Namen Gottes hat er das frevelhafte Treiben der Eliten in Israel mit scharfen Worten angegriffen. Die Zustände waren verheerend: Die Reichen raubten die einfachen Leute aus, sie rissen deren Äcker an sich, nahmen Häuser, Kleider und Schmuck. Die Richter waren korrupt. Die Händler betrogen mit falschen Gewichten. Die anderen Propheten und Priester verkündeten, was die Mächtigen hören wollten. Micha aber hatte den Auftrag, die furchtbare Strafe des zornigen Gottes zu verkündigen: „Jerusalem wird zum Steinhaufen werden“ (Micha 3,13). Micha selbst hat die Zerstörung Jerusalems nicht erlebt, aber er musste das Ende des Nordreichs Israel mit ansehen, das die Assyrer 722 eroberten. Als Jerusalem 587 tatsächlich zerstört wurde, kam es genau so, wie Micha angekündigt hatte.

Lobpreis im Nachwort zum Micha-BuchDas Buch des Propheten Micha geht im Kern auf die Verkündigung Michas im 8. Jahrhundert zurück. Nach seinen Lebzeiten wurde es von Gleichgesinnten späterer Generationen lebendig gehalten. Es wurde immer wieder aktualisiert, damit die Sozialkritik des Propheten in der jeweiligen Gegenwart wirklich aufhorchen ließ und das Volk zur Umkehr mahnte. Unser Predigttext ist das Nachwort zum Prophetenbuch Micha. Es ist rund zweihundert Jahre nach dem Wirken des Propheten entstanden. Die Israeliten waren aus dem babylonischen Exil nach Jerusalem heimgekehrt und bauten Stadt und Tempel wieder auf. Trotz allen Unheils, das über das Volk Israel gekommen war, waren sie noch einmal davongekommen und durften wieder neu anfangen. Diese Erfahrung war für sie untrennbar mit dem barmherzigen Gott verbunden. Nur seine Vergebung machte den Neuanfang möglich. In dem Lobpreis des barmherzigen Gottes verarbeiteten sie diese Erfahrung, dass die Zerstörung Jerusalems nicht das Ende war. Zumindest nicht für die, die aus dem Exil nach Jerusalem zurückkehren konnten. Bei den Rückkehrern aus dem Exil blieb daneben auch das Scheitern ihrer Vorfahren lebendig. Sie hatten nicht auf den Unheilspropheten Micha gehört. Sie hatten ihr Verhalten nicht geändert und waren nicht umgekehrt. Deshalb war das Unheil über sie hereingebrochen, so wie es Micha prophezeit hatte.
Sie hielten diese Erinnerungen in Klagefeiern lebendig, in denen dem Untergang Jerusalems und der Zerstörung des Tempels gedacht wurde. Es ist gut vorstellbar, dass in solchen Klagefeiern die Sozialkritik des Propheten Micha als Mahnung zu Gehör gebracht wurde. Möglicherweise wurde auch der Lobpreis vom barmherzigen Gott in diesen Feiern gesungen. Bemerkenswert ist, dass Gott in dem Psalm ausschließlich als der gnädige und barmherzige Gott gepriesen wird, obwohl das Volk ihn doch auch als strafenden Gott erlebt hatte. Im Lobpreis der Barmherzigkeit wird die erlebte Gnade entfaltet, die auch für die Zukunft erhofft wird.

Versöhnung wird in starken Bildern besungenDie Barmherzigkeit Gottes und seine Vergebung wird in dem Psalm in starken und eindrücklichen Bildern besungen. Der unvergleichliche Gott trägt die Verfehlungen weg. Er geht an der Schuld vorüber. Vergebung ist harte Arbeit. Es braucht Kraft, sich die Sünden auf die Schultern zu laden und die Verfehlungen wegzutragen. Was Gott für sein Volk immer wieder getan hat, das wird er auch in Zukunft tun für die jetzt Lebenden und für die kommende Generationen: Er wird sich immer wieder als barmherzig erweisen. Sein Zorn ist nicht sein letztes Wort. Er wird die Vergehen zertreten und die Verfehlungen in die Tiefe des Meeres versenken. Zertreten wie Ungeziefer ist die Schuld ganz und gar vernichtet. In die Tiefe des Meeres versenkt, tauchen die Sünden nie wieder auf.

Zorn und Barmherzigkeit GottesDer unvergleichliche Gott hasst die Sünde. Sie erregt seinen Zorn. Er schafft sie weg, er zertritt sie, er wirft sie ins äußerste Meer. Der unvergleichliche Gott hasst die Sünde. Aber er liebt die Sünderinnen und Sünder. Deshalb währt sein Zorn nicht ewig. Er hat Gefallen an der Barmherzigkeit und der Güte. Er liebt die Sünderinnen und Sünder, nimmt die Verfehlungen von ihnen und schließt sie in die Arme.
Das, liebe Gemeinde, gilt auch für uns. Unser Gott liebt uns, auch wenn wir Schuld auf uns geladen haben und uns diese Schuld von Gott trennt. Unsere Verfehlungen erregen seinen Zorn. Aber er reduziert uns nicht auf das, was wir falsch gemacht haben. Er trennt Person und Sünde und liebt uns, obwohl wir sündigen. Er ist barmherzig. Er vergibt uns unsere Schuld, weil er unser Leben will und nicht unseren Tod.
Unser Predigttext lädt uns ein, die alten Worte des Psalms mitzusprechen und den barmherzigen Gott zu loben. Er lädt uns ein, uns die eindrucksvolle Bildsprache zu eigen zu machen und uns einzureihen in Generationen, die ihren gnädigen Gott besingen. Die Bilder versuchen die Vergebung des unvergleichlichen Gottes in Worte zu fassen und begreifbar zu machen. Sie helfen uns, das auszusprechen, was wir empfinden, wenn uns vergeben wird.

Wie können wir die Barmherzigkeit Gottes konkret erleben?In der Arbeit mit Konfi 3-Kindern (8 Jahre alt) habe ich vor Jahren erlebt, wie tiefgehend die Vergebung Gottes erlebt werden kann. Bei der Vorbereitung auf das Abendmahl haben wir darüber gesprochen, wie Gottes Nähe einen Menschen verwandeln kann. Die Kinder haben die Geschichte von Zachäus nachgespielt und vertieft. Beim nächsten Treffen sollten die Kinder erleben können, dass Gott auch ihre Schuld vergibt. Die Tischmütter hatten Bachkiesel gesammelt. Jedes Kind bekam einen Stein. Es durfte sich zurückziehen und einen Fehler, den es belastete, auf den Stein schreiben. Dann ging die Gruppe zu dem nahe gelegenen Bach. Jedes Kind hatte den eigenen Stein im Gepäck. Nach einem gemeinsamen Lied sprachen alle das Vaterunser – wie in jeder Konfi 3-Stunde – bis zu der Stelle: „Und vergib uns unsere Schuld.“ Dann durfte jedes Kind seinen Stein im Bach versenken. Die Kinder taten das mit großer Ernsthaftigkeit und großer Ruhe. Als alle Steine versenkt waren, wurde das Vaterunser zu Ende gesprochen. Mit einem Lied und Segen endete das Ritual und die Gruppe ging zurück. Unterwegs sagte ein Mädchen: „Jetzt ist es irgendwie leichter.“ Und sie meinte damit nicht nur das Gewicht des Bachkiesels, das sie jetzt nicht mehr belastete.
Wir können ein solches Gefühl der Erleichterung auch bei der Gnadenzusage in einer Abendmahlsfeier erleben. Nach unserem konkreten Sündenbekenntnis werden wir von unserer Schuld losgesprochen. „Freut euch! Der allmächtige Gott hat sich über euch erbarmt und vergibt euch alle eure Schuld. Was gewesen ist, darf euch nicht mehr beschweren. Was kommt, braucht euch nicht schrecken. Gottes Gnade ist unseres Lebens Freude und Kraft.“ Erleichtert können wir zum Tisch des Herrn gehen und in, mit und unter Brot und Wein Gemeinschaft mit dem barmherzigen Gott schmecken und spüren.
Gottes Gnade und Güte kann auch aufscheinen in einer Versöhnung unter uns Menschen. Denn nur weil Gott uns mit seiner Vergebung immer wieder einen neuen Anfang schenkt, können wir auch einander vergeben. Und so leuchtet in der Umarmung meiner Freundin, in ihrem Wort der Vergebung Gottes Vergebung hindurch. Ihr Wort der Vergebung und ihre Umarmung reduzieren mich nicht auf das, was ich falsch gemacht habe. Sie vergibt mir, weil sie mich mit den Augen Gottes ansieht, mit den Augen der Liebe und mit der Sehnsucht auf eine gemeinsame Zukunft. Amen.

Wichtige Anregungen für diese Predigt sind entnommen aus: Alexander Deeg, Andreas Schüle, Die neuen alttestamentlichen Perikopentexte, Leipzig 2018, S. 319ff, Und schließlich doch „Gefallen an der Gnade“? Gerhard Schäberle-Koenigs, 3. Sonntag nach Trinitatis (28. Juni): Micha 7, 18-20.„Es verlangt ich nach Huld“, aub10 (2020), S. 3-9.

Übersetzung des Predigttextes von Hans Walter WolffWer ist ein Gott wie du, der Vergehen wegträgt, an Aufsässigkeit vorübergeht beim Rest seines Eigentums! Nicht hält er seinen Zorn auf immer fest, denn er ist einer, der die Güte liebt. Er wird sich unser nochmal erbarmen, er wird unsere Vergehen zertreten. Du versenkst in die Tiefen des Meeres alle unsere Verfehlungen. Du wirst Jakob die Treue schenken und Abraham die Güte, die du unseren Vätern geschworen hast seit den Tagen der Vorzeit.
Aus: Hans Walter Wolff, Micha. Biblischer Kommentar Altes Testament Band XIV/4 Dodekapropheton 4, Neukirchen 1982, S. 187.

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