Buß- und Bettag (18. November 2015)

Autorin / Autor:
Dekanin i.R. Anne-Kathrin Kruse, Berlin [kruse.anne-kathrin@gmx.net]

Lukas 13, 1-9

Die Welt gerät aus den FugenFeierabend – Fernsehabend.
„Guten Abend, meine Damen und Herren – die Tagesschau!“
Wir machen es uns mit einem Glas Wein vor dem Fernseher gemütlich.
Schauen der Welt zu.
Wie sie aus den Fugen gerät.
Schauen dem Elend der Menschen zu.
Sie kämpfen sich nachts durch einen tiefen, reißenden Fluss.
Die Brücke war durch das Militär gesperrt worden.
Verzweifelt stürzen sich vor allem die Männer in die Flut.
Die kleinen Kinder halten sie mühsam über das Wasser.
Decken, Proviant, Dokumente, die letzte Habe,
die ihnen noch geblieben ist, nimmt die Strömung mit sich.
Am Ufer klammern sie sich an Äste, rutschen ab, gehen unter,
tauchen wieder auf, jemand hilft.
In der nassen Kleidung, die ihnen am Körper klebt,
geht es weiter in der nächtlichen Kälte.
Mütter ziehen mit letzter Kraft ihre wimmernden Kinder hinter sich her, immer weiter durch den aufgeweichten Boden,
kein Aufatmen, keine Pause.

Was erschreckt uns mehr? Die vielen verzweifelten Menschen?
Oder dass sie ausgerechnet in Europa Rettung suchen?
Ausgerechnet. Wo hier jeden Tag ein weiteres Haus brennt,
in dem Flüchtlinge wohnen oder wohnen sollten.
Ein fremdenfeindlicher Hintergrund wird nicht ausgeschlossen…
Wir schauen zu.

„Es kamen aber zu der Zeit einige, die berichteten ihm von den Galiläern, deren Blut Pilatus mit ihren Opfern vermischt hatte.“
„Blutbad unter Jerusalempilgern“
Oder: „Einsatz der Ordnungskräfte verhindert Revolte auf dem Tempelplatz!“
Immer noch eine aktuelle Meldung.

Der römische Statthalter Pontius Pilatus hatte Pilger aus Galiläa,
die im Tempel Opfer darbringen wollten, hinmetzeln lassen,
so dass sich ihr Blut mit dem der Opfertiere vermischte.
Sie selbst wurden Opfer, dargebracht von einem brutalen Besatzer.
„Meint ihr, dass diese Galiläer mehr gesündigt haben als alle andern Galiläer, weil sie das erlitten haben? Ich sage euch: Nein.“

Jesus setzt noch eins drauf:
„Oder meint ihr, dass die achtzehn, auf die der Turm in Siloah fiel
und erschlug sie, schuldiger gewesen sind als alle andern Menschen,
die in Jerusalem wohnen? Ich sage euch: Nein.“
Ein Turm der römischen Befestigungsanlagen Jerusalems war zusammengestürzt: achtzehn Tote! Bilder des Schreckens.
Tränen der Empörung, der Trauer, des Mitgefühls mit den Familien.
Wie soll man reagieren? Einfach nur zuschauen?
Wie lange können sie dieses elende Leben noch ertragen…

Hier dieses Unglück. Da ein Massaker.
Kann man beide überhaupt miteinander vergleichen?
Wer war verantwortlich?
War es menschliches Versagen?
Es helfen solche kleinen Schubladen,
um Ordnung zu halten im Schreckenshaushalt.
Jeder Schrecken bekommt seine Schublade.
Hier ein Unglück, dort ein Verbrechen.
Nichts hat mit dem anderen zu tun.
So lange muss sich nichts ändern…

No blaming the victimOder mussten diese Menschen womöglich sterben,
weil sie Schuld auf sich geladen hatten?
„Ich sage euch: Nein.“
Die Opfer sind nicht auch noch selber schuld.
Wer ist hier Täter, wer Opfer?
„Besorgte Bürger“ gefallen sich in der Opferpose.
Spielen sich als Beschützer des Abendlandes auf.
Und bauen an der Drohkulisse.
Wir schauen zu, wohlbehalten auf dem Sofa.
Wundern uns,
weshalb rechtsradikale Straftaten so schwer aufzuklären sind.

„Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut,
werdet ihr alle auch so umkommen.“
Wir hätten es wissen können
„Wenn ihr uns vor euch seht, werdet ihr uns nicht sterben lassen.
Deswegen kommen wir nach Europa. Wenn ihr uns nicht helft,
dann können wir nichts mehr tun, wir werden sterben, und ihr werdet zusehen, wie wir sterben, und möge Gott uns allen gnädig sein.“
Die Tagesschau ist zu Ende.

Es folgt ein Film „Der Marsch“. 25 Jahre ist er alt.
Hungernde Afrikaner machen sich auf den Weg nach Europa.
Weg aus Afrika, der Müllkippe des europäischen Elektroschrotts.
Wo es die Rohstoffe für Europa zum Schnäppchenpreis gibt.
Wo enteignete Kleinbauern als Sklaven auf ihren Äckern schuften.
Europäischer Wohlstand ist afrikanisches Elend.
Aber Globalisierung ist keine Einbahnstraße.

Bei der EU-Kommissarin finden sie Verständnis:
"Keiner glaubt, dass wir so weitermachen können…
80 Prozent der Energie wird verbraucht von 20 Prozent der Leute.
Die anderen drei Milliarden der Welt werden niemals so leben wie wir."
Die Flüchtlinge lassen sich nicht aufhalten.
Am Strand eines spanischen Touristenorts
erwarten sie schwer bewaffnete Soldaten.
Festung Europa.
„Ich sage euch: Nein; sondern wenn ihr nicht Buße tut,
werdet ihr alle auch so umkommen.“

Aus Zuschauern werden BetroffeneAuf dem Sofa wird es ungemütlich.
Es ist nicht das Versagen, der Fehler einzelner.
Um uns geht es!
Wir hätten es wissen können.
Aber wir haben weggeschaut.
Das geht nicht mehr.
Täglich sehen wir sie, die Opfer der Kriege,
an denen wir verdient haben.
Die Opfer unserer Wirtschaft, von der wir gut leben.
Die Opfer des Klimawandels, vor dem schon so lange gewarnt wird.
Aber was sollen, was können wir tun?

Feigen – eine Liebhaberei Gottes„Er sagte ihnen aber dies Gleichnis: Es hatte einer einen Feigenbaum, der war gepflanzt in seinem Weinberg, und er kam und suchte Frucht darauf und fand keine. Da sprach er zu dem Weingärtner: Siehe, ich bin nun drei Jahre lang gekommen und habe Frucht gesucht an diesem Feigenbaum und finde keine. So hau ihn ab! Was nimmt er dem Boden die Kraft?“

Groß, mit seinen dicken dunkelgrünen Blättern steht er da.
Und spendet Schatten – der Feigenbaum.
Schon von weitem weht einem die Süße seiner lila Früchte in die Nase.
In der Bibel erzählt er von Gottes Liebhaberei,
von Gottes Freude an seiner eigenen Verheißung,
von einem neuen Himmel und einer neuen Erde.
Von dem Land, in dem alle Menschen befreit und sicher
miteinander leben können.
Wo niemand mehr fliehen muss.
Und das alles in einer Zeit, in der aber auch alles
dem Ende von Unrecht und Gewalt zu widersprechen scheint.
Die Süße seiner Früchte duftet von der Sehnsucht
nach dem verheißenen Land, wo jeder genug hat
und den Krieg nicht mehr lernt.

In Kriegszeiten wird solch ein Baum gefällt,
um den Bewohnern größtmöglichen Schaden zuzufügen
und alle Hoffnung zu nehmen.
Der Weinbergbesitzer ist nicht wirklich an dem Feigenbaum interessiert, nur an seinen Früchten, klebrige Briketts für den Export nach Europa.
Da sie ausbleiben, will er kurzen Prozess machen.
Verheißung – kein Thema für die Realpolitik.

Die Hoffnung auf Feigen ist keine feige HoffnungWas sollen, was können wir tun?
„Er aber antwortete und sprach zu ihm: Herr, lass ihn noch dies Jahr, bis ich um ihn grabe und ihn dünge; vielleicht bringt er doch noch Frucht; wenn aber nicht, so hau ihn ab.“
Heute ist ein Tag der Buße, liebe Gemeinde.
Wie schön ist eine Kirche, die an diesem Tag in den Spiegel schaut
und die Chance wahrnimmt, eine andere zu werden, umzukehren,
Gottes Verheißung zu hegen und zu pflegen,
damit wachsen kann, was Gott uns allen verheißen hat.

Lass ihn noch dies JahrDer Film endet mit den Worten der EU Kommissarin an die Flüchtlinge:
„Wir brauchen euch, wie ihr uns braucht.
Wir können nicht weitermachen, wie bisher.
Ihr könnt uns helfen, die Zerstörung aufzuhalten, die wir anrichten.
Aber wir sind noch nicht bereit für euch,
ihr müsst uns noch mehr Zeit geben.“

„Lass ihn noch dies Jahr…vielleicht bringt er doch noch Frucht.“
Zeit gewinnen zum Nachdenken, zum Umdenken.
Die Hoffnung auf Feigen ist keine feige Hoffnung.
Sie lässt uns nicht auf dem Sofa zurück.
Die Hoffnung auf Gottes Verheißung hat guten Grund und Boden.
Sie zu pflegen, ist nichts Übermenschliches.
Der Weingärtner macht es uns vor:
Der tödlichen Logik widerstehen.
Alle Hoffnung setzen auf das, was noch nicht sichtbar ist.
Den Boden ringsherum lockern und etwas Dünger… das schaffe sogar ich.
Andere machen es mir vor.
Packen mit an, stellen sich schützend vor Menschen in Not.
Eine andere werden – was für eine Freiheit!

Amen.

Hinweise zur Predigt:
Neue Perspektiven durch eine konsequent nicht-allegorisierende Auslegung des Gleichnisses verdanke ich Ruth Poser, Von der Umkehr oder: Wachsen lassen, was verheißen ist! Lukas 13, (1-5) 6-9 in: M. Crüsemann, C. Janssen, U. Metternich (Hg.), Gott ist anders. Gleichnisse neu gelesen, Gütersloh 2014, S. 32-45.

Die Krise des Buß- und Bettages ist nach M. Neumann zumindest auch hausgemacht. Während er in der engen Verzahnung von Staat und Kirche im 19. Jahrhundert seine öffentliche Wirkung in der überindividuellen Buße hatte, verlor er 1918 diese Bedeutung. Nach 1949 trat überindividuelle Schuld bzw. die politische Wirkung zurück zugunsten eines Tages der persönlichen Einkehr und Besinnung. Neumann räumt diesem Feiertag nur eine Chance ein, wenn er wieder die Bedeutung eines öffentlich wahrgenommen Raumes der Umkehr bietet und plädiert für eine prophetisch-politische Predigt.(Maike Neumann, Der Buß- und Bettag. Geschichtliche Entwicklung – aktuelle Situation – Bedingungen für eine erneuerte Praxis, Neukirchen-Vluyn 2011, S.447)


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