Buß- und Bettag (21. November 2018)

Autorin / Autor:
Kirchenrat Dr. Ernst Michael Dörrfuß, Bad Urach [ErnstMichael.Doerrfuss@pastoralkolleg-wue.de]

Offenbarung 3, 14-22

Kehrtwendungen

Ich stehe vor der Tür und klopfe anLassen Sie sich einige Momente lang mitnehmen nach Laodicea, liebe Gemeinde.
Lassen Sie sich einige Momente lang mitnehmen nach Kleinasien, in das Gebiet der heutigen Türkei.
Und lassen Sie sich einige Momente lang mitnehmen in die Zeit etwa hundert Jahre nach Christus.

Eine reiche Stadt ist Laodicea, eine Stadt, die summt und brummt.
Baumwolle trägt zum Reichtum der Stadt bei, und die hier hergestellten Purpurstoffe tun es. Kurgäste und Pilger kommen in Scharen und lassen gutes Geld in der Stadt. Öffentliche Bäder und Theater sind gut besucht, die Basare und Märkte übervoll mit Waren und mit Käufern. Lautstark preisen die Händler ihre unterschiedlichen Produkte an – darunter eine spezielle Augensalbe, die zum Verkaufs- und zum Exportschlager geworden ist.
Dem Heilgott Äskulap ist ein Tempel geweiht, in einem anderen wird der römische Kaiser als Gott verehrt.
Wie die anderen Gebäude der Stadt sind auch diese Tempel in den letzten Jahrzehnten gleich zweimal durch Erdbeben zerstört worden. Aber die Leute von Laodicea haben beim Wiederaufbau keine Zeit verschwendet. Auf staatliche Hilfsmittel konnten sie dabei verzichten. Das Leben hat sich erholt, die Schrecken der Naturkatastrophe sind in Vergessenheit geraten. Ganz selbstverständlich gehen die Leute ihren Geschäften nach.
Ja, Laodicea ist eine reiche Stadt, eine laute, auch eine rastlose Stadt, die nicht zur Ruhe kommt.

Etwas abseits, in einer schmalen Gasse pflegen sich die Christen zu versammeln. Eine überschaubare Zahl kommt da zusammen. Einige Juden sind dabei, die meisten aber sind Phryger und Lykier aus der Stadt und ihrem Umland. Die haben sich von ihren heidnischen Göttern verabschiedet: Nachdem sie die Gute Nachricht von Jesus gehört hatten, ließen sie sich in seine Nachfolge rufen.

Ganz unterschiedliche Leute kommen bei den Versammlungen der Christen zusammen. Und wo sich ganz unterschiedliche Leute mit ganz unterschiedlichen Vorstellungen zusammenfinden, da kann es immer wieder zu lauten Debatten kommen, manchmal auch zu heftigem Streit. Wie soll die Gemeinde Gottesdienst feiern? Traditionell geprägte Menschen auf der einen, sogenannt progressive auf der anderen Seite. Und auf welchem Weg lässt sich das Gemeindewachstum befördern, wie lässt sich das Gemeindeleben attraktiver gestalten? – Vor allem aber: Wie versteht sich die Gemeinde im Blick auf ihre Mitmenschen, die große Mehrheit, die nicht dazu gehört? Wie geht die Gemeinde um mit dem vielfältigen Angebot an Ablenkung und Zerstreuung, wie steht sie zu denen, die ihren Reichtum auf Kosten anderer vermehren, die das Recht beugen, Bedürftigen Schutz verwehren?

Lebhaft geht es meistens zu in den Versammlungen der Christen in Laodicea, auch streitbar. Heute aber ist es still im Saal. Auch die, die sonst gern den Mund aufmachen, bleiben stumm. Die Blicke zum Boden gesenkt sitzen sie alle da.
Verstummen lassen und sprachlos gemacht hat sie ein Brief, ein Sendschreiben. Wir können es heute noch nachlesen im letzten Buch der Bibel, der Offenbarung des Johannes, Kapitel 3,
14-22:

„Und dem Engel der Gemeinde in Laodizea schreibe: Das sagt, der Amen heißt, der treue und wahrhaftige Zeuge, der Anfang der Schöpfung Gottes:
Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch warm bist. Ach dass du kalt oder warm wärest!
Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.
Du sprichst: Ich bin reich und habe mehr als genug und brauche nichts!, und weißt nicht, dass du elend und jämmerlich bist, arm, blind und bloß.
Ich rate dir, dass du Gold von mir kaufst, das im Feuer geläutert ist, damit du reich werdest, und weiße Kleider, damit du sie anziehst und die Schande deiner Blöße nicht offenbar werde, und Augensalbe, deine Augen zu salben, damit du sehen mögest.
Welche ich lieb habe, die weise ich zurecht und züchtige ich. So sei nun eifrig und tue Buße!
Siehe, ich stehe vor der Tür und klopfe an. Wenn jemand meine Stimme hören wird und die Tür auftun, zu dem werde ich hineingehen und das Abendmahl mit ihm halten und er mit mir.
Wer überwindet, dem will ich geben, mit mir auf meinem Thron zu sitzen, wie auch ich überwunden habe und mich gesetzt habe mit meinem Vater auf seinen Thron.
Wer Ohren hat, der höre, was der Geist den Gemeinden sagt!“

Neu hinhören‚Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Mund‘ – dieser Satz hat besonders getroffen. So ohne Wenn und Aber formuliert, gnadenlos – dann hat doch alles keinen Wert.

Schweigend sitzen sie da, die Augen zu Boden gerichtet. Bis sich auf einmal Lydia zu Wort meldet, eine, die sich sonst eher zurückhält.
„Wer, sagt ihr, schreibt uns diesen Brief?“, fragt sie – und beginnt zu lächeln. „Ist das nicht Jesus?“
Und hat der nicht versprochen, bei uns zu sein, ganz egal, was kommt, ganz egal, wie es um uns steht? Hat der nicht versprochen, für uns einzutreten bei Gott, unserem Vater im Himmel?
Aufmerksam schauen zunächst ein paar wenige zu Lydia herüber.
Dann nimmt Simon das Wort: „Hat nicht Jesus uns allen versprochen, der Weg zu sein, die Wahrheit und das Leben?“
„Auch dass er die Tür ist, hat er gesagt“, ruft Hanna – und auf einmal dämmert allen, was das bedeutet, wenn es im Brief heißt: ‚Sieh doch. Ich stehe vor der Tür und klopfe an.‘ – „Jesus steht vor der Tür. Hören wir sein Klopfen? Hören wir seine Stimme?“
„Neu hinhören, miteinander neu hinhören auf das, was Jesus im Namen Gottes sagt, was uns Jesus als sein Urteil, als seine Weisung und als seine Verheißung wissen lässt, darum geht’s“, meint Rufus – und viele nicken.
„Auf den hören, der wahre Werte anzubieten hat, der Leib und Seele kleidet, wärmt, Medizin kennt, die wirklich hilft“, legt Maria ihre Gedanken in die Runde.

Und auf einmal haben alle die Köpfe wieder nach oben gehoben. Sie schauen einander in die Augen, kommen neu ins Gespräch.
Über den kommen sie neu ins Gespräch, den sie als Herrn über Leben und Tod bekennen. Dessen Stimme zu hören sie sich vorgenommen haben unter den vielen Stimmen, die um sie her laut werden, dessen Wort sie sich gefallen lassen wollen über dem, was ihr Herz ihnen vorhält an Bedenken, Angst und Sorge, dessen Verheißung sie vertrauen wollen über allem, was sie selbst sich ausdenken.(1)
Über den kommen sie ins Gespräch, der sie immer wieder neu aufrichtet und ausrichtet, Trost zuspricht und Kraft verleiht. Der einlädt, umzukehren in seine offenen Arme.
Der einlädt an seinen Tisch. – Und der die an seinem Tisch Gestärkten in seinen Dienst nimmt.
Seinen Dienst, der dazu Mut macht, mit weit geöffneten Augen genau hinzuschauen, die Nöte dieser Welt und die Sorgen der Mitmenschen in den Blick zu nehmen, sich dieser Nöte und Sorgen tatkräftig anzunehmen, wann und wo immer das möglich ist.

Neu anfangenLebhaft geht es wieder zu bei den Christen von Laodicea. Übers Hören, Erzählen, Reden und Sich-Mut-Machen ist‘s allen Versammelten warm geworden ums Herz.
‚Lau‘ bleibt keiner zurück.
Und sie beginnen zu verstehen, dass der so schmerzende Satz – ‚Weil du aber lau bist und weder warm noch kalt‘ –, dass dieser Satz nicht ihr Ringen um Lösungen und Kompromisse verurteilt, die sie als Gemeinde miteinander tragen können. Wenn etwa die einen an überkommenen Gottesdienstformen festhalten wollen oder andere drängen, endlich fortschrittlich und ihrer Meinung nach zeitgemäß Gottesdienst zu feiern. Oder wenn manche meinen, sich von der Mitwelt abkapseln zu sollen, während andere sich darum bemühen, sich mit möglichst vielen gut zu stellen.
‚Lau‘ sind sie vielmehr dort, wo sie Spannungen aus dem Weg gehen, Konflikte unter den Teppich kehren, wo sie einander gleichgültig werden – und wo die Welt ihnen entweder gleichgültig wird oder sie nur noch den Menschen gefallen wollen.

‚Lau‘ ist die Gemeinde allen ihren Bemühungen und Anstrengungen zum Trotz, wenn nicht allein die Glut des Evangeliums Antrieb und Ansporn ist.
Jene Glut, für die der mit Leib und Leben eingestanden ist, der im Sendschreiben das Wort nimmt, der sich der Gemeinde wieder neu vorstellt als ‚treu‘ und ‚wahrhaftig‘ – und das heißt: verlässlich, fest gegründet, gerade, ohne Falsch.
Jene Glut, die im Ringen um die Einheit der Gemeinde ihren Ausdruck finden kann, im Ringen um die Wahrhaftigkeit, um das aufrichtige Zeugnis der Liebe.
Jene Glut, die allem Sich-gegenseitig-Verurteilen ein Ende setzt und Mut macht, sich dem Richten und der Gnade dessen anzuvertrauen, der vor der Tür steht und anklopft, der einlädt an seinen Tisch, so stärkt und Kraft schenkt zur Umkehr und zu neuen Anfängen – neuen Anfängen mit Gott und untereinander.

„Im Vertrauen auf diese Glut lasst uns weitergehen“, meint Priska, eine der Ältesten. „Diese uns geschenkte und uns anvertraute Glut lasst uns immer wieder neu mitnehmen in unser Leben, hineintragen in diese Welt.“
Und weil es spät geworden ist, beschließt sie die Versammlung mit dem Wunsch: „Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, er bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus unserem Herrn.“
Amen.


Anmerkungen:

(1) Vgl. zu dieser Formulierung ein Eingangsgebet im Gottesdienstbuch für die Evangelische Landeskirche in Württemberg, Erster Teil:; Predigtgottesdienst und Abendmahlsgottesdienst, Stuttgart 2004, 174.

Ideen zur Predigt gehen zurück auf eine vor sechs Jahren verfasste Meditation: Hans-Jürgen Benedict / Ernst Michael Dörrfuß, Buß- und Bettag. Offenbarung 3,14-22: Ich stehe vor der Tür und klopfe an, in: Predigtstudien für das Kirchenjahr 2011/2012. Perikopenreihe IV. Zweiter Halbband, hg. v. Wilhelm Gräb u.a., Freiburg im Breisgau 2012, 279-286. – Bis in einzelne Formulierungen hinein habe ich dankbar zurückgegriffen auf eine Adventspredigt von Reiner Strunk zum Sendschreiben an die Gemeinde in Philadelphia (Offb 3,7-13), nachzulesen in: Reiner Strunk, Fährten zu den Lebensquellen, Stuttgart 2018, 116-122.


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