3. Sonntag nach Trinitatis (03. Juli 2022)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Dr. Gerhard Schäberle-Koenigs, Bad Teinach-Zavelstein [gerhard.schaeberle-koenigs@web.de]

Ezechiel 18, 1-4. 21-24. 30-32

IntentionWir sind vor Gott und gegenüber unseren Nächsten selbst dafür verantwortlich, wie wir leben.

Willst du leben?Willst du leben?
Sicher willst du leben! Das Leben ist wunderschön. So viel Gutes erleben wir. Schau auf das, was dir gelungen ist bisher. Du hast eine Ausbildung. Du kannst was. Du hast Menschen um dich, die dich brauchen. Du hast Enttäuschungen überwunden. Du hast Rückschläge hinnehmen müssen und bist dadurch gescheit geworden und hast gespürt, wieviel Kraft in dir steckt, um wieder auf die Beine zu kommen.
Alles wäre gut, wenn da nicht die Schuld wäre. Immer wieder starrst du auf die Fehler, die vorherige Generationen angerichtet haben. Und die Folgen davon haben sie dir hinterlassen. Du denkst: Ich könnte noch viel mehr, aber überall türmen sich Probleme auf, ich kann nicht, wie ich könnte. Es ist so was von ungerecht, dass ich ausbaden muss, was andere angerichtet haben. Gott sei’s geklagt!

Klage zu Gott und Gottes AntwortEs wurde Gott geklagt. Vor 2500 Jahren schon von den Israeliten, die in Babylonien in der Verbannung lebten. Und die Klage erreichte das Ohr Gottes. Und er antwortet. Sein Prophet Hesekiel hat die Antwort weitergegeben. Hört, wie Gott sich entschieden hat:

„Und des HERRN Wort geschah zu mir: Was habt ihr unter euch im Lande Israels für ein Sprichwort: 'Die Väter haben saure Trauben gegessen, aber den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden'? So wahr ich lebe, spricht Gott der HERR: Dies Sprichwort soll nicht mehr unter euch umgehen in Israel. Denn siehe, alle Menschen gehören mir; die Väter gehören mir so gut wie die Söhne; jeder, der sündigt, soll sterben (…)Wenn sich aber der Gottlose bekehrt von allen seinen Sünden, die er getan hat, und hält alle meine Gesetze und übt Recht und Gerechtigkeit, so soll er am Leben bleiben und nicht sterben. Es soll an alle seine Übertretungen, die er begangen hat, nicht gedacht werden, sondern er soll am Leben bleiben um der Gerechtigkeit willen, die er getan hat. Meinst du, dass ich Gefallen habe am Tode des Gottlosen, spricht Gott der HERR, und nicht vielmehr daran, dass er sich bekehrt von seinen Wegen und am Leben bleibt? Und wenn sich der Gerechte abkehrt von seiner Gerechtigkeit und tut Unrecht und lebt nach allen Gräueln, die der Gottlose tut, sollte der am Leben bleiben? An alle seine Gerechtigkeit, die er getan hat, soll nicht gedacht werden, sondern wegen seines Treubruchs und seiner Sünde, die er getan hat, soll er sterben (…) Darum will ich euch richten, ihr vom Hause Israel, einen jeden nach seinem Weg, spricht Gott der HERR. Kehrt um und kehrt euch ab von allen euren Übertretungen, damit ihr nicht durch sie in Schuld fallt.
Werft von euch alle eure Übertretungen, die ihr begangen habt, und macht euch ein neues Herz und einen neuen Geist. Denn warum wollt ihr sterben, ihr vom Haus Israel? Denn ich habe kein Gefallen am Tod dessen, der sterben müsste, spricht Gott der HERR. Darum bekehrt euch, so werdet ihr leben.“

Ich sage es noch einmal in einfacheren Worten: Ob ihr lebt oder ob ihr zugrunde geht, das hängt nicht daran, was eure Vorfahren angerichtet haben. Es liegt an euch selbst. Es liegt daran, wie ihr selbst euer Leben lebt. Ich stelle das, was frühere Generationen Schlimmes angerichtet haben, nicht denen in Rechnung, die jetzt leben. Ich achte darauf, wie ihr jetzt lebt. Wenn ihr Unrecht tut, wird das auf euch zurückfallen und ihr werdet zugrunde gehen. Wenn ihr euch abwendet von allem unrechten Tun, dann werdet ihr leben. Ihr werdet leben, wie es mir gefällt.

Ich lebe mein Leben und bin selbst dafür verantwortlichEs ist eine einfache, klare Antwort.
Wirklich? Ist das tatsächlich so klar?

Lassen Sie sich erzählen, wie eine Frau um die vierzig ihren Lebensweg sieht. Sie ist Gast in einem Erzählcafé. Da kommen regelmäßig Menschen zusammen und erzählen oder lassen sich erzählen. Olivia heißt sie. Sie fängt an:

„Eigentlich sind wir zu zweit, mein Bruder und ich. Aber er kann nicht da sein. Er ist im Gefängnis. Wegen Betrug, Körperverletzung, Raub und Erpressung. Auch wenn er nicht da ist, ist es doch, was ich euch erzähle, unser beider Geschichte. Wir sind zusammen aufgewachsen. Ich bin die ältere, er ist ein Jahr jünger. Unsere Kindheit war furchtbar. Vater und Mutter hatten nur kurz Freude an uns. Dann waren wir ihnen lästig. Sie wollten ihr Leben genießen, was unternehmen, was erleben. Oft waren wir allein. Einen ganzen Tag, einen Tag und auch noch die Nacht dazu. Dann waren wir in unserem Zimmer eingeschlossen, der Fenstergriff war auch abgeschraubt. Wir sind verrückt geworden. Wir haben den Gips von den Wänden gekratzt, wir haben die Tapetenfetzen gekaut. Es war die Hölle. Wir waren keine Menschen mehr, wir waren wie verstoßene junge Tiere.
Irgendwann wurde das Jugendamt auf uns aufmerksam. Die haben uns sehr schnell da raus geholt und zu einer Pflegefamilie gebracht. Aber das war nur vorübergehend. Das war eine Adresse, wo sie Kinder hinbringen konnten, wenn‘s ganz schnell gehen musste. Wir kamen zu einer anderen Familie. Aber nach wenigen Wochen hat es mein Vater geschafft, das Jugendamt davon zu überzeugen, dass er der allerbeste Vater ist. Wir kamen wieder nach Hause. Es wurde aber nicht viel besser. Wenig später verschwand unsere Mutter. Sie ist einfach gegangen und nicht mehr wiedergekommen. Ich habe sie nie mehr gesehen.
Wieder kamen wir in eine Pflegefamilie. Es ging uns gut. Wir gingen in die Schule, wir lernten Freunde kennen. Wir haben viel Schönes unternommen. Aber immer wieder rasteten wir aus, mal mein Bruder, mal ich. Ich war schnell im Zuschlagen, wenn mir jemand dumm kam. Mein Bruder war nicht so gewalttätig gegenüber anderen. Aber wenn er eine Wut hatte, konnte er die Möbel im Klassenzimmer zerlegen. Da hatten die Pflegeeltern dann jedes Mal Scherereien.
Auch diese Zeit ging zu Ende. Danach wurden wir in verschiedene Heime für verhaltensgestörte Jugendliche untergebracht. Unsere Wege trennten sich.
Mir geht es heute gut. Ich lebe. Ich habe einen Sohn, der ist bald 20 Jahre alt. Ich habe einen Beruf. Ich arbeite im Altenpflegeheim. Gute Freunde unterstützen mich. Es war ein langer Weg. Es gab immer wieder Rückschläge. Und wenn ich kurz vor dem Absturz war, dann kamen alle Erinnerungen an die Kindheit zurück und die Verbitterung gegen meine Eltern. Und ich habe mir geschworen: Nie will ich in so ein Leben zurück, wie ich es durchgemacht habe. Und auf keinen Fall soll mein Sohn so etwas erleben.
Bei meinem Bruder war es anders. Die letzten Jahre war er mehr im Gefängnis als in der Freiheit. Er ist sich seiner Misere bewusst. Aber er hat eine lange Liste von Schuldigen. Die haben ihm das Leben verdorben. Er kann nichts dafür. Davon ist er überzeugt.
Ich bin traurig, dass er nichts für sich tun kann. Und ich bin so dankbar, dass ich die Kurve gekriegt habe.“

Da sind also zwei völlig verschiedene Leben von Menschen, die in ihrer Kindheit dasselbe durchlebt und durchlitten haben. Die eine hat sich radikal abgewandt von dem Weg, der sie fast ins Verderben geführt hat. Der andere hält daran fest: Ich kann nichts dafür. Die und die und die sind schuld, dass ich bin, wie ich bin. Er findet keinen Ausweg mehr.

Gottes ist anders gerechtAber Gott sagt: Wenn jemand umkehrt von all seinen Verfehlungen und hält meine Gebote und übt Recht und Gerechtigkeit, so wird er am Leben bleiben und nicht sterben. Es soll an alle seine Übertretungen nicht mehr gedacht werden.

Der Prophet Hesekiel hat dieses Wort Gottes Menschen weitergesagt, die unter der Schuld ihrer Vorfahren litten. Sie waren nach einem Krieg aus ihrer Heimat deportiert worden und lebten in der Fremde. Sie beklagten ihr Schicksal und machten sich das Sprichwort zu eigen: Unsere Väter haben Unrecht getan, und wir müssen es auslöffeln. Sie wollten damit sagen: Das ist doch eine schreiende Ungerechtigkeit.
Viele Menschen, auch in unserer Zeit, könnten dasselbe sagen. Andere, die zufrieden sind mit ihrem Leben, sagen eher: „Ich habe mein Leben im Griff. Mir gelingt alles, was ich mir vornehme.“ Und sie denken nicht daran, dass ein Gutteil ihres Glücks daher rührt, dass sie auf der Sonnenseite des Lebens geboren und aufgewachsen sind. Sie erwähnen, wenn sie sich loben, nicht, wieviel Gutes sie von ihren Eltern oder von anderen Menschen, die sie begleitet haben, bekommen haben. Sie haben es selbst geschafft. Jedenfalls stellen sich viele so dar.

Hören wir noch etwas genauer hin, was Gott dazu sagt. Er hat noch einmal eine ganz andere Art, Gerechtigkeit zu üben. Er sagt: Wenn ein Mensch ein schlimmes Leben führt, wenn einer betrügt und raubt und gewalttätig ist gegen seine Mitmenschen und die, die sich nicht wehren können, drangsaliert und ihnen das Leben zur Hölle macht – wenn so einer sich von dieser gottlosen Lebensweise abwendet und Gutes tut, dann werden ihm seine ganzen Schandtaten nicht angerechnet. Sie werden ausgestrichen. Und er wird leben.

So geht Gottes Gerechtigkeit.
Und damit es alle wirklich verstehen, zeigt der Prophet auch noch die andere Seite der Medaille: Wenn einer ein gottgefälliges Leben führt und Gutes tut, und er wendet sich davon ab und tut allerlei Schändliches und drangsaliert seine Mitmenschen, dann werden ihm seine guten Taten nicht zugutegehalten. Er wird sein Leben verlieren.

Eine harte Rede – voller Trost und HoffnungDas ist eine harte Rede. Und doch ist darin ganz viel Trost und Grund zur Hoffnung. Es ist ein Lockruf zum Leben. Setzt es doch nicht aufs Spiel! An euch liegt es, an jedem Einzelnen von euch liegt es, wie ihr euer Leben gestaltet.
Macht euch ein neues Herz, macht euch einen neuen Geist. Das meint: Hört auf zu hadern mit dem, was Andere angerichtet haben, welche Steine sie euch in den Lebensweg gelegt haben, sondern nehmt dies in euer Herz: Ihr gehört alle zu mir. Und ich habe keinen Gefallen daran, dass Leben verdorben wird. Ich liebe das Leben.
Amen.

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