Buß- und Bettag (22. November 2023)

Autorin / Autor:
Pfarrer Julian Scharpf, Fellbach [Julian.Scharpf@elkw.de ]

Ezechiel 22,23-30

IntentionEine Bußpredigt gegen Antisemitismus.
Wegen der aktuellen Ereignisse im Nahen Osten rate ich, den letzten Vers des Predigttextes wegzulassen. Der Text ist 2500 Jahre alt und sollte nicht auf die gegenwärtige Situation in Israel bezogen werden. Jedenfalls nicht von uns Christen.

Aus aktuellem Anlass: AntisemitismusLiebe Gemeinde, am 07. Oktober 2023 sind so viele jüdische Menschen an einem Tag wie noch nie nach 1945 umgebracht worden. Nach dem Angriff der Hamas auf Israel hat die Stadt Fellbach aus Solidarität Israelflaggen vor der Schwabenlandhalle und der Lutherkirche hissen lassen. Als unsere Mesnerin und ich am Samstag, den 14. Oktober, die Lutherkirche verließen, fanden wir die Reste einer dieser Flaggen. Ein Teil wurde direkt vor der Sakristei verbrannt. Der letzte Teil dieser Flagge wurde vor dem Weltladen an einer Laterne aufgehängt. Mich hat bei diesem Anblick Wut, Trauer und auch Angst erfasst. Ich habe mit Menschen gesprochen, die diese verbrannte Fahne gesehen haben und Verwandte in Israel haben. Sie verstehen es als gewaltvolle Drohung gegenüber dem Staat Israel und auch gegenüber dem Judentum bei uns vor Ort.
Mich beschämt diese Verbrennung. Nur ein paar Meter neben der Kanzel, auf der meine Kolleginnen und Kollegen und ich doch predigen, dass uns Christen der christlich-jüdische Dialog wichtig ist; dass uns die Mitgestaltung der Gesellschaft am Herzen liegt; dass die Gründung und das Bestehen des Staates Israel als Zeichen der Treue Gottes zu seinem Volk gedeutet werden kann.
Wir Christinnen und Christen teilen mit keiner anderen Religion oder Weltanschauung so viel wie mit dem Judentum. Der Sohn Gottes, zu dem wir beten; nach dem wir uns nennen; unter dessen Kreuz wir uns versammeln; war Jude. Ein geborener Jude, der jüdisch erzogen und beschnitten wurde, der die Tora auslegte und mit Schriftgelehrten diskutierte und stritt. Unser Gott hat das jüdische Volk, aus dem Jesus Christus stammt, zu seinem erwählten Volk gemacht.
Wir teilen mit dem Judentum denselben Gott und dieselben Geschichten von der Schöpfung der Welt. Wir hören wie die Juden von Noah, Abraham und Sarah, Mose, Ruth und Esther. Auch der Prophet Ezechiel, aus dessen Buch der heutige Predigttext stammt, hat uns Christen etwas zu sagen. In den Geschichten dieser Menschen spiegelt sich auch das immer wieder aufs Neue bedrohte Schicksal des jüdischen Volks. Ezechiel hat diese Worte zu seinem Volk gesprochen, nachdem es am Anfang des sechsten Jahrhunderts die Zerstörung Jerusalems erleben musste und die Oberschicht ins Exil nach Babylonien verschleppt wurde.

Der Bibeltext (Ezechiel 22,23-30, Lutherbibel 2017): Harte WorteUnd des Herrn Wort geschah zu mir: Du Menschenkind, sprich zu ihnen: Du bist ein Land, das nicht gereinigt wurde, das nicht beregnet wurde zur Zeit des Zorns, dessen Fürsten in seiner Mitte sind wie brüllende Löwen, wenn sie rauben; sie fressen Menschen, reißen Gut und Geld an sich und machen viele zu Witwen im Lande. Seine Priester tun meinem Gesetz Gewalt an und entweihen, was mir heilig ist; sie machen zwischen heilig und unheilig keinen Unterschied und lehren nicht, was rein oder unrein ist, und vor meinen Sabbaten schließen sie die Augen; so werde ich unter ihnen entheiligt. Die Oberen in seiner Mitte sind wie reißende Wölfe, Blut zu vergießen und Menschen umzubringen um ihrer Habgier willen. Und seine Propheten streichen ihnen mit Tünche darüber, haben Truggesichte und wahrsagen ihnen Lügen; sie sagen: »So spricht Gott der Herr«, wo doch der Herr gar nicht geredet hat. Das Volk des Landes übt Gewalt; sie rauben drauflos und bedrücken die Armen und Elenden und tun den Fremdlingen Gewalt an gegen alles Recht. Ich suchte unter ihnen, ob jemand eine Mauer ziehen und in die Bresche vor mir treten würde für das Land, damit ich’s nicht vernichten müsste; aber ich fand keinen.

Ein Bußtag, eine BußpredigtGott geht durch seinen Propheten Ezechiel mit allen Verantwortlichen hart ins Gericht. Die Mächtigen aus Politik, Religion und Wirtschaft und ihre Verfehlungen werden benannt. Jetzt könnten wir hier und heute sagen: Was hat schon diese Bußpredigt eines jüdischen Propheten für sein Volk vor 2500 Jahren mit uns heute zu tun? Sie hat deshalb etwas mit uns zu tun, weil wir als Kirche durch Jesus Christus in die Geschichte Gottes und mit seinem Volk Israel hineingenommen werden. Ich denke, genauso, wie wir gerne Tauf-, Trau-, und Trauerverse aus dem Alten Testament auswählen, sind auch solche harten Worte ein Teil unserer Heiligen Schrift. Wenn wir all die Verheißungen und Segenszusprüche gern auch auf uns Christen beziehen, dann auch diese Gerichtspredigt hier. Das Judentum hat es ausgehalten, selbst solche harten Anklagen mit all ihren Überzeichnungen wie die des Propheten Ezechiel in seine Schriften aufzunehmen. Ich frage mich, ob wir Christen heute bereit sind, diese Worte konsequent auf uns zu beziehen, ohne auf andere zu schauen.
Der Buß- und Bettag heute hält uns dazu an, über Versagen, Schuld und Sünde nachzudenken.
Genauer gesagt: Über unser Versagen, unsere Schuld und Sünde nachzudenken. Es fällt uns leichter, über das Versagen der anderen Menschen nachzudenken. Beim Thema Antisemitismus sind es dann schnell „die“ anderen. Es sind dann „die“ muslimischen Jugendlichen oder „die“ Rechten im Osten. Diese Beobachtungen mögen Anhaltspunkte haben, denen es nachzugehen gilt. Zugleich stellt sich uns die Frage, wo unsere Verantwortung und Schuld liegen. Auch wir haben Verantwortung und sind dementsprechend auch schuldfähig. Das ist keine rein politische, sondern auch eine religiöse Frage. Der damalige württembergische Landesbischof Frank Otfried July schrieb in seiner Gratulation zum 70. Geburtstag des Staates Israel: „Antisemitismus ist eine Sünde gegen Gott und gegen Menschen, der wir uns bereits in ihren ersten Andeutungen mit Abscheu entgegenstellen.“
Sind wir diesem Aufruf als Kirchenmitglieder gerecht geworden? Tragen wir ausreichend zur Sicherheit von Jüdinnen und Juden in unserem Land bei? Ich denke „es ist die Aufgabe der Kirchen, die Aufgabe von Christen und Juden und allen religiösen Menschen, Gott nicht allein zu lassen, eigene Schuld einzugestehen und aus der Buße zu Neuanfängen zu finden“(Deeg, S.493). Für uns hier in Deutschland ist es an der Zeit, in unseren Gemeinden das christlich-jüdische Gespräch wieder verstärkt aufzunehmen; den Stimmen von Jüdinnen und Juden Raum zu geben; Solidarität mit Israel mit Leben zu füllen, auch den auf Israel bezogenen Judenhass zu benennen und dagegen einzuschreiten und für den Frieden zu beten. Dieser Wunsch nach Frieden umfasst den Shalom für alle Menschen in Israel und den palästinensischen Gebieten.

Die Hoffnung: Gott an der SeiteDer Buß- und Bettag ist ein Tag der Besinnung und Neuorientierung.
Diese Neuorientierung findet ihren Kompass in den Worten, die Gott seinen Propheten zu uns sagen lässt. In diesen harten Worten des Propheten Ezechiel ist zu spüren, wie leidenschaftlich Gott an der Seite der leidenden Menschen ist. Wenn Gott mit jenen ins Gericht geht, die rauben und die Armen und Elenden bedrücken und den Fremdlingen Gewalt antun gegen alles Recht, dann heißt das: „Ich bin ein Gott der Armen, der Elenden, der Fremdlinge. Mein Recht ist für sie errichtet. Haltet euch daran!“
Der Buß- und Bettag ist ein Tag darüber nachzudenken, ob wir als Christinnen so sehr vom lieben, barmherzigen, versöhnenden Gott sprechen, dass er am Ende ein sehr harmloser und gemütlicher Kuschelgott ist. Damit soll gar nicht die überbordende Liebe, Barmherzigkeit und Versöhnungsbereitschaft Gottes infrage gestellt werden. Aber wir würden mit so einem einseitigen Gottesbild nicht dem gerecht werden, was wir über ihn im Alten wie im Neuen Testament lesen. Halten wir es denn überhaupt noch aus, dass wir solche Worte Gottes, wie sie sein Prophet Ezechiel ausspricht, auf uns beziehen? „Ich suchte unter ihnen, ob jemand eine Mauer ziehen und in die Bresche vor mir treten würde für das Land, damit ich’s nicht vernichten müsste; aber ich fand keinen.“ Diese Verse gehören, wie andere auch zu dem, was Gott zu uns sagt und wir müssen das ernst nehmen. Unser Gott ist ein leidenschaftlicher Gott, der uns liebt, aber eben auch zornig auf uns ist. Unserem Gott ist nicht egal, was wir tun. Seine Gebote gelten. Wenn Gott gegen den Raub und das Töten protestiert, sagt er: „Ich bin an der Seite der Schwachen und der Witwen. Achtet sie!“ Das gilt in jedem Land für jeden Menschen. Gott protestiert gegen die Gewalt und das Töten.
In diesen Zeilen liegt Trost für diejenigen, die selbst Gewalt erleiden. Gott sieht dieses Unrecht und das Leid, das die Opfer ertragen müssen. Er ist mit den Menschen, die am 07. Oktober der Gewalt zum Opfer fielen. Er ist auch mit den Menschen, die als Schutzschilde in palästinensischen Gebieten missbraucht werden. Er ist ein Gott des Friedens und gibt denen Kraft, die sich für Frieden und Versöhnung einsetzen. Er gibt denen Kraft, die dem Hass entgegentreten und für andere in die Bresche springen. Amen.

LiteraturhinweiseDie Erklärungen der Evangelischen Landeskirche in Württemberg zur Verbundenheit von Christen und Juden: Web_OKR_Broschuere_Christen_und_Juden.pdf (elk-wue.de);
70 Jahre Staat Israel. Grund zur Mitfreude für uns Christen: WEB_Broschuere_70_Jahre_Israel.pdf (elk-wue.de);
A. Deeg/A. Schüle, Die neuen alttestamentlichen Perikopentexte, Leipzig, 2018, S. 493f.

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