6. Sonntag nach Trinitatis (23. Juli 2017)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Claudia Kook, Nürtingen [claudia.kook@elkw.de]

Markus 10, 13-16

Liebe Gemeinde,
heute geht es um Kinder. Um unsere Kinder. Um uns als Kind. Um das Kind in uns. Lasst endlich die Kinder an die Macht! Vielleicht kennen Sie das Lied noch, das Herbert Grönemeyer in den 80ern gesungen hat:

„Die Armeen aus Gummibärchen, die Panzer aus Marzipan, Kriege werden aufgegessen, einfacher Plan, kindlich genial. / Es gibt kein Gut, es gibt kein Böse, es gibt kein Schwarz, es gibt kein Weiß, es gibt Zahnlücken. Statt zu unterdrücken gibt's Erdbeereis auf Lebenszeit.
Gebt den Kindern das Kommando, sie berechnen nicht, was sie tun. Die Welt gehört in Kinderhände, dem Trübsinn ein Ende, wir werden in Grund und Boden gelacht, Kinder an die Macht.“

Damals, als Herbert Grönemeyer dieses Lied herausbrachte, machte er sich damit nicht nur Fans, sondern rief auch Ablehnung hervor. In einem Interview erzählte er einmal davon, dass er böse Briefe von Eltern bekommen hatte, die ihm schrieben: „Ich bringe Ihnen mal meinen Dreijährigen, und dann können Sie schauen, wie das Chaos das Kommando hat!“

Aber mir gefällt dieses Lied. Mich spricht es an: Die Welt aus ganz anderen Augen anschauen. Kindersicht einnehmen. Die ewigen Machtspiele der Erwachsenen hinter sich lassen. Kriege durch Aufessen lösen. Im Augenblick leben. Nicht gleich alles bewerten (Schwarz oder Weiß, Gut oder Böse), sondern sich des Momentes annehmen und die Zahnlücke bestaunen. Sich vom Erdbeereis leiten lassen. Von den Kindern lernen. Und auf diese Weise eine neue Form der Weltordnung erleben. Warum nicht. Ein Versuch ist es wert.

PredigttextVon den Kindern lernen, das schlägt Jesus auch seinen Jüngern vor. Wir lesen in Markus 10, 13 bis 16:
„Und sie brachten Kinder zu ihm, damit er sie anrühre. Die Jünger aber fuhren sie an.
Als es aber Jesus sah, wurde er unwillig und sprach zu ihnen: Lasset die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht, denn solchen gehört das Reich Gottes.
Wahrlich, ich sage euch: Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen.
Und er herzte sie und legte die Hände auf sie und segnete sie.“

Liebe Gemeinde, das ist eine sehr berührende Erzählung. Kinder, die erstmal zur Seite geschoben werden, keinen Platz unter den Erwachsenen haben. Übrigens, heute oft nicht anders als damals. Aber Jesus mischt sich ein. Er weist die Jünger zurecht und holt die Kinder herein. Er stellt sie in den Mittelpunkt: Sie sind es, denen das Reich Gottes gehört. „Nehmt euch ein Beispiel an ihnen!“ sagt er. Lernt von den Kindern!

Kinder als LehrerMit meinen Erstklässlern spreche ich gerne über diese Erzählung. Ich erkläre ihnen dann, dass Jesus den Erwachsenen gesagt hat, dass sie von den Kindern etwas lernen sollen. Also nicht die Erwachsenen sind Lehrer und die Kinder Schüler, sondern umgekehrt: Die Kinder sind die Lehrer. Und die Erwachsenen, also die Eltern und die Lehrer, müssen zuhören und lernen. Darüber wundern sich die kleinen Erstklässler jedes Mal. Sie sind ja gerade erst dabei, sich an den neuen Schulalltag zu gewöhnen. Da erstaunt die Möglichkeit, dass alles auch ganz anders sein könnte. Und dann überlegen wir gemeinsam, was es denn ist, was die Erwachsenen von den Kindern lernen können: Spielen, Malen, Singen, Hüpfen. Es gibt da einiges, was den Kindern dazu einfällt.
Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, wird nicht hineinkommen.

Eine andere ZeitzoneKinder leben im Jetzt. Ganz und gar. Kinder scheinen in einer anderen Zeitzone zu existieren als wir Erwachsenen. Davon können Eltern von kleinen Kindern ein Lied singen.

Eine typische Szene am Morgen, bevor es in den Kindergarten geht: Die Mutter schaut auf die Uhr und sieht, wie die Zeit voranschreitet. Aber die kleine Tochter begutachtet gerade in aller Ruhe die Socken, die sie anziehen soll. Sie freut sich über das Muster, über die Farben, zieht an dem kleinen Faden, der herausschaut. Die Mutter drängt weiter, nimmt die Socken in die Hand und zieht sie ihr an. Es gibt Tränen. Die Socken kommen wieder herunter. Das kleine Mädchen zieht sie selber an. Umständlich. Aber endlich sind sie da, wo sie hingehören: an den Füßen, die Ferse hinten. Und das kleine Mädchen ist unendlich stolz. Zum Beweis rennt sie mit den Socken erst einmal den Flur auf und ab. Die Mutter ist hin und her gerissen. Wenn sie rechtzeitig im Kindergarten sein wollen, müssen sie jetzt wirklich los. Andererseits findet sie es schlimm, die kleine Tochter schon jetzt in das enge Zeitkorsett unserer Zeit zwängen zu müssen, unter dem wir doch selbst so oft leiden. Wie wunderschön ist es, so wie das kleine Mädchen, Zeit als Geschenk wahrnehmen zu können, die Kleinigkeiten des Alltags zu sehen, zu schätzen, sich daran zu erfreuen. Wann geht diese Fähigkeit verloren? Wann hören wir auf, unsere Umgebung mit dieser Wertschätzung und dieser Freude wahrzunehmen? Die Schöpfung Gottes als ein riesiges Geschenk?

Nicht funktionieren, sondern leben!Ja, vielleicht meint Jesus genau das: Für das Reich Gottes muss ich lernen, im Hier und Jetzt zu leben. Mich hier an den Dingen zu freuen, die mir geschenkt sind. Hier und jetzt meinen Mitmenschen begegnen. Mich auf das Gespräch einlassen. Nicht in Gedanken schon wieder beim nächsten Termin sein. Und offen gesagt: Ich finde das unendlich schwer. Mir gelingt es selten. Mein Tag funktioniert nur, wenn er gut durchstrukturiert ist und alles seinen Platz hat. Ja, dann funktioniert mein Tag, dann funktioniere ich, dann funktionieren die Kinder. Und genau das ist der Punkt: Es geht Jesus eben nicht ums Funktionieren, sondern um das Menschsein. Geschöpf Gottes sein. Sich freuen am Geschenk des Lebens. Im Miteinander und Füreinander. Da ist das Reich Gottes auf einmal mitten unter uns.

Das Reich Gottes als KindAber noch ein ganz anderer Gedanke kommt mir:
Wir hören die Worte: „Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind“ in der Regel so, dass wir selbst zu Kindern werden sollen. Also: Wer das Reich Gottes nicht empfängt, so wie ein Kind das Reich Gottes empfangen würde.

Man kann diesen Satz grammatikalisch aber auch anders deuten: „Wer das Reich Gottes nicht empfängt, wie ein Kind“, also: wie wenn es ein Kind wäre – nämlich: das Reich Gottes. Auch so kann man den Satz verstehen. Wir sollen das Reich Gottes so empfangen, als wäre es ein Kind. Ein kleines Kind, das von uns auf den Arm genommen werden möchte. Auch das steckt in Jesu Worten: Das Reich Gottes annehmen, wie wenn es ein Kind wäre. Ein Kind, das angewiesen ist auf uns. Das darauf angewiesen ist, dass wir es in den Arm nehmen, behüten, nähren, trösten. Dass wir für es singen, ihm eine Gutenachtgeschichte vorlesen. Dass wir uns von ihm überraschen lassen, was ihm alles einfällt, dem Reich Gottes. Dass wir Verantwortung übernehmen. Verantwortung für das Reich Gottes. Es braucht uns. Es ist angewiesen darauf, dass wir ihm Raum geben. Dass wir geduldig sind. Dass es nicht alles auf einmal können muss, sondern dass es wachsen darf. Wir dürfen darauf vertrauen, dass das Reich Gottes, wie ein Kind, wächst, größer wird. Sich entfaltet. An Kraft gewinnt. Nicht sofort. Aber mit der Zeit.

Im Grunde ein weihnachtlicher Gedanke, auch wenn es schwer ist, bei diesen sommerlichen Temperaturen an Weihnachten zu denken: Gott kommt als Kind auf die Welt. Nicht als fertiger König oder Menschenretter. Sondern als Kind. Klein und schutzlos. Den Menschen ausgeliefert. Auf Liebe angewiesen.

Der Liebe Raum gebenDas ist ein anderes Reich als das, das sich die Staatsoberhäupter in unserer Welt heute vorstellen. Kein Reich, das mit Panzern beschützt werden muss und für das Armeen in den Krieg ziehen. Kein Reich, in dem Menschen achtlos links liegen gelassen werden. Dieses Reich ist anders. Eine neue Weltordnung. Ein Reich, das nicht auf Macht oder gar Gewalt aufbaut. In dem es nicht um Ansehen und ums Gewinnen geht. Sondern so wie Jesus es uns vorgelebt hat: Ohne äußere Sicherheiten ist er seinem Weg gefolgt. Allein auf Gott vertrauend. Oft ungewiss, wo er die Nacht verbringen wird. Und immer ganz bei den Menschen, die ihm begegnet sind. Das war seine große Gabe. So hat er sich ausgeliefert. Ein Reich, das auf Ohnmacht aufbaut. Ein Reich, in dem die Liebe Raum bekommt, die Liebe sein darf und zum Blühen kommt.

Das Reich Gottes annehmen, wie wir ein Kind aufnehmen. Das macht Mut, dass Gott uns so ernst nimmt. Dass Gott das Beste in uns weckt. Das, was wir zu geben haben, das, womit wir andere stark machen können, unsere Liebe, die ist hier gefragt.

Heute geht es um die Kinder, hatte ich gesagt. Um die Kinder, mit denen wir leben. Um das Kind, das Sie selbst einmal waren. Um das Kind, das in Ihnen ist. Um das Reich Gottes, das mitten unter uns ist und spielt und weint und lacht. Und wächst. Um die Liebe, die wir zu geben haben. Die wir geschenkt bekommen. Die uns umfängt und trägt.

Amen.





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