Altjahresabend (31. Dezember 2022)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Dr. Stefanie Wöhrle, Tübingen [stefanie.woehrle@elkw.de]

Römer 8,31-39

IntentionIn der Predigt wird Rückschau auf das zu Ende gehende Jahr gehalten. Dabei werden die schweren, besorgniserregenden und auch schmerzhaften Ereignisse und Erfahrungen, die gemacht wurden, klar benannt. Die von Paulus (vor allem in den Versen 35-39) formulierte Zuversicht der Gewissheit, dass Gottes Liebe durch nichts zu zerstören ist, durchzieht die Predigt wie ein Refrain, der sich fest einprägt. Diese Worte sollen zum Begleiter für das Neue Jahr werden, egal, was kommt.
Nach der Predigt: Von guten Mächten wunderbar geborgen (EG Wü, 541)

8,31b Ist Gott für uns, wer kann wider uns sein? 32 Der auch seinen eigenen Sohn nicht verschont hat, sondern hat ihn für uns alle dahingegeben – wie sollte er uns mit ihm nicht alles schenken? 33 Wer will die Auserwählten Gottes beschuldigen? Gott ist hier, der gerecht macht. 34 Wer will verdammen? Christus Jesus ist hier, der gestorben ist, ja mehr noch, der auch auferweckt ist, der zur Rechten Gottes ist und für uns eintritt.
35 Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? 36 Wie geschrieben steht (Ps 44,23): »Um deinetwillen werden wir getötet den ganzen Tag; wir sind geachtet wie Schlachtschafe.«
37 Aber in dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. 38 Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, 39 weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.

365 Tage im Rückblick – so viel Angst, Not und Leid365 Tage. Da liegen sie, die Tage des zu Ende gehenden Jahres, wie eine Landschaft, in die sich Ereignisse und auch Gefühle hineingebrannt haben. Wir fliegen darüber, blicken hinunter. Da sind sanfte Hügel, aber auch steile, hohe Berge, zwischen denen sich tiefe Schluchten auftun. Der Angriff Russlands auf die Ukraine türmt sich auf wie ein hoher, steiler Felsen. Das Leid der Menschen, die vor den Bomben und den Panzern fliehen und ihre Häuser verlassen und tage-, ja wochenlang in Bunkern oder U-Bahnstationen verbringen, ist uns nahe gegangen und erschüttert uns immer noch. Der Krieg hat uns in Angst und Schrecken versetzt. Selten war uns eine militärische Bedrohung so vor Augen. Wir blicken in den tiefen Abgrund menschlicher Machtphantasie, Habgier und rücksichtsloser Gewaltbereitschaft. Ratlosigkeit macht sich breit. Denn niemand weiß, wie lange dieses grausame Treiben noch weitergehen wird und wann endlich so etwas wie Frieden herrschen wird.
Zu der Erschütterung über das Leid der Opfer von Krieg und Gewalt kommen die Sorgen um die Energieversorgung im eigenen Land. Werden wir genug Gas in unseren Vorratsspeichern haben? Wo gibt es sichere und zuverlässige Quellen für die Versorgung mit Energie? Und schließlich: Wird unser Einkommen ausreichen, um die gestiegenen Energiekosten bezahlen zu können? Wir sehen Städte und Dörfer, in denen es dunkel ist. Die Straßenlaternen brennen nicht mehr die ganze Nacht und auch die Weihnachtsbeleuchtung war nicht so hell und schillernd wie sonst. Menschen stehen in langen Schlangen vor den Tafelläden in unseren Städten und hoffen, dort Brot, Gemüse und Obst zu bekommen. Familien sitzen in ihren Stuben. Sie wissen nicht, wie es weitergehen soll. Woher soll das Geld kommen, um die gestiegenen Preise bezahlen zu können?
Wir blicken auf Straßen und Plätze, auf denen sich Menschen endlich wieder treffen können. Wir haben Stadtfeste gefeiert und konnten einigermaßen unbeschwert über die Weihnachtsmärkte schlendern. Doch auch in den vergangenen zwölf Monaten konnte das Corona-Virus immer noch nicht besiegt werden. Menschen werden immer noch krank. Vielleicht nicht immer so schlimm und so lebensbedrohlich wie im letzten Jahr. Aber die Gefahr einer Ansteckung und Erkrankung ist immer noch nicht vorbei. Viele Menschen sind unsicher und bleiben lieber im Schutz ihrer eigenen vier Wände. Sie ziehen sich zurück und leiden unter der Einsamkeit.
Wir fliegen weiter und unser Blick fällt auf schmelzende Gletscher und tote Bäume. Der Rauch von Kohlekraftwerken steigt in die Luft und eine Blechlawine von Autos zieht sich durch die Landschaft. Unsere Erde ist schwer verwundet und wir fragen uns: Was können wir dem Klimawandel entgegensetzen? Was für eine Welt werden wir den kommenden Generationen überlassen? Alle Versuche, die Erderwärmung einzudämmen, laufen ins Leere. Wir blicken besorgt in die Zukunft.
In den Meeren, die sich am Horizont abzeichnen, sammeln sich die Tränen, die wir in diesem Jahr geweint haben: Um geliebte Menschen, die gestorben sind, über Schicksalsschläge, die uns getroffen haben.
365 Tage. Eine Landschaft mit steilen, hohen Bergen, dunklen Städten und Häusern, zerstörter Natur und endlos scheinenden Tränenmeeren. Da ist allerorten so viel Trübsal, Angst, Verfolgung, Hunger, Blöße, Gefahr und Schwert, wie Paulus es zusammenfassen würde. Und wir fragen mit ihm: Was sollen wir hierzu sagen? Gibt es noch Hoffnung für das kommende, das neue Jahr? Oder können wir nur klagen und langsam, aber sicher verzweifeln?

Egal welche Not – Gottes Liebe ist größer„Wer will uns scheiden von der Liebe Christi? Trübsal oder Angst oder Verfolgung oder Hunger oder Blöße oder Gefahr oder Schwert? In dem allen überwinden wir weit durch den, der uns geliebt hat. Denn ich bin gewiss, dass weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur uns scheiden kann von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ (Römer 8,35.37-39)
Die Antwort des Paulus ist klar. Egal, welche Not wir erleiden, egal, welche Ereignisse uns erschrecken: Gottes Liebe ist größer. Aller Not setzt Paulus die Liebe entgegen. Die Liebe, die immer schon war und immer noch ist. Die Liebe, die immer sein wird und nie vergeht.
Die Liebe Gottes ist unzerstörbar. Kein hoher Sorgen- und Kummerberg, kein tiefster Abgrund menschlicher Schrecken, kein Tränenmeer können ihr etwas anhaben, sie kleiner machen oder gar auslöschen. Paulus kann dies als Gewissheit formulieren, weil er in seinem eigenen Leben schon so viel Schreckliches erlebt hat und sich trotzdem getragen, gehalten und bewahrt wusste von Gott und seiner Liebe zu uns Menschen.

Menschen gehen aufeinander zu und sind füreinander daDiese Gewissheit hat nicht nur Paulus. Da gibt es diejenigen, die die Schrecken des Zweiten Weltkrieges am eigenen Leibe erfahren haben. Diejenigen, die den Verlust ihrer Arbeit oder das Enden ihrer Beziehung als Scheitern erlebt haben. Es gibt die, die den Groschen immer zweimal rumdrehen mussten, um über die Runden zu kommen. Und es gibt die, die schon so manchen geliebten Menschen in ihrem Leben verloren haben und daran fast zerbrochen sind. Und immer wieder haben wir erfahren: Trotz aller Trübsal und Angst, trotz aller Not und Gefahr: wir bleiben am Leben, wir halten durch und ja, wir empfinden auch so etwas wie Freude und Glück trotz aller Krisen. Denn wir haben im zu Ende gehenden Jahr auch ge-feiert, haben ein neu geborenes Kind in den Händen gehalten. Wir haben auf Hochzeiten getanzt und Geburtstagskinder hochleben lassen. Und nach einer Zeit der Trauer konnten wir wieder Freude am Leben empfinden. Wir haben gesehen, dass Menschen aufeinander zugehen und füreinander da sein wollen. In all diesen Situationen konnten wir spüren und erfahren: wir werden geliebt, getragen, bewahrt, egal, was war, egal, was ist, egal, was wird.

365 Tage – voller Zuversicht ins neue Jahr: Gottes Liebe trägt365 Tage. Wir gehen voller Zuversicht ins neue Jahr, das in wenigen Stunden beginnt. Die steilen Berge und tiefen Abgründe, die dunklen Städte und Häuser, die verwundete Erde und Tränenmeere sind immer noch da – aber Gottes Liebe eben auch. Sie trägt uns, sie macht uns mutig, sie macht uns stark. Sie lässt uns gewiss sein: „Weder Tod noch Leben, weder Engel noch Mächte noch Gewalten, weder Gegenwärtiges noch Zukünftiges, weder Hohes noch Tiefes noch irgendeine andere Kreatur kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn.“ Amen.

Predigt zum Herunterladen: Download starten (PDF-Format)