5. Sonntag nach Trinitatis (20. Juli 2025)
Matthäus 9,35–10,1(2–4)5–10
IntentionDie Überforderung angesichts des Leids der anderen im Großen und im Kleinen, im Nahen und im Fernen ist nachvollziehbar. Als Alternative zu Aktionismus oder Flucht bietet die Predigt das Gebet an.
Einander sehen„Du siehst mich einfach nicht.“ Wenn uns ein Mensch diesen Vorwurf macht, ist das keine medizinische Diagnose. Wir sollen nicht zum Sehtest gehen, und auch eine neue Brille wird das Problem nicht lösen. Hier fühlt sich jemand nicht wahrgenommen. Und das kann uns selbst bei nahestehenden Menschen passieren. Jemand läuft uns jeden Tag über den Weg. Wir teilen Wohnung, Tisch und sogar Bett. Wir verbringen viele Stunden an Zeit zusammen, und trotzdem fehlt es an der Wahrnehmung. Wir sehen uns zwar regelmäßig und sehen uns doch nicht. Wir nehmen nicht wahr, wie es der anderen Person geht, was sie beschäftigt und was sie von uns brauchen könnte. Das gilt freilich auch umgekehrt. Auch wir hatten vielleicht schon den Eindruck, in einem tieferen Sinne nicht wahrgenommen zu werden. In unserem heutigen Predigttext spielt das Thema „sehen“ und „wahrnehmen“ auf den ersten Blick eine Nebenrolle, aber das täuscht. Ich lese aus Matthäus 9,35 bis 10,1:
"Und Jesus zog umher in alle Städte und Dörfer, lehrte in ihren Synagogen und predigte das Evangelium von dem Reich und heilte alle Krankheiten und alle Gebrechen. Und als er das Volk sah, jammerte es ihn; denn sie waren geängstet und zerstreut wie die Schafe, die keinen Hirten haben. Da sprach er zu seinen Jüngern: Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter. Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende. Und er rief seine zwölf Jünger zu sich und gab ihnen Macht über die unreinen Geister, dass sie die austrieben und heilten alle Krankheiten und alle Gebrechen."
Sehen und wahrnehmenWie gesagt: Auf den ersten Blick spielt „sehen“ und „wahrnehmen“ in diesem Text eine Nebenrolle. Nur ein einziges Mal, in Vers 36, ist davon die Rede. und doch ist das eine Schlüsselstelle. Jesus ist unterwegs. Die Kapitel davor erzählen von seinem Wirken, von seinem Reden und Helfen, und dann scheint es fast, als hält Jesus inne und sieht: Dieses Sehen ist mehr als nur der Gebrauch seiner Augen. Jesus sieht wirklich hin, und was er da sieht, wirkt tief in ihn selbst zurück. Im Deutschen steht hier: „Und als er das Volk sah, jammerte es ihn.“ Man könnte vom Griechischen her auch sagen, es zog ihm die Eingeweide zusammen. Jesus fühlt wortwörtlich mit. Es geht hier um echte Empathie. Die Orientierungslosigkeit der Menschen um Jesus herum ist für ihn keine kühle Beobachtung, kein nüchterner rationaler Schluss, sondern er spürt sie tief in sich. Sie ergreift ihn, weil er hingesehen hat.
Hinsehen bewegtAuch wenn das Wort „Liebe“ hier nicht auftaucht, lässt sich hier viel darüber lernen, was Nächstenliebe sein könnte. Immer wieder heißt es, die Liebe von der Jesus rede, sei kein Gefühl. Das stimmt natürlich, wenn damit ein romantisches Gefühl gemeint ist, das sich in der Verliebtheit einstellt. Aber trotzdem ist die Liebe dem Nächsten gegenüber nicht gefühlsbefreit. Wo ich bereit bin hinzusehen, den anderen in seiner Situation wahrzunehmen, die Augen auch vor seinem Schmerz nicht verschließe, macht das etwas mit mir, ergreift mich das, bewegt mich das. Das ist nicht nüchtern, kühl und distanziert, sondern im Gegenteil hochgradig parteiisch und involviert.
Appell zum Besseren?Angewandt auf unseren Predigttext ergeben sich zwei Perspektiven: Vielleicht liegt uns jene Rolle näher, in der wir – als Ermächtigung im Windschatten Jesu – von anderen noch nachdrücklicher einzufordern: „Nimm mich endlich wahr.“ Vielleicht hören wir aber auch mit schlechtem Gewissen und nehmen uns vor, ab sofort aufmerksamer zu sein, um zukünftig keinen Menschen in Not zu übersehen. Beides ist ja legitim: Wir wollen für unsere Bedürfnisse einstehen und sie zulassen. Zugleich wollen wir mit sensiblen und wachen Augen durch unseren Alltag gehen. Obgleich beide Perspektiven nachvollziehbar sind, fühlt es sich falsch an, die Geschichte nur als Appell zum Bessersein zu lesen.
Bedürfnis zur AbgrenzungZur Ehrlichkeit gehört aber auch: Es ist nicht möglich, das gesamte Leid dieser Welt auf eigenen Schultern zu tragen. Unser alltägliches Leben könnte gegen einen solchen Appell aufbegehren. Manchmal hat man aus guten Gründen das Bedürfnis, sich abzugrenzen und zu schützen. Dann hat es geradezu etwas Gesundes, die Augen zu verschließen und jemanden auf Distanz zu halten.
Große Ernte, wenige ArbeiterIn einem gewissen Sinn bekräftigt der Bibeltext so ein Verhalten: Jesus wird zunächst nicht aktiv. Stattdessen spricht er über die intensive Erfahrung der Überforderung: „Die Ernte ist groß, aber wenige sind der Arbeiter.“ Es gäbe so viel zu tun, aber es sind so wenige da, um zu helfen. Was zu tun nötig wäre, ist unmenschlich viel. Aber kein Mensch kann alles Leid der Welt auf eigenen Schultern tragen. Auch der Sohn Gottes empfindet in dieser Situation nicht anders. Dennoch wendet sich Jesus nicht ab. Vielmehr ruft er zur Bitte und zum Gebet auf: „Darum bittet den Herrn der Ernte, dass er Arbeiter in seine Ernte sende.“
Gott als Quelle allen TrostesWenn wir aus einer Erfahrung der Überforderung beten, dann erwarten wir zum Beispiel Ruhe, Klarheit, vielleicht auch ein spontanes Eingreifen von oben. In jedem Fall klärt sich – zumindest für einen Moment – die Frage, wer wirklich helfen kann. Wir beten ja nicht zu uns selbst, sondern zu Gott. Gott ist der Herr der Ernte. Gott allein ist der „Gott allen Trostes“ (2.Kor 1,3). Wenn diese Orientierung klar ist, dann fällt es leichter, das Menschenmögliche vom Unmöglichen zu unterscheiden. Dann fällt es leichter, eigene Möglichkeiten zu erkennen und realistisch zu beurteilen.
Ordnung durch GebetEs gibt eine Grenze menschlichen Vermögens, füreinander da zu sein Man kann sie auch mit Ergriffenheit nicht überspringen. Es gibt eine Grenze dessen, was wir geben können, und es gibt auch eine Grenze, was wir voneinander mit Recht erwarten können. Diese Grenze spüren wir, so glaube ich, im Moment der Überforderung, und sie verleitet uns dazu, uns abzuwenden, die Augen schon im Vorhinein zu verschließen und lieber nicht sehen zu wollen, was da wahrzunehmen wäre. Mit dem Gebet ordnet sich etwas. Ich bin ein Mensch und nicht Gott. Deshalb bin ich menschlich gefordert und nicht göttlich. Was ich nicht tun kann, muss ich auch nicht von mir erwarten. Ich erbitte von Gott, dass er Lösungen findet, die ich nicht kenne. Was ich aber tun kann, das will ich tun – und deshalb hinsehen. Amen.
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