6. Sonntag nach Trinitatis (27. Juli 2025)
1. Petrus 2,2–10
IntentionDie Predigt soll Lust und Mut machen, inmitten der Frustration über das Schrumpfen unserer Kirche Festgefahrenes hinter sich zu lassen und Kirche gemeinsam neu zu denken. Das Motiv der lebendigen Steine regt an, gemeinsam nach der Zukunft der Kirche zu fragen: Was macht Kirche aus? Wie erträumen wir uns das „Gebäude“ in Zukunft? Und wo sehen wir uns selbst darin?
Alten Steinen nachspürenUnter der Handfläche ist das Mauerwerk rau und kalt. Ich stehe in einer alten Kirche. Es ist dunkel und still. Die Luft ist kühl und etwas modrig. Vielleicht ist es unsere Kirche, in der wir heute Gottesdienst feiern. Ich lade Sie ein, mit mir auf eine Reise zu gehen: zur Architektur dieses Gebäudes, zu seinen Formen und Farben. Eine Reise in die Zukunft der Kirche. Mit meinen Händen streiche ich über die Steine. Unverrückbar stehen sie hier schon seit Jahrhunderten als Zeugen. Sie haben die vielen Gebete gehört, im Chor lamentiert und leise gemurmelt. Die gregorianischen Gesänge, die schillernden Bach-Kantaten und die vertrauensvollen Lieder Paul Gerhardts. Sie haben all die glücklichen, verzweifelten, gelangweilten Menschen gesehen, die eingetreten sind mit ihrem Hunger. Ihrer Suche nach Gott. Begierig nach Leben. Ich lese aus dem 1. Petrusbrief (2,2-10):
„Seid begierig nach der vernünftigen lauteren Milch wie die neugeborenen Kindlein, auf dass ihr durch sie wachset zum Heil, da ihr schon geschmeckt habt, dass der Herr freundlich ist. Zu ihm kommt als zu dem lebendigen Stein, der von den Menschen verworfen ist, aber bei Gott auserwählt und kostbar. Und auch ihr als lebendige Steine erbaut euch zum geistlichen Hause und zur heiligen Priesterschaft, zu opfern geistliche Opfer, die Gott wohlgefällig sind durch Jesus Christus.
Darum steht in der Schrift: ‚Siehe, ich lege in Zion einen auserwählten, kostbaren Eckstein; und wer an ihn glaubt, der soll nicht zuschanden werden.‘ Für euch nun, die ihr glaubt, ist er kostbar. Für die aber, die nicht glauben, ist er ‚der Stein, den die Bauleute verworfen haben; der ist zum Eckstein geworden‘ und ‚ein Stein des Anstoßes und ein Fels des Ärgernisses‘. Sie stoßen sich an ihm, weil sie nicht an das Wort glauben, wozu sie auch bestimmt sind. Ihr aber seid ein auserwähltes Geschlecht, ein königliches Priestertum, ein heiliges Volk, ein Volk zum Eigentum, dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat aus der Finsternis in sein wunderbares Licht; die ihr einst nicht sein Volk wart, nun aber Gottes Volk seid, und einst nicht in Gnaden wart, nun aber in Gnaden seid.“
Kirche – ein Mauerwerk mit RissenIm Mauerwerk unter meiner Hand ertaste ich zarte, kaum spürbare Risse, aber auch beängstigend große Brüche. Vor meinen Augen tauchen die Gemeindehäuser, Pfarrhäuser und Kirchen auf, die zu groß geworden sind für eine immer kleiner werdende Gemeinde und wohl in naher oder ferner Zukunft verkauft oder zweckentfremdet werden müssen. Die mit so vielen Erinnerungen und Herzblut verbunden sind. Ich spüre die Ratlosigkeit, den Frust und die Wut. Diese alten Zeugen unseres Glaubens werden zu einem toten Gerippe erklärt. Die Steine im Mauerwerk knirschen, das Gebäude scheint zu wanken. Wie lassen sich die alten Steine neu mit Leben füllen?
Kirche – eine Gemeinschaft der HungrigenDa wird das Knirschen der Kirchenmauern übertönt vom Geschrei eines hungrigen Babys. „Seid begierig nach der vernünftigen lauteren Milch wie die neugeborenen Kindlein.“ Das gierige Schmatzen eines Neugeborenen füllt den Raum. Ihr seid wie Kinder auf Zuwendung und Fürsorge angewiesen, heißt es in diesem Brief an Christinnen und Christen vor langer Zeit. Gierig wie hungrige Babys füllt ihr die alten Steine mit neuem Leben. Als „heilige Priesterschaft“, einem Haufen von Menschen, die gemeinsam ihrem Hunger nach Leben, ihrer Sehnsucht nach Heimat folgen. Die Lust haben auf den Geschmack der Liebe Gottes. Die Gott so ihr „heiliges Opfer“ bringen. Für die diese Suche nichts Zweitrangiges ist. Weil sie wissen, dass sie angewiesen sind auf die Zuwendung Gottes. Habe ich Hunger auf Gottes Wort? Und schmeckt mir das immer?
Kirche – ein buntes Haus aus lebendigen Steinen„Und auch ihr als lebendige Steine erbaut euch zum geistlichen Hause.“ Wir sollen nicht nur unseren Hunger mitbringen, sondern auch die Steine dieser Kirche sein. Da gleicht kein Stein dem anderen, jeder hat seine ganz speziellen Ecken und Kanten. Wer daraus ein Bauwerk formen will, muss kreativ und flexibel sein. Aber vor allem braucht es Mut, immer wieder Neues auszuprobieren. Kirche ist kein starres, unbewegliches Gebäude. Kirche soll ein Raum sein, in dem Menschen sich einbringen können mit ihren Gaben, Ideen und Visionen. Ein Raum, in dem das mit anerkennendem Blick gewürdigt wird. Die einzelnen Steine sorgen dafür, dass das Gebäude stehen bleibt. Sie halten der Witterung stand und lassen sich nicht von jedem Windhauch umblasen. Sie stützen sich gegenseitig. Wo sehe ich mich selbst in diesem Bauwerk? Der Brief macht Mut: Gott hat euch durch die Taufe zu einem Teil seiner Kirche gemacht. Gemeinsam wachst ihr über euch hinaus.
Kirche – eine chaotische BaustelleZärtlich streiche ich über die brüchigen Steine. Sie wecken eine traurige Wehmut in mir. Doch dann höre ich: „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben; der ist zum Eckstein geworden.“ Eines bleibt: unser Glaube an Jesus Christus, der uns verbindet und alles zusammenhält. Egal, wie chaotisch die Baustelle wirkt. Ich sehe Gott mit Bleistift über dem Bauplan seiner Kirche sitzen. Er hat dabei ein verschmitztes Lächeln auf den Lippen. Weil seine Ideen meine Ängstlichkeit und Borniertheit durcheinanderwirbeln. Im Vertrauen auf diesen kostbaren Stein muss ich lernen, munter Ja zum Abbruch zu sagen, um Neues zu ermöglichen. Ich träume von einer Kirche mit offenen Türen. In der gemeinsam nach Gott gesucht und gefragt wird. In der nicht alle auf das Wort der Pfarrerin warten und in der die nicht meint, das letzte Wort zu haben. Vielleicht kommen die Bänke raus und Sofas rein. Vielleicht steht darin eine lange Tafel, an der wir gemeinsam essen und uns das Wort Gottes auf der Zunge zergehen lassen. Vielleicht ist Kirche der Bauwagen mit Kreuz und Altar, der durch die Dörfer fährt und bei Wind und Wetter die Wiese zur Kirche macht. Vielleicht wird aus den Steinen eine Herberge, in der Menschen sich stärken können. Und vielleicht hat Gott noch ganz andere Pläne damit.
Kirche – ein StolpersteinMeine Wehmut ist verflogen, weil ich merke: So weh es tut, wir brauchen diese alten Steine nicht. Kirche ist ein buntes, lebendiges Gebäude, das von außen krumm und schief aussehen mag. Kirche ist ein Stein des Anstoßes. Vielleicht sind wir manchmal zu sehr damit beschäftigt, verzweifelt zu überlegen, wie wir die Kirchenbänke wieder füllen können. Und verlieren dabei den Auftrag der Kirche aus dem Blick: „Dass ihr verkündigen sollt die Wohltaten dessen, der euch berufen hat.“ Jesu Leben und seine Botschaft sind für mich mehr Stolperstein als süße Milch. Kirche in der Nachfolge Jesu heißt nicht, bleibende Gebäude zu hinterlassen. Es heißt nicht, die eigene Größe und Macht erhalten zu wollen, sondern den Blick aufs Kreuz zu richten. Nicht in Immobilien zu investieren, sondern in Menschen. Die Mauern zu überwinden, rauszugehen auf die Marktplätze und den Menschen die Füße zu waschen.
Neues Leben in toten SteinenDas Mauerwerk unter meiner Hand ist warm geworden. Da stößt ein frischer Wind die Kirchentür auf. Die Sonne bahnt sich ihren Weg bis nach vorne zum Kreuz. „Der Stein, den die Bauleute verworfen haben, ist zum Eckstein geworden.“ Kirche wird überleben. Aber vielleicht wird sie kleiner, profilierter, anders. Inmitten der alten, brüchigen Steine scheint etwas auf. Die Erinnerung an einen Gott des Lebens, den wir nicht fassen können mit überkommenen Strukturen. Durch die Tür treten Menschen, „berufen aus der Finsternis in sein wunderbares Licht“. Sie treten ein in diesen Raum voller Möglichkeiten, gehen über das bisher Bekannte hinaus. Menschen, die das Leben feiern wollen – und Gott. Mit alten, bewährten Gebeten und neuen und eigenen Liedern. Menschen mit glücklichen, verzweifelten und gelangweilten Gesichtern. Sie haben ihren Alltag unterbrochen. Sie sind eingetreten mit ihrem Hunger. Ihrer Suche nach dem Reich Gottes. Begierig nach Leben. Amen.
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