1. Weihnachtsfeiertag (25. Dezember 2016)

Autorin / Autor:
Pfarrer Dr. Alexander Fischer, Stuttgart [fischer@dbg.de]

Micha 5, 1-4

Liebe Gemeinde!
Bethlehem! Der Name hat für unsere Ohren einen wunderbaren Klang. Und ich erinnere mich an meine Kindertage. Da war für mich die Stadt Bethlehem ein geheimnisvoller Ort, ein kleines Dorf in einem fernen Land, in dem Wünsche in Erfüllung gehen. So wie für viele Kinder am Weihnachtstag manche Wünsche in Erfüllung gehen. Auch wenn wir selbst noch nie in Bethlehem gewesen sind, scheint uns der Ort doch irgendwie vertraut, jedenfalls so, wie wir ihn aus der Weihnachtsgeschichte kennen. Schon allein beim Klang »Bethlehem« treten Bilder vor unsere Augen: Wir sehen das Gasthaus von Bethlehem, an dem Maria und Josef um Einlass bitten, einen mürrischen Wirt vor der Tür, der aber doch ein gutes Herz hat. Wir sehen den Stall hinterm Gasthaus, Ochs und Esel, die glücklichen Eltern und das Jesuskind in der Krippe, das auf weichem Stroh gebettet ist. Und wenn wir uns den Stall hinter dem Wirtshaus vorstellen, denken wir an einen ordentlich ausgebauten Holzstall, so einen vielleicht wie auf der Schwäbischen Alb, an einen warmen Platz, an eine Feuerstelle mit Vorrat an Brennholz, an eine sichere Hütte, die das neugeborene Jesuskind vor Wind und Wetter schützt.

Aber wer kann das denn schon sagen? Vielleicht war jener Stall zu Bethlehem tatsächlich nur so eine verfallene Hütte, ein loser Bretterzaun, eine elende Notunterkunft, durch die der kalte Wind bläst, sodass wir schon aus Mitgefühl mit der heiligen Familie frieren. Kein Stroh in der Krippe! Und Brennholz, das fehlt auch. Vielleicht wurde Jesus in diese erbärmliche Umgebung hineingeboren?
Vielleicht müssen wir uns das so vorstellen?! Vielleicht war der Stall von Bethlehem wirklich schäbig und kalt, feucht und stinkend. Wahrscheinlich war es so?! Aber eigenartig ist es schon, welche Kraft das Wort »Bethlehem« dennoch hat. Wenn wir es nämlich hören, verwandeln wir den schadhaften Stall in eine sichere Hütte und setzen darüber den Stern, der in finsterer Nacht wie ein Hoffnungszeichen in den Himmel von Bethlehem geschrieben ist. Warum ist das so? Haben wir einen Grund dazu? Ich lese den Predigttext zum heutigen Christfest. Er steht im Buch des Propheten Micha, im 5. Kapitel:

„Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Tausenden in Juda, aus dir soll mir der kommen, der in Israel Herr sei, dessen Ausgang von Anfang und von Ewigkeit her gewesen ist. Indes lässt er sie plagen bis auf die Zeit, dass die, welche gebären soll, geboren hat. Da wird dann der Rest seiner Brüder wiederkommen zu den Israeliten. Er aber wird auftreten und sie weiden in der Kraft des HERRN und in der Hoheit des Namens des HERRN, seines Gottes. Und sie werden sicher wohnen; denn er wird zur selben Zeit herrlich werden bis an die Enden der Erde. Und er wird der Friede sein. Amen.“

Das Bethlehem, das unter den Persern leidetLiebe Gemeinde!
Unser Predigttext, der uns im Buch des Propheten Micha überliefert ist, wurde ganze 500 Jahre vor der Geburt Jesu geschrieben. Er erzählt von einer großen Verheißung für Bethlehem, für die kleine Stadt, in der es nichts zu hoffen gab. Wenn wir jetzt ein Stück weit dem Text nachgehen, tauchen wir ein in die Vergangenheit, in die Zeit, in die das Prophetenwort hineingehört. Leben unter persischer Besatzung – das ist das Stichwort, das ist die Lebenswelt hinter dem Text. Denn die Perser kontrollieren zu dieser Zeit den gesamten Vorderen Orient.
Auch Juda steht unter ihrer Verwaltung. Doch die fremde Besatzungsmacht, die liebt man nicht, und einen eigenen König, den hat man nicht. Steuern und Abgaben machen das Leben schwer, keine Besserung ist in Sicht. Man lebt unzufrieden und so vor sich hin, man klagt ein bisschen hier und ein bisschen dort über staatliche Gewalt. Doch ändern kann man nichts. Und erwarten tut man nichts.

Große Ernüchterung – wir kennen das auch, wenn Zuversicht und Hoffnung, unsere Antriebskräfte, sich langsam aus dem Leben davonschleichen. Da möchte man die Decke über den Kopf ziehen. Genau! Genau an diesem Punkt meldet sich unser Predigttext zu Wort, zunächst sehr leise und zurückhaltend. Denn seine große Verheißung gilt nicht Jerusalem, gilt nicht der hoch gebauten Stadt, die hätte was zu bieten! Seine Verheißung gilt einem kleinen, einem ganz unbedeutenden Ort: »Und du, Bethlehem Efrata, die du klein bist unter den Städten in Juda: Aus deiner Mitte soll einer kommen, der Herrscher sein soll in Israel.«

500 Jahre vor Jesu Geburt ist diese Verheißung geschrieben. Da interessierte sich noch keiner für Bethlehem, für dieses Provinznest im kargen Gebirge, für die Viehtreiber und Hirten, die dort wohnten. Ja, diese kleine Ortschaft braucht sogar noch einen Beinamen »Bethlehem Efrata«, damit man sie nicht verwechselt, so wie beispielsweise »Stetten am Kalten Markt« oder »Stetten am Heuchelberg«. Und trotzdem heißt es in unserem Predigttext: »Aus dir, Bethlehem Efrata, wird einer kommen, der Herrscher sein soll in Israel ... Er wird hintreten und sein Volk weiden ... Und sie werden sicher wohnen.« Sonderbar, Gott macht einen Anfang, ganz unscheinbar, im kleinen Bethlehem, einem bedeutungslosen Ort, wo keiner etwas sucht. Aber was dann folgt, ist eine unglaubliche Hoffnung für ganz Israel. So weit spannt das Prophetenwort den Bogen. Und ich bleibe hängen bei den beiden Worten »sicher wohnen«. Das ist es! Das ist die ganze Sehnsucht der Judäer in der Perserzeit. Sicher wohnen, das lässt uns fühlen und spüren, was die Menschen bedrängt. Und diese ganze Sehnsucht, die steckt jetzt in diesem einen Wort »Bethlehem«. Denn dort wird die Zukunft entschieden, dort wird etwas Neues beginnen. Die Welt wird eine andere sein. Ich glaube, diese große Hoffnung, gebunden an einen so kleinen, abseits gelegenen, unbedeutenden Ort, gibt dem Wort »Bethlehem« seine geheimnisvolle Kraft.

Das Bethlehem, das Frieden suchtLiebe Gemeinde!
Bethlehem! Diesen Ort gibt es wirklich. Er liegt heute im palästinensischen Autonomiegebiet. Und wir versetzen uns jetzt, für den Augenblick, in die Geburtskirche von Bethlehem, in den heutigen Weihnachtsgottesdienst. Wie mag es hier sein, am Christfest, wenn eben dieser Predigttext gelesen wird, aus dem Buch des Propheten Micha: »Und sie werden sicher wohnen ... Und er wird der Friede sein!« Diese Worte erfüllen klangvoll den Kirchenraum der Geburtskirche und schwingen doch aus in Dissonanzen. Denn nur wenige Kilometer nördlich von Bethlehem steht eine Mauer, bis zu acht Meter hoch. Sie gehört zur israelischen Sperranlage, die Bethlehem von Jerusalem trennt und von anderen palästinensischen Dörfern. Hier hat man den Konflikt des Nahen Ostens täglich vor Augen. Und das soziale Gefälle in Bethlehem selbst, zwischen eher wohlhabenden Christen und ärmeren Muslimen, macht das Zusammenleben auch nicht gerade leicht. Aber es geht! Heute, vielleicht auch noch morgen, wer weiß das schon? »Und sie werden sicher wohnen ... Und er wird der Friede sein!« Gibt es denn eine stärkere Weihnachtsbotschaft als diese? Mitten in Bethlehem? Mitten im Nahen Osten? Oder ist es nur ein frommer Wunsch? Die Verheißung aus dem Buch Micha, das merken wir, ist hoch brisant. Vor allem, wenn wir sie als Christen lesen. Denn für uns Christen ist ja der Friedensherrscher schon gekommen, er ist geboren im Stall von Bethlehem. Deshalb glauben wir auch, dass sich in Bethlehem, dass sich im Jesuskind erfüllt, was über den Friedensherr-scher geschrieben steht: »Schon reicht seine Macht bis an die Ränder der Erde. Und er wird der Friede sein!«

Liebe Christen hier in der Kirche!
Kühn ist diese Friedenshoffnung, die von Bethlehem. Aber wir lassen sie nicht! Wir halten sie fest! Auch wenn jetzt die ersten Kritiker um die Ecke biegen und uns fragen sollten: Was ist denn nun aus eurer Verheißung geworden? Es mag ja sein, dass Christus in Bethlehem zur Welt gekommen ist, und vielen Menschen hat er auch geholfen. Aber den Frieden, den wir in den Konfliktregionen dieser Welt so dringend brauchen, den hat er nicht gebracht. Solche Fragen darf man stellen und muss man wohl stellen. Auch ich denke darüber nach. Wenn nämlich Verheißung und Wirklichkeit auseinandertreten, sind wir als Christen doch gefragt. Umfassender Frieden in der Welt, der ist uns versprochen, warum gibt es ihn noch nicht?

Ich glaube, dass man die Frage, vielleicht nicht abschließend, aber doch ein Stück weit beantworten kann. Gott will seinen Frieden nicht ohne die Menschen durchsetzen, auch nicht an den Menschen vorbei. Gott will seinen Frieden der Welt nicht aufzwingen. Er will ihn mit uns Menschen und durch uns Menschen geschehen lassen. Alles andere wäre ja doch kein Frieden, denn der kommt nur aus dem Herzen und aus wachsendem Vertrauen. Ich glaube, dass uns Jesus das vorgelebt hat. Er war mit Menschen unterwegs, er hat sie durch sein Tun und Reden gewonnen, er hat mit ihnen zusammen Gutes erreicht und Böses durchlitten, bis hin zum Kreuz. Jesus hat uns die Freiheit geschenkt, dass wir ihm folgen, dass wir mit ihm unterwegs sind.

Und keinem einzigen hat Jesus seine Nachfolge aufgezwungen. Christsein ist wahrlich ein Weg der Freiheit! Diese Freiheit allerdings könnte in unserer westlichen Welt noch etwas evangelischer sein. Denn solche Freiheit meint ja nicht die eigene, eigensüchtige Freiheit, nämlich: dass ich tun kann, was ich will, dass ich kaufen kann, dass ich durchsetzen kann, was mir gefällt. Dann drehe ich mich doch nur um mich selbst. Freiheit, die beginnt bei der Freiheit des anderen. Wo ich dafür sorge, so wie Jesus, dass andere Menschen frei werden, frei von ihren Zwängen und Gewalten, dort wächst meine Freiheit auch. Und damit komme ich zu meinem Schlussgedanken:

Das Bethlehem, das Hoffnung schenktWir Christen sind keine Träumer mit Realitätsverlust. Wir sehen sehr wohl und mit offenen Augen den Unfrieden, den es in der Welt gibt, wir kennen die harten Fakten von Hass und Gewalt, wir wissen auch, dass es auf der politischen Bühne keine umfassenden Lösungen gibt. Aber sollen wir des-halb unsere große Weihnachtsbotschaft, unsere weit reichende Friedenshoffnung abschwächen, die Verheißung aus dem Prophetenbuch Micha mit Vorbehalten versehen oder mit verschämter Miene an die gegenwärtigen Kriegszustände passen?

Dazu gibt es keinen Grund! Natürlich kann man immer über etwas bruddeln, was schlecht läuft, was unzulänglich ist, bei anderen und dann auch bei mir selbst. Man kann hadern mit dem Versagen in unserer Gesellschaft, mit Halbherzigkeiten und den vielen kleinen Ungerechtigkeiten. Aber das gibt uns keine Kraft, keine Freude, keine Zuversicht! Nein! Heute am Weihnachtstag wollen wir uns nicht verbohren in die Zwänge und in die Halbheiten unseres Lebens, heute wollen wir uns nicht von den Misstönen unserer Welt anstecken lassen. Denn das gibt uns keine Kraft, keine Freude, keine Zuversicht! Heute am Weihnachtstag wollen wir uns ganz auf die große Verheißung verlassen, dass Christus den Frieden in unser Leben bringt. Heute wollen wir uns von dem Geschehen mitreißen lassen, das in Bethlehem Efrata begann.

Darum bleib jetzt nicht hängen bei dem, was nicht gelungen ist. Lass ruhen, womit du unzufrieden bist. Freu dich an allem, was dir gegeben ist. Wisse, dass Gott seine Flügel ausbreitet über dir und über dem, der neben dir sitzt. Lass den Stern von Bethlehem auch für dich leuchten, jetzt in diesem Moment, lass dich anstecken von der Hoffnung an Weihnachten, lass dich verwandeln durch den Heiligen Geist. Denn dem Wort »Bethlehem« wohnt ein Zauber inne, der Frieden in dein Leben bringt und in die Welt. Amen.

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