5. Sonntag nach Trinitatis (21. Juli 2019)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Monika Renninger, Stuttgart [monika.renninger@hospitalhof.de]

Matthäus 9, 35-38; 10, 1-10

IntentionWas bedeutet es heute für die Christengemeinde, in die Welt hinausgesandt zu sein zu allen, die in Wort und Tat von Gottes Liebe erfahren sollen? – „Verlangen wirst du, dass wir, die Lieblosen dieser Erde, deine Liebe sind“ (Marie-Luise Kaschnitz).

Was ist dem Menschen geboten zu tun?
„Verlangen wirst du, dass wir,
die Lieblosen dieser Erde, deine Liebe sind;
die Hässlichen deine Schönheit,
die Rastlosen deine Ruhe,
die Wortlosen deine Rede,
die Schweren dein Flug. …

Aber jeder wird wissen: dies ist Dein letztes Geheimnis.
Dein Fernsein Deine Nähe,
Dein Zuendesein Dein Anfang
Deine Kälte Dein Feuer,
Deine Gleichgültigkeit Dein Zorn.

Und einige wirst du bisweilen beweglich machen.
Schneller als Deine Maschinen und künstlichen Blitze.
Überflügeln werden sie ihre Angst.
Fahrende werden sie sein. Freudige.“

Die Dichterin Marie Luise-Kaschnitz bringt für mich sehr hilfreich und anregend, zum Ausdruck, was es bedeutet, von einer anderen Welt zu wissen, in der die Hoffnung lebendig ist, und dabei zugleich in einer Welt zu leben, die das Gegenteil davon zu sein scheint.

Marie-Luise Kaschnitz hat den „Tutzinger Gedichtkreis“ um 1955 herum geschrieben. Ihre Texte spiegeln das Entsetzen des Zweiten Weltkrieges, des Holocaust, der Atombombe, des Kalten Krieg wider, der dann folgte. Für sie wie für viele ihrer Zeitgenossen stand dabei die Frage im Mittelpunkt: Hat sich Gott ganz und gar zurückgezogen aus dieser Welt und, beharrlich schweigend, die Welt gänzlich dem Menschen, seiner Haltlosigkeit und Zerstörungswut überlassen?

Was ist dem Menschen nun geboten zu tun?
Ich höre Aufforderung und Trost, nüchternen Realitätssinn und Hoffnung in ihren Worten:

„Verlangen wirst du, dass wir,
die Lieblosen dieser Erde, deine Liebe sind;
die Hässlichen deine Schönheit,
die Rastlosen deine Ruhe,
die Wortlosen deine Rede,
die Schweren dein Flug. …

… Und einige wirst du bisweilen beweglich machen.
Schneller als Deine Maschinen und künstlichen Blitze.
Überflügeln werden sie ihre Angst.
Fahrende werden sie sein. Freudige.“

Die Aussendung: Matthäus 9,35 – 10,1 (2-4)5-10Mir kommt das vor wie ein Echo auf Gedanken aus einer der großen Reden Jesu im Matthäusevangelium. Da geht es um die Aufgabe und Sendung der Freunde Jesu geht. „Die Aussendung der Zwölf“ ist er überschrieben und beginnt mit einer Beobachtung. Mit einer Situationsanalyse würden wir heute sagen:

„Und Jesus zog umher in alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen. Und als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren geängstet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben. Da sprach er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende.
Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, dass sie die austrieben und heilten alle Krankheiten und alle Gebrechen …
Diese Zwölf sandte Jesus aus, gebot ihnen und sprach: Geht nicht den Weg zu den Heiden und zieht nicht in eine Stadt der Samariter, sondern geht hin zu den verlorenen Schafen aus dem Hause Israel. Geht aber und predigt und sprecht: Das Himmelreich ist nahe herbei gekommen. Macht Kranke gesund, weckt Tote auf, macht Aussätzige rein, treibt Dämonen aus. Umsonst habt ihr’s empfangen, umsonst gebt ihr es auch. Ihr sollt weder Gold noch Silber noch Kupfer in euren Gürteln haben, auch keine Tasche für den Weg, auch nicht zwei Hemden, keine Schuhe, auch keinen Stecken. Denn ein Arbeiter ist seiner Speise wert.“

Die Situation der Gemeinde damals – heuteIn der Situation der Ausgrenzung und Verfolgung hört die Gemeinde des Matthäusevangeliums diese Jesusworte. Sie senden sie aus und schicken sie zunächst genau dorthin, wo sie sich nicht mehr willkommen fühlen – zurück zu ihren Ursprüngen, zurück dorthin, wo sie herkamen, zurück zu denen, bei denen sie sich auskannten, die ihre Familie waren. Und erst dann zu all den anderen, die noch nichts vom Glauben an Gott und Christus gehört haben, zu den Menschen aus den nichtjüdischen Völkern (Mt 28,16-20).

Das hört damals: eine Christengemeinde, die Minderheit in einer Minderheit ist, die sich in ihrem Leben und Überleben als bedroht erfährt. Was für eine Botschaft hören sie da! Sie sollen sich nicht verbergen und aus der Welt zurückziehen. Die Anderen brauchen sie und ihre Kraft zu lieben und zu einem guten Leben für alle beizutragen. Sie sind gesandt, das Lob und die Liebe Gottes zu verkünden und andere dazu einzuladen. Sie sind ausgeschickt, die Menschenfreundlichkeit Gottes zu zeigen und in ihrem Tun lebendig werden zu lassen. Sie sollen aufbrechen, allein auf Gottes Fürsorge vertrauend, ohne Geld und Proviant,, nur auf die Gastfreundlichkeit der angewiesen, denen sie begegnen. (Mt 10,9f)

Das hört heute eine Kirche, die fast überall auf der Welt zur Mehrheitsgesellschaft gehört, die abgesichert und kulturell und gesellschaftlich verwurzelt ist. Das Wort „Mission“ hat mittlerweile einen kritischen Beigeschmack, Eine jahrhundertelange Missionsgeschichte war von Gewalt und Überrumpelung und Herrschaftsgebaren geprägt. Fanatische Gläubige sind mit Waffen statt „ohne Stecken“ (Mt 10,10) ausgezogen, das Evangelium gewalttätig anderen aufzuzwingen. Über die Jahrhunderte hatte sich die Kirche zur Feindin, ja Todfeindin der jüdischen Gemeinden entwickelt, zu deren Gemeinschaft sie doch einst gehörte und obwohl sie in deren Traditionen wurzelt, deren Psalmen singt und deren Glaubensgeschichte weitererzählt.

Was ist dem Menschen heute geboten zu tun?Was kann der Auftrag, vom Evangelium zu erzählen und den Menschen Gutes zu tun, heute heißen? In einer Welt, in der Menschen auch heute Angst haben? In einer Welt voller Krankheit und Tod, in der die einen andere ausgrenzen und Menschen böswillig einander das Leben schwer machen? Das Zusammenleben ist bedroht – heute wie damals (Mt 10,8).
Die Aufgabe ist überwältigend groß. Es braucht viele, die dazu beitragen, sie anzugehen. Viele Arbeiterinnen und Arbeiter in der Ernte, so umschreibt es der Bibeltext (Mt 9,37).

Gerade hat der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge, Filippo Grandi, in Berlin den UN-Weltflüchtlingsbericht vorgestellt. Demnach hat die Zahl der Flüchtlinge einen Höchststand erreicht. Etwa 70 Millionen Menschen sind auf der Flucht. Mehr als die Hälfte davon sind Kinder. Das sind nicht nur besonders verletzliche Menschen, das ist die Zukunft jedes Landes. Jeden Tag werden 37.000 Menschen aus ihrer Heimat vertrieben. Das ist alle zwei Sekunden ein Mensch, der sein Zuhause verliert und praktisch sein ganzes bisheriges Leben, manchmal sogar seine Familie. Wie soll die Staatengemeinschaft der Welt das bewältigen? Eine unglaublich große Aufgabe ist das.

Aber was klagen wir im reichen Europa darüber? Denn es sind die ärmsten Länder der Erde, die etwa einem Drittel dieser Flüchtlinge Schutz gewähren und sie beherbergen. Machen wir uns klar: 91 Prozent der Flüchtlinge der Welt sind nicht in den Ländern Europas. Die allermeisten bleiben in ihren – armen – Nachbarländern.

Die Aufgabe ist unglaublich groß, ja. Doch der Flüchtlingskommissar gibt ausdrücklich eine gute Nachricht mit seinem Bericht weiter: Auch im letzten Jahr konnte eine halbe Million Menschen wieder in ihre Heimat zurückkehren. Und: Immer noch sagen mehr als drei Viertel der Deutschen, dass man Flüchtlingen in Not helfen muss.

Konkrete mitmenschliche Zuwendung und Hilfe, das ist der Auftrag der Mission, des Gesandtseins in die Welt, der christliche Verkündigungsauftrag. Zur Guten Nachricht von Jesus gehört untrennbar die Aufgabe, Kranken beizustehen, Ausgegrenzten zu helfen, dem Sterben und Tod nicht auszuweichen, dem Bösen und allem, was die Seele gefährdet, zu wehren. Einfach für die Menschen da zu sein (Mt 10,7-8). Wie Jesus. Denn von Jesus wird gesagt, dass er die Menschen anschaut und sich bis ins Innerste hinein davon anrühren lässt, wie bedürftig sie sind, wie ängstlich und orientierungslos (Mt 9,36). In der Sprache der Kirche: Diakonische Arbeit ist gefragt.

Die Aussendung: neu gesagtChristen werden heute in den meisten Ländern der Welt nicht verfolgt. – Aber ich meine, wenn Gleichgültigkeit und Desinteresse vorherrschen, dann gefährdet das das Zusammenleben der Menschen. Und wenn den Realisten, den Zynikern und Skeptikern mehr zu sagen einfällt als uns, die von der lebendig gewordenen Hoffnung reden sollen: dann geht die Hoffnung verloren. Wir brauchen den Mut und die Kraft, eine Gegenrede gegen die Resignation zu halten. Wir brauchen den Mut und die Kraft, dass wir an der Hoffnung auf Veränderung festhalten und immer noch und immer wieder ein anderes Licht auf die Sache werfen. Das ist heute die Aufgabe und die Mission derer, die von der Liebe Gottes reden und die Menschenfreundlichkeit des einen Gottes verkündigen.

Ich höre diesen Auftrag ganz neu in der anderen Sprache, der Sprache der Dichterin, die sich auf ihre Weise einmischt in die religiösen und gesellschaftlichen Fragen ihrer Zeit. Sie entlässt sich und andere nicht aus der Spannung, im Glauben an die Auferstehung Christi in einer Welt zu leben, die so fern davon ist.

„Verlangen wirst du, dass wir,
die Lieblosen dieser Erde, deine Liebe sind;
die Hässlichen deine Schönheit,
die Rastlosen deine Ruhe,
die Wortlosen deine Rede,
die Schweren dein Flug …

Und einige wirst du bisweilen beweglich machen...
Überflügeln werden sie ihre Angst.
Fahrende werden sie sein. Freudige.“

Amen.

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