Buß- und Bettag (17. November 2021)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Karina Beck, Stuttgart [Karina.Beck@elkw.de]

Matthäus 7, 12-20

IntentionDer Tag dient dazu, persönliche und gesellschaftliche Missstände zu erkennen und zu benennen. Daher wird im Gottesdienst Raum sein, um Schuld einzugestehen und Verfehlungen zu bereuen, aber auch um Ängste auszudrücken. Doch das ist nur die eine Seite dieses Tages. Auf der anderen glänzt Gottes Gnade, die in uns und in der Welt wirkt. Ihr vertrauen wir uns und diese Welt mit all ihren Missständen an. Menschen sollen den Gottesdienst mit Mut und Motivation verlassen, frisch gestärkt und erhobenen Hauptes.

7, 12 Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihr ihnen auch! Das ist das Gesetz und die Propheten.13 Geht hinein durch die enge Pforte. Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zur Verdammnis führt, und viele sind’s, die auf ihm hineingehen. 14 Wie eng ist die Pforte und wie schmal der Weg, der zum Leben führt, und wenige sind’s, die ihn finden! 15 Seht euch vor vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber sind sie reißende Wölfe. 16 An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen. Kann man denn Trauben lesen von den Dornen oder Feigen von den Disteln? 17 So bringt jeder gute Baum gute Früchte; aber ein fauler Baum bringt schlechte Früchte. 18 Ein guter Baum kann nicht schlechte Früchte bringen und ein fauler Baum kann nicht gute Früchte bringen. 19 Jeder Baum, der nicht gute Früchte bringt, wird abgehauen und ins Feuer geworfen. 20 Darum, an ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.

Liebe Gemeinde,
im Predigttext stecken viele berühmte Bilder und Sprichwörter: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“, „der Wolf im Schafspelz“ oder auch „die Goldene Regel“: „Was du nicht willst, dass man dir tu, das füg auch keinem andern zu.“ Der Predigttext ist sogar noch umfassender, weil er positiv formuliert: „Alles, was ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, das tut ihnen auch.“ Stellen Sie sich vor, wir alle würden nach dieser Devise leben und alle Menschen so behandeln, wie wir behandelt werden möchten. Und wir würden von allen so behandelt werden, wie sie sich selbst wünschen würden, behandelt zu werden. Dazu muss ich mir erstmal klar werden, wie ich behandelt werden will: Ich will wahrgenommen werden und anerkannt. Ich will, dass meine Meinung respektiert und verstanden wird. Ich will, dass andere nicht über mich urteilen, sondern nachfragen, wie es mir geht und warum ich so oder so reagiere. Ich will verstanden werden.

Doch verhalte ich mich so auch anderen gegenüber? Ja, doch, schon. Ich versuche es zumindest, aber ich gebe zu, ich stoße da oft an Grenzen: Ich bin meinen Familienmitgliedern gegenüber oft nicht so geduldig, wie ich es von ihnen mir gegenüber erwarten würde. Vor allem, wenn ich gestresst bin. Ich gehe oft von mir aus und denke: Wenn ich das kann oder wenn ich das aushalte oder wenn ich das so sehe, dann müsste das mein Gegenüber doch auch so machen. Aber die Goldene Regel sagt ja nicht: Erwarte von deinem Gegenüber das, was du auch von dir selbst erwartest. Doch oft genug nehme ich meine Umwelt von dieser Warte aus wahr. Und dann gibt es schwarz und weiß, gut und böse, richtig und falsch. Alles, was ich für mich zum Maßstab gemacht habe und was dem entspricht, empfinde ich dann als richtig. Und Menschen, die sich anders verhalten, die machen wohl was falsch. Und diejenigen, die meine Maßstäbe übertreffen oder übererfüllen, die bewundere ich. Ich gebe zu: Ich scheitere oft an der Goldenen Regel. Und ich nehme wahr, dass die Menschen um mich herum genauso regelmäßig daran scheitern. Nehmen wir als Beispiel die Impfdebatte. Da haben sich zwei Lager gebildet: impfen ja und impfen nein. Die einen schütteln über die anderen den Kopf und sagen: „Wie kann man nur – impfen“ oder „Wie kann man nur – nicht impfen“. An dieser Frage scheiden sich die Geister. Und nicht nur an dieser Frage: Legen Sie einmal alle Systeme, in denen Sie leben, Familie, Schule, Arbeit, Kirche, Politik, unter die Lupe der Goldenen Regel: Funktioniert sie da? Hat man die Goldene Regel da im Blick? Oder ist sie vielleicht nur eine Idealvorstellung der Bibel, eine überzogene Forderung der Bergpredigt? Und wenn sie nur ein frommer Wunsch ist, eine moralische Norm, die nicht zu erfüllen ist, warum sollte man dann daran festhalten?

Der Predigttext sagt: Wer sich an die Goldene Regel hält, erfüllt das Gesetz und die Propheten, also den Willen Gottes. Wenn es mir gelingt, mich ganz und gar auf mein Gegenüber einzulassen, wenn ich es schaffe, den anderen mit Interesse und Empathie auf Augenhöhe wahrzunehmen (und nichts weniger als das erwarten wir ja auch von anderen), dann tue ich Gottes Willen. Dann nehme ich mein Gegenüber als geliebtes und gewolltes Geschöpf Gottes mit einer eigenen Würde wahr. So wie Adam und Eva einander erkannten und respektierten im Paradies: als einzigartige Menschen in ihrer Verschiedenheit. Sie nahmen sich wahr, erkannten, dass sie aus demselben Fleisch sind, also von der gleichen Art, mit den gleichen Gefühlen und Bedürfnissen. Meine Gedanken zur Goldenen Regel haben mich nun ins Paradies geführt. Aber ja, warum nicht: Das wäre doch das Paradies, wenn alle Menschen täglich nach der Goldenen Regel leben. Das Paradies freilich ist erst für das Ende der Zeit verheißen.

Trotzdem fordert uns der Predigttext auf, diesen Weg zu gehen. Er ist schmal und anstrengend, voller Bedrängnisse heißt es da, also voller Stolpersteine. Aber letztlich führt er zum Ziel – in eine Art paradiesischen Urzustand. Im Gegensatz zum breiten Weg, der einfach zu gehen ist, bequem und selbstbewusst. Vielleicht kennen Sie noch das Bild vom breiten und schmalen Weg von Charlotte Reihlen. Sie hat dieses Bibelwort 1867 künstlerisch umgesetzt: Auf dem breiten Weg lauern böse Versuchungen wie Glücksspiel oder die Eisenbahn, also damals neumodische technische Entwicklungen. Der schmale Weg ist gepflastert von Selbstlosigkeit und Erbarmen und innigem Gebet. Jahrzehntelang hat man dieses Bild der jüngeren Generation als moralischen Zeigefinger vor Augen geführt. So würde und will man es heute sicher nicht mehr machen. Freilich, das Bild vom schmalen und breiten Weg hat Charlotte Reihlen ja nicht erfunden: Es steht im Predigttext. Wie also stellen wir uns diesen schmalen Weg des Glaubens vor? Wie sieht mein persönlicher Weg der Goldenen Regel aus, der durch die enge Pforte ins Paradies führt? Wer und was begegnen mir da? Meine Chefin vielleicht, Nachbarn, Verwandtschaft oder auch die Natur. Und zu allem muss ich mich verhalten – am besten nach der Goldenen Regel. Was brauche ich dazu? Selbsterkenntnis? Mitleid? Rücksicht? Respekt? Mut? Auch mal Widerständigkeit?

Für mich ist klar: Der Weg ins Paradies braucht Pausen, und ich brauche Unterstützung. Ich will ihn nicht allein gehen. Ich kann es auch nicht, und ich kann den Willen Gottes auch nicht immer tun. Das schaffe ich einfach nicht. Als Mensch bin ich manchmal ungerecht und müde oder sogar verzweifelt. Woher soll ich die Kraft nehmen – und das Wissen und die Geduld und das Selbstwertgefühl–, allen Menschen und der Schöpfung gegenüber immer respektvoll und verantwortungsvoll zu handeln?

An dieser Stelle entwirft der Predigttext ein weiteres starkes Bild: das vom Baum und den Früchten: Gute Früchte wachsen nur an gesunden und starken Bäumen, die genügend Licht und Wasser haben. Gute Früchte wachsen nicht aufgrund eigener Anstrengung, sondern aufgrund eines guten Standorts mit Licht und Wasser. An den Früchten kann man darum erkennen, wie gut ein Baum versorgt ist. Für mich heißt das: Wenn ich selbst gut verwurzelt bin und nicht um jeden Sonnenstrahl kämpfen muss, dann gelingt es mir besser, nach der Goldenen Regel zu leben und Gottes Willen zu erfüllen. Deshalb tue ich gut daran, nicht immer darauf zu achten, ob die anderen Bäume um mich herum gute oder schlechte Früchte tragen, sondern mich darauf zu konzentrieren, dass meine eigenen Wurzeln tief verankert sind in Gottes Liebe und Fürsorge. Ich mag das Bild vom Baum. Es strahlt Ruhe und Entschleunigung aus: langsam wachsen, blühen, Früchte ansetzen, langsam reifen und dann andere mit dem Ergebnis erfreuen und satt machen. Das braucht Zeit und Geduld. Das geht nicht in Hektik und Stress. Gottes Gegenwart ist nicht im Sturm und in der Achterbahn. Sie ist im Windhauch, im sanft plätschernden Wasser, in der Pause. Da kann ich diejenige Kraft tanken, die ich brauche, um Früchte zu tragen. Um noch einmal in das Bild vom Weg zu wechseln: Ich möchte darauf achten, dass ich genügend Pausen mache auf dem schmalen Weg und mich stärken lasse von Gottes Wort und seiner Nähe. Dann kann ich weitergehen, achtsam und langsam – die Goldene Regel im Gepäck. Und nach einigen Metern bleibe ich wieder stehen, genieße die schöne Aussicht – auf Gottes gute Schöpfung und aufs Paradies am Ende des Weges. Und wer weiß: Vielleicht treffen wir uns demnächst auf diesem Weg. Dann ruhen wir gemeinsam ein bisschen miteinander aus, bestärken uns gegenseitig und lassen uns von Gottes Licht und Nähe bescheinen und wärmen. Und dann gehen wir weiter, langsam, im eigenen Tempo – und immer mit Blick auf das Paradies. Amen.

Hinweis: Das Bild von Charlotte Reihlen finden Sie hier: https://www.wkgo.de/themen/zwei-wege-bild




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