9. Sonntag nach Trinitatis (17. August 2025)

Pfarrer i.R. Dr. Gerhard Schäberle-Koenigs, Bad Teinach-Zavelstein [gerhard.schaeberle-koenigs@web.de]
Philipper 3,7-14
IntentionDie Predigt ermutigt die Hörenden, ihr Christenleben als ein Leben im Fluss, im Übergang zu verstehen, nicht als fertig. Das Selbstzeugnis des Paulus ist ein mutmachendes Beispiel dafür.
Aus dem Gleis geworfenLiebe Gemeinde, der Apostel Paulus wurde durch Christus auf eine neue Spur gesetzt. Er war zuvor im Übereifer unterwegs gewesen, um Leute aufzuspüren, die an Jesus glaubten. Das war sein Lebensinhalt: das Volk Gottes zu säubern von abtrünnigen Elementen. Und auf dieser Spur war er unbeirrbar.
Bis ihn Christus aus diesem Gleis herausgeworfen und seinem Leben eine ganz andere Ausrichtung gegeben hat. „Verbreite das Evangelium unter den Völkern“, das sollte der neue Lebensinhalt des Paulus werden.
Etliche Jahre später hat er in einem Brief an die Gemeinde in Philippi ein paar Sätze dazu geschrieben.
Lesen des Predigttextes Philipper 3,7-14:
„Aber was mir Gewinn war, das habe ich um Christi willen für Schaden erachtet. Ja, ich erachte es noch alles für Schaden gegenüber der überschwänglichen Erkenntnis Christi Jesu, meines Herrn. Um seinetwillen ist mir das alles ein Schaden geworden, und ich erachte es für Dreck, auf dass ich Christus gewinne und in ihm gefunden werde, dass ich nicht habe meine Gerechtigkeit, die aus dem Gesetz, sondern die durch den Glauben an Christus kommt, nämlich die Gerechtigkeit, die von Gott kommt durch den Glauben. Ihn möchte ich erkennen und die Kraft seiner Auferstehung und die Gemeinschaft seiner Leiden und so seinem Tode gleich gestaltet werden, damit ich gelange zur Auferstehung von den Toten.
Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin. Meine Brüder und Schwestern, ich schätze mich selbst nicht so ein, dass ich’s ergriffen habe. Eins aber sage ich: Ich vergesse, was dahinten ist, und strecke mich aus nach dem, was da vorne ist, und jage nach dem vorgesteckten Ziel, dem Siegespreis der himmlischen Berufung Gottes in Christus Jesus.“
Ich hab's noch nicht ergriffenPaulus reiste viel. Zu Fuß, mit dem Schiff. Er gründete christliche Gemeinden. Er besuchte Gemeinden rund um das Mittelmeer. Er war rastlos wie früher. Aber sein Ziel war nicht mehr, christliche Gemeinden aufzuspüren und ihre Mitglieder vor Gericht zu bringen. Sein neues Ziel, sein Lebensinhalt war es jetzt, christliche Gemeinden zu stärken. Er wollte sie trösten, und ihnen deutlich machen, wie kostbar ihr neues Leben im Glauben an Jesus Christus ist. Er hat ihnen die Tür zum Himmelreich geöffnet und den Tod überwunden.
Im Philipperbrief im 3. Kapitel können wir lesen, wie er sein neues Leben sieht:
„Ich hab’s noch nicht ergriffen.
Ich bin darin noch nicht vollkommen.
Ich jage ihm aber nach,
ob ich’s wohl ergreifen könnte,
denn ich bin von Christus ergriffen.“
Das neue Leben des Paulus. Er kann’s noch gar nicht fassen. Es ist noch nicht seins. Es ist ihm noch fremd. Aber er will begreifen, auf was für eine Lebensspur ihn Christus gesetzt hat. Schritt für Schritt läuft er dem Ziel entgegen. Wie weit der Weg ist, das weiß er noch gar nicht.
Es muss was dazwischenkommenGibt’s das, so eine radikale Umstellung eines Lebens? Vielleicht haben Sie den Einen oder Andern vor Augen, dem sie das von Herzen wünschen würden. Dass einer von seinem verkehrten Leben abkehrt, und so sich selbst und seiner Umgebung viel Schlimmes erspart. Aber meistens geht das nicht aus eigenem Antrieb. Es muss was dazwischenkommen.
Es gibt solche Menschen, z.B. Markus: Er war in der Finanzbranche tätig. Es passiert immer wieder, dass Menschen aus dieser Branche brutal aus der Bahn geworfen werden. So auch dieser Markus. Er sagt: Ich bin jetzt ein ganz neuer Mensch.
Früher war mein Leben wie eine Eisenbahn, die stur immer den gleichen Kreis gefahren ist. Runde um Runde. Das ist eigentlich langweilig. Aber ich hab’s nicht gemerkt. Ich war besessen von meiner Arbeit. Ich hatte für nichts anderes Zeit. Denn ich wollte vorankommen. Ich wollte der Beste sein. Der mit den meisten Vertragsabschlüssen, mit den meisten Provisionen. Ich wollte oben sein und alle andern unter mir lassen. Manchmal habe ich auch ein bisschen nachgeholfen.
Ich bildete mir ein, ich hätte ein großes Ziel, dabei war mein Leben wie eine Eisenbahn, die nur einen einzigen Kreis fahren kann.
Und dann kam auf einmal alles anders. Ich hab’s gar nicht gleich beachtet. Es fing an mit einem Stechen in der Brust. Immer wieder.
Bis zu dem Morgen, an dem mir schwarz vor Augen wurde. Mehr weiß ich nicht mehr.
Meine Erinnerung setzt erst wieder damit ein, dass mir jemand sagte: Sie sind überm Berg. Es wird wieder gut. Ich war im Krankenhaus.
Seither lebe ich ein neues Leben. Ich bin aus dem Gleis geworfen worden und auf eine neue Spur gesetzt.
Das Alte habe ich hinter mir gelassen. Ich traure ihm nicht nach. Aber das Neue habe ich noch nicht ganz ergriffen. Ich bin ja noch nicht weit. Erst ein paar Schritte. Aber ich will auf diesem Weg weitergehen. Auch wenn er noch fremd ist für mich.
Und – fügt er an – Mein Leben ist schon viel reicher geworden. Die Arbeit ist zwar auch wichtig, aber sie hat jeden Tag auch ein Ende. Ich hab Zeit für Menschen, die mir wichtig sind. Ich kann mich mit anderen unterhalten, ohne dass ich dauernd nervös nachschauen muss, wie meine Geschäfte laufen. Ich brauch auch nicht Angst zu haben, dass meine krummen Dinger auffliegen. Sie sind eh alle rausgekommen. Ich bin noch dabei, dieses neue Leben zu fassen.
Im beruflichen Leben gibt’s das immer wieder, dass jemand aus der Bahn geworfen wird, und für sein Leben eine neue Spur finden muss, wenn er weiterleben will.
Im persönlichen Leben gibt’s das auch. Und oft ist eine Krankheit der letzte Auslöser dafür, dass zusammenbricht, was schon längst keinen Halt mehr hatte.
Bei Paulus waren es seine in Stein gemeißelte Glaubensüberzeugungen, die plötzlich zerbröselten, als Jesus ihn ergriff. Da ist er wie vom Pferd gefallen, und war erst mal blind.
Er war blind. Jetzt sieht er wiederJetzt sieht er wieder. Er lebt ein neues Leben. Aber Jahre später kann er noch sagen: Ich hab’s noch nicht ergriffen. Ich kann’s noch nicht fassen. Man kann auch sagen: Er hat noch nicht den Griff gefunden, den Henkel am Krug.
Es ist vielleicht so, wie wenn Sie einen Krug mit einer ganz glatten Oberfläche fassen wollen und daraus trinken. Solange Sie den Henkel nicht zu fassen kriegen, wird’s Ihnen nicht gelingen.
Das ist durchaus ein Bild für unseren Glauben. Wir wissen viel davon. Wir haben manches gelernt. Wir wissen von Jesus und kennen seine Geschichten, und viele seiner Worte. Wir haben auch schon Erfahrungen gemacht. Glaubenserfahrungen und Zweifelserfahrungen. Aber haben wir’s wirklich ergriffen, was unseren Glauben im Innersten ausmacht? Oder entgleitet er uns immer wieder?
Das Entscheidende, der Henkel sozusagen, um das Ganze zu fassen, ist dies eine: Gott schaut dich freundlich an, noch bevor du etwas geleistet hast. Und nicht erst, wenn du gezeigt hast, wie toll du bist. Jesus hat das in seinen Erdentagen immer wieder selbst gezeigt.
Das ist schwer zu fassen. Oder wie Paulus sagt: Ich hab’s nicht ergriffen. Ich bin damit noch nicht fertig. Aber ich jage ihm nach. Irgendwann muss es mir doch aufgehen, dass ich mein Leben ganz in Gottes Hand legen kann. Irgendwann brauch ich nicht mehr darüber zu grübeln: Was muss ich tun, damit er seine Hand auftut?
Christen leben zwischen den ZeitenAls Christen können wir von Paulus lernen. Wir leben ein Leben im Übergang. Wir sehen das Böse in der Welt. Wir sehen, wie furchtbar Menschen miteinander umgehen. Wir sehen auch, wie alles, was gut und schön ist – weil Gott es gut und schön geschaffen hat – den sogenannten Gesetzen des Marktes ausgeliefert wird: die Pflanzen und die Tiere, der Boden, die Luft, das Wasser. Wir sehen, wie das Alles dem Streben nach Reichtum und Gewinn geopfert wird – und sind bisweilen auch mitbeteiligt daran. Wir sind täglich den pausenlosen Verlockungen eines angeblich besseren, bequemeren, zeitgemäßeren Lebens ausgesetzt. Wir geben ihnen mehr oder weniger nach.
Und zugleich wissen wir: Christus hat uns eine ganz neue Art des Lebens in Aussicht gestellt. Es ist nicht das Paradies des vollendeten technischen Fortschritts. Es ist ein Leben in Frieden. Nicht heimatlos, sondern beheimatet im Frieden mit Gott, im Frieden auch mit uns selbst, im Frieden mit den Menschen um uns und mit allen Kreaturen der Schöpfung.
Mit Paulus wissen auch wir, dass wir dieses versprochene neue Leben noch nicht ergriffen haben. Wir haben es noch nicht einmal im Kopf begriffen. Wir haben da noch manche Etappen vor uns. Wir leben noch im Übergang. Und so ein Leben im Übergang, das kann gar nicht rechthaberisch sein. Keiner von uns hat die Wahrheit mit Löffeln gefressen. Darum können wir nachsichtig sein, gegenüber denen, die anders denken und gegenüber uns selbst. Wir können auch Fehler eingestehen und falsche Wege verlassen, ohne Angst. Denn die neue Welt ist noch im Werden. Wie sie ist, wird uns noch gezeigt werden. Und dann werden wir staunen und vielleicht auch miteinander darüber lachen, wie klein und dürftig wir von ihr gedacht haben.
Ich denke, auch wir sind noch unterwegs dahin. Auch wenn wir nicht wie Paulus sagen würden: Ich jage ihm nach, dem großen Ziel.
Jedenfalls: An diesem Ziel wartet Großes. Nämlich dann, wenn wir vor Gottes Angesicht stehen und das Unfassbare hören:
Du bist am Ziel. Du hast gewonnen. Christus hat für dich den Sieg davongetragen. Komm in mein ewiges Reich. Amen.
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