Altjahresabend (31. Dezember 2019)

Autorin / Autor:
Prälatin Gabriele Wulz, Ulm [praelatur.ulm@elk-wue.de]

Hebräer 13, 8-9

IntentionAn der Schwelle zum neuen Jahr geht der Blick zurück. Die Predigt will – auf dem Hintergrund von Hebräer 13, 8-9b – Zeit und Ewigkeit in Beziehung setzen. Christus ist derselbe: gestern, heute und in Ewigkeit.

Was gewesen ist, liebe Gemeinde, ist gewesen. Was versäumt wurde, ist versäumt. Was gelungen ist, ist gelungen.
So scheint’s – und ist doch nicht wahr.
Denn was gewesen ist, kommt wieder zum Vorschein. Was verdrängt wird, will ans Licht. Was versäumt wurde, kann vergeben werden. Was gelungen ist, kann sich als Niederlage erweisen.
Nichts ist vorbei, das lehrt das Leben. Und deshalb kann auch das Zerbrochene wieder heil werden. Die geheilten Wunden können wieder aufbrechen, und aus begrabenen Hoffnungen kann neues Leben auferstehen.

Mit der Zeit verhält es sich merkwürdig. Einerseits verrinnt sie und vergeht wie im Nu. Tag für Tag – als flögen wir davon.
Und doch ist nichts vorbei. Alles kommt wieder.
Nicht nur in der Mode. Auch die Erinnerungen. Plötzlich sind sie da. Stehen vor Augen – und mit ihnen alles Leid und alle Freud.
Der Prediger Salomo sagt: Was geschieht, das ist schon längst gewesen, und was sein wird, ist auch schon längst gewesen; und Gott holt wieder hervor, was vergangen ist. (Pred 3, 15)

Am letzten Tag des Jahres, liebe Gemeinde, können wir mit solchen Gedanken etwas anfangen. Wir spüren ja heute etwas von der Zeit und von ihrer Eigenart. Wir spüren das Vergehen und das Bleiben. Im Blick zurück findet zusammen, was war, was ist und was sein wird.
Wir blicken zurück auf die Tage des vergangenen Jahres und überlegen, was das neue bringen wird. Bilanzen und Prognosen gehören zu diesem Abend. Vermischt mit etwas Wehmut. Das also war 2019 – schon fast verflogen, fast vorbei.

Im Gottesdienst erlauben wir uns mehr und anderes als in den vielen Jahresrückblicken der vergangenen Tage.
Im Gottesdienst am Altjahrabend sprechen wir aus, dass unser Leben vergeht, weil alles Leben eine Grenze hat und Grenzen kennt. Am Altjahrabend beten wir Psalm 90 und singen von des Jahres Last, das in Segen verwandelt werden möge.
Am Altjahrabend schauen wir auf die uns anvertraute Zeit und bekennen, dass sie uns von Gott gegeben und Teil seiner Ewigkeit ist.
Ein Stück dieser Ewigkeit ist uns zugeteilt.
Gott aber ist von Ewigkeit zu Ewigkeit und hält unser Leben in seiner Hand. Er erinnert sich an uns und holt hervor, was vergangen ist.

Ein Wort aus dem Hebräerbrief begleitet uns heute auf der Schwelle vom alten zum neuen Jahr. Ein Vers – ursprünglich an eine ermattete, ermüdete Gemeinde gerichtet – will verzagte Herzen stark machen.
Ich lese aus dem 13. Kapitel des Hebräerbriefs (VV 8 bis 9b):
„Jesus Christus gestern, heute und derselbe auch in Ewigkeit. Lasst euch nicht durch mancherlei fremde Lehren umtreiben, denn es ist ein köstlich Ding, dass das Herz fest werde, welches geschieht durch Gnade.“

Ein festes Herz, liebe Gemeinde, das ist ein „köstlich Ding“. Diejenigen, bei denen das Herz seinen Rhythmus verloren hat, werden das nur bejahen können.
Aber auch die, die im Herzen den Sitz der Persönlichkeit sehen, werden zustimmen. Denn wer ein festes Herz hat, der ist eine stabile Persönlichkeit. Der besitzt eine innere Struktur und Beständigkeit, die von den Aufgeregtheiten der Zeit nicht aus der Ruhe gebracht werden kann.
Ein festes Herz, das ruhig und sicher schlägt, verlässlich ist und nicht aus dem Takt kommt, ist ein „köstlich Ding“. „Köstlich“, weil es gut ist. Weil es dem Leben guttut, wenn es im Takt bleibt und seinen Rhythmus kennt.

Es hat ja auch im vergangenen Jahr vieles gegeben, was uns aus dem Gleichgewicht gebracht hat oder aus dem Gleichgewicht hätte bringen können.
Vieles, das unser Herz schneller schlagen und aus dem Tritt kommen ließ. Vieles, was uns schwer beunruhigt hat und zu Herzen gegangen ist.
Wir haben so viel gehört. So viel gesehen.
Menschen und Ereignisse haben unsere Aufmerksamkeit beansprucht. Dazu die Kommentare aus dem Netz. Immer knapper, immer verkürzter werden die Botschaften. Die Wahrheit bleibt da oft genug auf der Strecke.
Wie kann da ein Herz fest werden? Oder gar fest bleiben?

Das Herz meint in der Bibel nicht nur die Klarheit des Verstandes und die Kraft des eigenen Willens. Das auch. Aber eben noch viel mehr.
Das Herz meint den Personenkern. Die Mitte meiner Existenz. Das Herz ist der Ort meiner Wünsche, meiner Gedanken, meiner Ängste, meiner Entscheidungen.

Es kann deshalb in einem Herzen sehr ordentlich und akkurat zugehen, und doch bleibt das Herz unruhig.

Es kann sein, dass ein Herz ganz klar weiß, was richtig und was falsch ist, und kann genau darüber hart werden. Wer nur die Klarheit kennt, aber keine Barmherzigkeit, wer nur Prinzipien hat, aber keine Freiheit, der richtet viel Schaden an.

Und schließlich kann es sein, dass das Herz starr wird und unbeweglich. Das tut niemandem gut.
Umso köstlicher ist deshalb das feste Herz, das gegründete, das gefasste Herz.
Und das geschieht – so der Hebräerbrief – durch Gnade.
Genauer: durch Gottes Gnade. Das feste Herz ist also ein Geschenk Gottes an uns.

Liebe Gemeinde,
Gott stellt uns seinen Sohn vor Augen. Jesus Christus gestern, heute und derselbe auch in Ewigkeit. Er allein ist in allen Zeiten derselbe und redet nicht heute so und morgen ganz anders. Alle unsere Zeiten sind in Jesus Christus aufgehoben. Er ist von Ewigkeit zu Ewigkeit. In ihm findet auch unsere kleine Lebenszeit ihren Ort.

Jesus Christus gestern, heute und derselbe auch in Ewigkeit.
Im Gestern hat Jesus Christus für die Menschen gehofft und gekämpft, hat gelehrt und geheilt, ist sich selbst und dem Vater im Himmel treu geblieben und war gehorsam. Bis zum Tod am Kreuz.
Im Heute ist er da. Als der Auferstandene. Bei seinem Volk. Und kommt auch noch heute, wie es in einem Adventslied der Böhmischen Brüder heißt, „zu lehren die Leute“ (EG 5, 2). Und so wie er kommt, wie er auch heute kommt, ist er derselbe, trägt die Wunden an sich, hat die Schmerzen der Vergangenheit nicht verdrängt und nicht vergessen. Als derselbe tritt er unter uns und sagt: Friede sei mit euch.
Und in Zukunft wird er kommen, um den Tod endgültig zu besiegen, die Tränen für immer abzutrocknen und dem Leid und dem Geschrei ein Ende zu machen,

Jesus Christus gestern, heute und derselbe auch in Ewigkeit.
Sein Bild steht uns vor Augen, seine Gegenwart schenkt uns Frieden, seine Zukunft heilt das Zerrissene und Zerbrochene. So wird unser Herz fest.
Getragen von dieser Zuversicht gehen wir hinüber ins neue Jahr.
Denn der, der die Zeit in Händen hat, der nimmt auch dieses Jahres Last und wandelt sie in Segen.
Amen.

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