4. Sonntag nach Trinitatis (10. Juli 2022)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Angelika Volkmann, Tübingen [Angelika.Volkmann@elkw.de]

Johannes 8,3-11

IntentionDurch diese Geschichte soll unser Herz dafür geöffnet werden, barmherzig zu sein. Durch diese Geschichte sollen wir behutsam zur Selbsterkenntnis für eigene Schuld geführt werden. Und doch hat gerade diese Geschichte bis auf den heutigen Tag viele Menschen dazu verführt, ein sehr hartes Urteil zu fällen. Nicht über die Frau, die die Ehe bricht, wohl aber über die Tora, das jüdische Gesetz, und über die Pharisäer.
Deswegen gibt diese Predigt Hintergrundinformationen, die der Gemeinde nicht vorenthalten werden sollten, weil sie ermöglichen, die Tora und die Pharisäer so positiv zu sehen, wie sie sind.

8, 3 Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte 4 und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden. 5 Mose hat uns im Gesetz geboten, solche Frauen zu steinigen. Was sagst du? 6 Das sagten sie aber, um ihn zu versuchen, auf dass sie etwas hätten, ihn zu verklagen. Aber Jesus bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. 7 Als sie ihn nun beharrlich so fragten, richtete er sich auf und sprach zu ihnen: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein auf sie. 8 Und er bückte sich wieder und schrieb auf die Erde. 9 Als sie das hörten, gingen sie hinaus, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst; und Jesus blieb allein mit der Frau, die in der Mitte stand. 10 Da richtete Jesus sich auf und sprach zu ihr: Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt?
11 Sie aber sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.

Liebe Gemeinde,
den meisten ist diese Geschichte so in Erinnerung: Pharisäer bringen eine Frau zu Jesus und wollen sie steinigen. Jesus verurteilt sie nicht und lässt sie gehen. Es gibt Bilder in christlichen Büchern, da liegt der Steinhaufen schon am Rand. Und wir denken, wie grausam das jüdische Gesetz doch ist.
Doch so steht es nicht in dieser wunderbaren Geschichte. Es ist wichtig, dass wir die Worte des Evangeliums genau lesen, dass wir auch in der Mose-Tora nachlesen und dass wir uns zusätzliche Informationen holen.

V 3 „Da brachten die Schriftgelehrten und die Pharisäer eine Frau, beim Ehebruch ergriffen, und stellten sie in die Mitte.“ Die damaligen Schriftgelehrten und Pharisäer haben jede Art von Lynchjustiz abgelehnt. Das ist historisch erwiesen. Vor jeder etwaigen Bestrafung musste ein ordentliches Verfahren stattfinden. Und selbst wenn sie die Frau hätten töten wollen, sie hätten das Recht dazu gar nicht gehabt. Noch dazu im Tempel! Das ist völlig undenkbar. Nirgends liegt hier ein Steinhaufen!
Die Schriftgelehrten kommen mit einem ganz anderen Anliegen zu Jesus, der gerade im Tempel das Volk lehrt.
V 4 „und sprachen zu ihm: Meister, diese Frau ist auf frischer Tat beim Ehebruch ergriffen worden.“ Sie sprechen ihn als „Meister“ an. Sie kommen mit der auf frischer Tat ertappten Frau und wenden sich an Jesus, um seine Gesetzes-Auslegung kennen zu lernen, die er im Tempel lehrt.

V 5 „Mose hat uns im Gesetz geboten“, ….. „Was sagst du?“ – mit dieser Formulierung bezeichnen die Schriftgelehrten in ihren Lehrgesprächen den gemeinsamen Hintergrund: die Auslegungsgeschichte der Tora seit Mose. „Mose hat uns im Gesetz geboten“, dazu haben viele schon dieses und andere schon jenes gesagt – „Was sagst du?“, so fragen sie Jesus. Sie wollen ihn nicht verklagen. Sie haben Interesse an seiner mündlichen Tora. Vielleicht vertritt Jesus eine Auslegung, die sie noch nicht kennen? Dass die Gebote, die zur Zeit Jesu über 1000 Jahre alt sind, der Interpretation bedürfen, ist für die Schriftgelehrten eine völlig klare Sache. Längst hatten die Schriftgelehrten die Gebote erleichtert und humanisiert, besonders die, in denen eine Todesstrafe verhängt werden sollte (siehe 3. Mose 20,10). Sie haben z.B. zusätzliche Bedingungen für eine Verurteilung gestellt, sodass die Todesstrafe praktisch nie verhängt werden konnte. Es gibt aus der Zeit Jesu keinen einzigen schriftlichen Hinweis darauf, dass ein Ehebrecher oder eine Ehebrecherin tatsächlich gesteinigt worden ist. Dann gibt es weitere Ungereimtheiten in der Geschichte. Wenn wir bei Mose nachlesen (2. Mose 20,10) steht dort, dass für beide die Todesstrafe verhängt werden soll, auch für den Mann. Es ist also seltsam, dass sie den Mann offenbar haben laufen lassen. Außerdem steht bei Mose an dieser Stelle nichts von Steinigung. Pharisäer hätten die beim Ehebruch ertappte Frau nie und nimmer in den Tempel gebracht. Es scheint so, als ob der, der diese Geschichte aufgeschrieben hat, nicht so gut über das jüdische Gesetz Bescheid wusste.

Diese Ungereimtheiten werfen Fragen auf. Die neutestamentliche Forschung ist sich mittlerweile einig: Diese Geschichte ist ein späterer Text. Sowohl in der Lutherbibel als auch in der Einheitsübersetzung wird dies auch vermerkt. In den ersten Handschriften, die wir vom Neuen Testament haben, in denen das ganze Neue Testament sorgfältig abgeschrieben wurde, ist diese Geschichte nicht enthalten. Aber in der Art und Weise, wie in dieser Geschichte von Jesus erzählt wird, hat man später den Geist seiner Gesetzesauslegung gesehen, und sie deswegen eingefügt.
Möglicherweise ist der Anlass für diese Geschichte eine schwierige Situation in einer christlichen Gemeinde im 3. Jahrhundert, ein schwerer Fall von Ehebruch. Die Ältesten in der Gemeinde ringen darum, wie jetzt zu verfahren ist. Da wird eine Frau in einer Gemeinde für ihr Verhalten hart verurteilt. „So etwas können wir nicht dulden! Wir müssen sie aus der Gemeinde ausschließen!“, sagen die Strengen. „Wenn wir sie ausschließen, käme das ihrem sozialen Tod gleich. Gott will den Tod des Sünders nicht“, sagen die Milden. „Niemand ist ohne Sünde. Wir müssen es mit Gutem überwinden.“ „Aber dann stehen wir bald in der Gefahr, dass es überhaupt keine Verbindlichkeit mehr gibt!“ meinen die Strengen. “Reue und Umkehr finden wir auch wichtig“, sagen die Milden. Beide Seiten berufen sich auf Jesus. Beide Seiten ringen miteinander, beten gemeinsam, hören aufeinander und finden schließlich den Weg, die Frau nicht zu verurteilen, sie jedoch zur Umkehr aufzufordern.
Und vermutlich haben sie erlebt, dass diese Handhabung segensreich war in der Gemeinde. „Wir haben im Geiste Jesu zu dieser Einigung gefunden, das wollen wir weitergeben an andere: Lasst uns eine Jesusgeschichte dazu schreiben.“ So ist es geschehen. Liebe Gemeinde: dass eine ganze Geschichte nachträglich in ein Evangelium hinzukommt, das ist nur an dieser einen Stelle im Neuen Testament so geschehen. Und diese Geschichte atmet den Geist Jesu und den Geist der Tora, die den Menschen hilft.

Mit diesem Blick auf die Tora, die pharisäische Tora-Auslegung und auf die Entstehung der Geschichte begeben wir uns nun wieder in die biblische Geschichte hinein und hören auf sie:
Die Schriftgelehrten und Pharisäer fragen Jesus als Lehrer. Jesus antwortet als Seelsorger. Brillant. Er antwortet zunächst einmal gar nicht, sondern bückte sich nieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde. Er vermeidet den Blickkontakt sowohl zu denen, die ihn fragen, als auch zu der Frau. So verlangsamt er den Fluss des Geschehens und gibt Raum für eine ganz neue Wendung. Und er erhöht die Spannung auf seine Antwort. Als sie nun fortfahren, ihn zu fragen, richtet Jesus sich auf und sagt: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“ Damit nimmt er Bezug auf eine andere Stelle bei Mose, wo es tatsächlich um Steinigung geht, jedoch als Strafe für Götzendienst (5. Mose 17,7). Dort heißt es: „Der Zeuge werfe den ersten Stein.“ Im Falle einer rechtmäßigen Verurteilung durch einen Richter war auch das in der frühen Zeit eine weitere Maßnahme zum Schutz vor der Vollstreckung eines Fehlurteils. Auch bei Mose geht es nicht um Lynchjustiz. Die Zeugen hatten große Verantwortung. Der erste Wurf ist der schwierigste. Und wenn die Zeugen nicht warfen, warum auch immer, wurde nicht gesteinigt, schon bei Mose! Diese Schutzbestimmung der Tora wandelt Jesus ab und sagt: „Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe den ersten Stein.“

So spricht der Seelsorger. Diejenigen, die gerecht sind, weist er darauf hin, dass auch sie zur Sünde fähig sind und selbst auch gesündigt haben. Das macht er sehr feinfühlig und überlässt es jedem einzelnen, sich zu fragen: Wie weit bin ich selbst in meinem Herzen oder auch in meinen Taten entfernt davon, mich zu versündigen? „Er bückte sich wieder und schrieb mit dem Finger auf die Erde“, um seinen Gesprächspartnern diskret die Möglichkeit zur Selbsterkenntnis zu geben. Er bedrängt sie nicht, macht keine Vorwürfe, weist ihnen nichts nach. Er schaut noch nicht einmal hin. „Als sie das hörten, gingen sie hinaus, einer nach dem andern, die Ältesten zuerst.“ Sie hören auf ihn! Das Wort Jesu, seine Tora-Auslegung, hat sie angesprochen! Und in dem Wort „Älteste“, griechisch „Presbyter“ – wie in vielen Kirchen die Kirchengemeinderäte heißen – schimmert wohl etwas vom Geheimnis der Entstehungssituation in einer christlichen Gemeinde durch.
Jesus blieb mit der Frau zurück. Und hier lesen wir, wie schon am Anfang der Geschichte, „allein mit der Frau, die in der Mitte stand“. Wieso in der Mitte – es war doch keiner mehr da? Auch das ist so kunstvoll erzählt! Die Frau steht mit ihrem Leben und mit dem, was sie getan hat, von Anfang an vor Gott. In der Mitte. Darum im Tempel. Und er fragt sie: „Wo sind sie, Frau? Hat dich niemand verdammt? Sie aber sprach: Niemand, Herr. Jesus aber sprach: So verdamme ich dich auch nicht; geh hin und sündige hinfort nicht mehr.“
Er schließt sich dem Urteil der Pharisäer an. Keiner von ihnen verurteilt die Frau! Und er schließt mit der Aufforderung: „Gehe hin und sündige hinfort nicht mehr.“ Er ruft die Frau zur Umkehr. Sie soll die Heimlichkeit beenden, sehen, wie sehr sie ihren Mann verletzt hat und ob sie sich mit ihm versöhnen kann.
Als Seelsorger gibt er jedem das, was er braucht: Den einen verhilft er in Übereinstimmung mit der Tora zur Selbsterkenntnis, die andere erhält eine Aufforderung zur Umkehr. Amen.

Verwendete Literatur: Michael Volkmann, 4.Sonntag nach Trinitatis: Johannes 8,3-11; in: Predigtmeditationen im christlich-jüdischen Kontext, herausgegeben von Studium in Israel e.V. 2006.



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