Christnacht (24. Dezember 2017)

Autorin / Autor:
Dekan Dr. Martin Hauff, Ravensburg [Martin.Hauff@elkw.de]

Jesaja 7, 10-14

Liebe Gemeinde!

Auf dem Weg hierher in den Christnachts-Gottesdienst waren die Zeichen der Zeit zu sehen: Lichter über Lichter. Lichterketten entlang der Straße, der strahlende Weihnachtsbaum auf dem Marktplatz, leuchtende Sterne in den Fenstern der Häuser und in den Auslagen der Geschäfte – und heute Morgen noch die vier Kerzen am Adventskranz. Zeichen verlangen freilich nach Deutung. Sind es Werbesignale, die uns zum Einkaufen animieren? Oder erleuchten sie unsere Stadt zum Weihnachtsfest? Es ist wohl beides. Und es kann ja gar nicht hell genug leuchten zum Christfest bis in alle Winkel unserer Stadt, auch dahin, wo es eigentlich nicht hell werden will.

Durch die festliche Beleuchtung hindurch steigen Erinnerungen auf, an den ersten Christbaum der Kindheit, an das erste erlebte Weihnachtsfest, das schemenhaft in unserem Gedächtnis präsent ist. Weihnachten und Kindheit, Erwartung und Freude gehören zusammen. Und die vertrauten Worte der Weihnachtsgeschichte, die wir in der Lesung aufs Neue gehört haben, erzählen vom aufstrahlenden Licht in der Dunkelheit und von der Freude, die sich ausbreitet – Zeichen für alle Welt und Zeit, in den Kirchen, in den Häusern, und hinausdrängend auf die Straßen und Plätze.

Zeichen der WeltzeitTag für Tag umgeben uns aber auch andere Zeichen. Auch im zu Ende gehenden Jahr 2017 wurden und werden sie uns frei Haus direkt ins Wohnzimmer geliefert und verdrängen weihnachtliche Erinnerung und Sehnsucht, Erwartung und Freude.
Die brennenden USA- und Israel-Flaggen in Nahost zeigen: Die offizielle Anerkennung Jerusalems als Hauptstadt Israels vor Abschluss eines Friedensabkommens zwischen Israelis und Palästinensern durch den amerikanischen Präsidenten war, gelinde gesagt, kein kluges Weihnachtsgeschenk. Aufflammender Hass, Steine und Rauchsäulen statt Friede, Versöhnung und Festbeleuchtung rufen große Sorgen und Ängste hervor.

Kürzlich wurde das Wort des Jahres 2017 bekannt gegeben: „Jamaika-Aus“. Das Zeichen der Jamaika-Flagge hat in Deutschland eine neue Bedeutung bekommen, weil es für das erfolglose Ende der Sondierungsgespräche für eine schwarz-gelb-grüne Koalition steht. Ratlosigkeit macht sich breit, in unserem Land und bei den europäischen Partnern, weil ein Vierteljahr nach der Bundestagswahl für unser Land noch keine stabile Regierung in Sicht ist.

Und es kommen noch weitere Zeichen der Zeit hinzu: gefährliche Spannungen und kriegerische Auseinandersetzungen, dramatische und spürbare Folgen des Klimawandels, tiefgreifende soziale Verwerfungen.

Sehnsucht nach Zeichen, die einen Horizont der Hoffnung aufreißenAll diese Zeichen gegenwärtiger Krisen fordern große Aufmerksamkeit und Konzentration. Beherrscht von diesen Zeichen der aktuellen Situation können Menschen die Zeichen der Weihnachtszeit oft gar nicht mehr wahrnehmen. Dabei weisen die Zeichen von Weihnachten auf eine andere, größere Wirklichkeit, die hinter den oft allgegenwärtigen Realitäten unserer Tage steht. Die Kraft der weihnachtlichen Zeichen, die auf die größere Wirklichkeit hinter den bedrängenden Realitäten des Tages verweisen, setzt sich immer wieder durch. Die Kraft der weihnachtlichen Zeichen bringt Menschen in Bewegung wie die Hirten. Die Sehnsucht nach einem Fest, das mehr bietet als die Sorgen des Alltags und das Leid der Situation, bricht immer wieder auf. Die Sehnsucht nach Zeichen, die den Horizont aufreißen, wird immer wieder lebendig.

Der Predigttext für die Christnacht aus dem Buch des Propheten Jesaja erzählt davon, dass Gott ein Zeichen gibt. Dieses Zeichen gibt Menschen die Chance, sich nicht länger nur von Angst, Sorgen und Krisen bestimmen zu lassen. Ein neues Zeichen, das gegen die Zeichen damaliger und aktueller Krisen streitet. Ein Zeichen, das eine neue Dimension des Lebens erschließt. Ich lese die Verheißung aus dem siebten Kapitel des Buches des Propheten Jesaja, die Verse 10 bis 14:

„Und der HERR redete abermals zu Ahas und sprach:
Fordere dir ein Zeichen vom HERRN, deinem Gott, es sei drunten in der Tiefe oder droben in der Höhe!
Aber Ahas sprach: Ich will's nicht fordern, damit ich den HERRN nicht versuche.
Da sprach Jesaja: Wohlan, so hört, ihr vom Hause David: Ist's euch zu wenig, dass ihr Menschen müde macht? Müsst ihr auch meinen Gott müde machen?
Darum wird euch der Herr selbst ein Zeichen geben: Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel (d.h. „Gott mit uns!“).“

Gottvertrauen trotz bedrohlicher Krisen-Zeichen?Wir hören hier von einer Begebenheit, die wir geschichtlich ziemlich genau einordnen können ins Jahr 733 vor Christus. Ahas, der junge König von Juda, ist in eine politisch hochbrisante und äußerst gefährliche Situation geraten. Er wurde von den Königen der Nachbarstaaten aufgefordert, sich mit ihnen gegen die feindliche Großmacht Assyrien zu verbünden. Da er dieses Ersuchen ablehnte, haben sich die Truppen der Nachbarstaaten auf den Weg gegen sein kleines Land Juda gemacht. Sein Regierungssitz Jerusalem steht kurz vor der Belagerung durch die Truppen der Nachbarstaaten. Deren Könige wollen ihn absetzen. An seiner Statt soll ein ihnen genehmer König eingesetzt werden. Als Ahas dieses gemeldet wird, heißt es sehr anschaulich: „Da bebte ihm das Herz und das Herz seines Volkes, wie die Bäume im Walde beben vom Winde.“ Was ihm gemeldet wurde, sind die Zeichen der Zeit, die Zeichen einer akuten Krise. Klar, eindeutig und bedrohlich. Da muss man handeln. Der König weiß das. Und er plant seine Aktionen.

Schon einmal hat der Prophet Jesaja den König Ahas angesprochen. Jesaja hat ihn an die Verheißung Gottes erinnert, Königshaus und Stadt zu schützen. Jesaja hat Ahas aber auch ermahnt, sich auf diese Verheißung zu verlassen, und zwar in einer Haltung gelassenen, realitätsbezogenen Gottvertrauens. Hat ihn gemahnt zu einem Gottvertrauen, das auch in Krisenzeiten durchhält. Er hat ihn gewarnt, sich nicht auf kurzfristige politische Vorteile einzulassen. Auf den Punkt gebracht: „Glaubt ihr nicht, so bleibt ihr nicht! Steht ihr nicht zu Gott, so besteht ihr nicht!“

Aber was soll Glauben in einer drohenden Kriegssituation helfen? Ahas kann sich jetzt nicht mit dem Glauben beschäftigen. Die anrückenden feindlichen Truppen sind für ihn ein klares Signal. Jetzt ist seine Aktion gefragt. Jetzt gilt es, selber zu entscheiden und zu handeln, wenn auch mit der Überlebensangst im Nacken – fragt sich, wie gut sie als Ratgeberin ist.

Angst vor dem Wagnis des Glaubens – bei Ahas damals und bei mir heuteWenn ich mir Ahas ansehe, ist er mir über die Jahrtausende hinweg erstaunlich vertraut. Wenn Schwierigkeiten vor mir stehen, wenn sich Herausforderungen und komplexe Aufgaben vor mir türmen, worauf soll ich setzen? Auf die Anforderungen, die die sogenannten Realitäten an mich stellen? Oder soll ich mich auf Gott gründen, jene Wirklichkeit hinter den vorfindlichen Realitäten? Wie Ahas gerät auch mir immer wieder aus dem Blick, dass Glaube das Vertrauen ist, das mir die notwendige Festigkeit und Klarheit für Entscheidungen gibt. Dass Glaube das Vertrauen ist, das mir Mut gibt. Dass Glaube das Vertrauen ist, das mir die Distanz zur aktuellen persönlichen und politischen Situation gibt, die eine nüchterne Entscheidung erst möglich macht.

Wenn ich mir Ahas ansehe, ist er mir über die Jahrtausende hinweg erstaunlich nahe. Er hat Angst vor dem Wagnis des Glaubens. Er kann die Krise nur als Risiko, nicht als Chance erkennen. Ahas ist dem negativen Denken verhaftet. Er ist ein Wenn-Mensch. Er sagt sich: „Wenn ich wüsste, dass alles gut geht, dann könnte ich ja auf Gott vertrauen.“ „Wenn ich sicher wäre, dass er mir durchhilft, dann könnte ich meine eigenen Aktionen und Planungen vielleicht vorerst zurückstellen.“ Wer freilich immer „wenn“ und „aber“ sagt, vergrößert die Schwierigkeiten, verzettelt seine Kräfte, gibt zu früh auf, macht sich selbst kleiner als er ist. Wie oft gehöre ich selber zu den Wenn-Menschen?

Wo dagegen das Vertrauen auf Gott, der in Treue zu uns steht und uns begleitet, die Oberhand gewinnt, da können wir Wie-Menschen sein. Wenn die Probleme uns bedrängen, wenn Hindernisse sich vor uns auftürmen, dann fragen die Wie-Menschen: „Wie kann ich das Problem lösen? Wie kann ich die Hürden beseitigen? Wie kann ich mich selbst überwinden – mit Gottes Kraft im Rücken?“

Gott ermüdet, wo Menschen ihn unterfordernNun wird der Prophet ein zweites Mal zum König geschickt. Angesichts der Zeichen akuter Bedrohung bekommt Ahas vom Propheten das Angebot, ein Zeichen von Gott zu fordern, ein Zeichen der Treue Gottes inmitten der akuten politischen und persönlichen Krise. Aber Ahas hat Jesajas Angebot, von Gott ein Zeichen zu fordern, abgelehnt. Er will Gott nicht versuchen. Oh ja, richtig, das soll man ja auch nicht. Aber in seinem Fall ist das nichts als eine schön und richtig formulierte Ausrede. Dahinter steckt in Wahrheit eine völlig ermüdete Gottesbeziehung: Die Lage ist so hoffnungslos und verfahren, was kommst du mir da mit Gott? Was soll der da noch helfen? Ahas, der Mensch, müde geworden zu glauben, müde geworden zu hoffen. Er kann nicht mehr glauben, dass Gottes Möglichkeiten größer sind als das, was er sich vorstellen kann.

Mit äußerst kritischem Unterton entgegnet Jesaja seinem König: Menschen ermüden sogar Gott, wenn sie ihn unterfordern, statt ihn herauszufordern. Menschen ermüden Gott, wenn sie von Gott nichts mehr erwarten, was ihre Lebenssituation, und sei sie noch so ausweglos, zum Besseren wenden könnte. Menschen machen Gott müde, wenn sie aufgehört haben, sich von Gottes Zusagen und Verheißungen bewegen zu lassen.

Gott gibt dennoch ein Zeichen seiner Treue – das Kind, das in Kürze geboren wirdAber Ahas, der König, der Menschen und Gott müde gemacht hat, der nicht einmal mehr zu bitten wagte, der bekommt nun doch ein Zeichen. Unabhängig von menschlichem Wollen oder Bitten gibt Gott souverän ein Zeichen: „Siehe, eine Jungfrau ist schwanger und wird einen Sohn gebären, den wird sie nennen Immanuel.“ Das Zeichen, das Gott gibt, ist ein Kind. Es ist ein Zeichen geschenkter Lebendigkeit; ein neues Zeichen, das gegen die Zeichen damaliger und aktueller Krisen streitet. Ein Zeichen, das eine neue Dimension des Lebens erschließt: Hoffnung und Zukunft, Dankbarkeit und Freude, aber auch Geheimnis und Wunder. Das Entscheidende ist der Name des Kindes: Immanuel, d.h. „Gott mit uns“.

Für Ahas, den König, der von Gott nichts mehr erwartet hatte, heißt das: Du bist nicht alleine, Ahas. Gott kommt zu dir, ist mit dir, stärkt dir den Rücken. Er ist die große Kraft, die hinter dir steht. Zu dir, Ahas, kommt in diesem Kind, was dir fehlt: Erwartung und Leben in deine Hoffnungslosigkeit, Hoffnung gegen allen Augenschein, Zukunft in einer schwer zu überblickenden Wirklichkeit. Dankbarkeit und Freude anstelle von Verbitterung und Resignation.

Dieses Kind kommt. Die Jungfrau ist schon schwanger. Das Kind ist schon verborgen da im Leib seiner Mutter. So verborgen kommt Gott in unsere Welt und mischt sich in ihr ein. So wie zu Ahas kommt Gott mit diesem Kind zu uns müde gewordenen Menschen. Gott kommt, unabhängig von unseren Erwartungen; Gott kommt, auch wenn wir von ihm vielleicht nichts mehr erwarten oder bisher noch nichts erwartet haben.

Jesajas Immanuel-Weissagung als Verstehenshilfe für die ChristgeburtJesajas Worte haben den frühen Christen geholfen, die Geburt und dann auch das ganze weitere Leben Jesu zu verstehen. Mit dem Kind in der Krippe kommt Gott selber herein in diese Welt. Er ist fortan ganz nah bei den Menschen. Er ist mit ihnen unterwegs. Gottes Mit-Sein mit Israel und der Menschheit hat in Jesus eine neue und endgültige Gestalt gefunden; deshalb ist er der verheißene Immanuel.

Auf manchen mittelalterlichen Krippendarstellungen sind Engel mit dem Spruchband abgebildet: „Natus est Emanuel – geboren ist Immanuel.“ Die Hirten, so erzählt die Weihnachtsgeschichte im Lukas-Evangelium, haben als erste von diesem Hoffnungszeichen erfahren. „Das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen“, so sagt ihnen der Engel in der Heiligen Nacht. Diese Ankündigung des Zeichens setzt die Hirten in Bewegung. Ihre anfängliche Furcht wandelt sich in Staunen über das Weihnachtswunder. „Natus est Emanuel – geboren ist Immanuel.“ Gott ist zur Welt gekommen, nicht als Gewaltherrscher, sondern als verletzliches Kind in der Krippe. Die Alleinherrschaft menschlicher Angst und Sorgen ist gebrochen, mit dem Kind kommen Vertrauen, Freude und Klarheit in unser Menschenleben herein.

In diesem Kind kommt Gott uns ganz nahe. Der Weg des Kindes führt von der Krippe an alle Orte menschlichen Daseins, auch an die scheinbar gottverlassenen Orte – Jesus sucht sie auf. Es gibt keine letzte Verlassenheit mehr, seit Gott in diesem Kind Mensch wurde. Der Weg des Kindes führt schließlich ans Kreuz. Gott ist mit uns, selbst im Leiden, auch im Tod. Immanuel, Gott ist mit uns, auch über den Tod hinaus, indem er uns in die Klarheit des neuen ewigen Lebens führt.

„Hier ist Immanuel!“ als Thema der gesamten Lebensgeschichte JesuDas erste der vier Evangelien, das Matthäus-Evangelium, hat Jesu Lebensgeschichte konsequent unter dem Immanuel-Thema gestaltet: Das Matthäus-Evangelium beginnt damit, dass Josef im Traum vom Engel gesagt wird, dass Marias Kind dasjenige ist, auf das in Wahrheit zutrifft: Immanuel, Gott ist mit uns. Und das Matthäus-Evangelium endet damit, dass der auferstandene Jesus Christus seinen Jüngern und Jüngerinnen zusagt: „Ich bin bei euch, ich bin mit euch alle Tage bis an der Welt Ende.“ Auf ihn vertrauen wir als Christen und Christinnen, an Weihnachten, aber darüber hinaus alle Tage. An ihn, den Immanuel, glauben wir.

Im Vertrauen auf den weihnachtlichen Immanuel unsere Aufgaben anpackenEine weise Frau unserer Tage hat den Glauben an diesen Immanuel-Jesus einmal so ausgedrückt: „Glauben heißt erkennen, dass die Aufgabe, die vor uns liegt, nie so groß ist wie die Kraft, die hinter uns steht.“(1) Auf die Kraft, die hinter uns steht, auf Gottes Mit-Sein in Christus, verweisen in diesen Weihnachtstagen die weihnachtlichen Zeichen der Lichter und Kerzen. Das Licht von Weihnachten gibt unseren Wegen den Glanz aus der Höhe und stärkt unseren Glauben. Und: „Glauben heißt erkennen, dass die Aufgabe, die vor uns liegt, nie so groß ist wie die Kraft, die hinter uns steht.“ Amen.

Anmerkung:
1 Pam Vredevelt, in: Die Losungen der Herrnhuter Brüdergemeine für das Jahr 2016, 18.10.2016.

Wesentliche Anregungen für die vorliegende Predigt verdanke ich:
- Kathrin Oxen, Der müde König und das Kind, Predigt über Jesaja 7,10-14, 24.12.2005, veröffentlicht unter: Der Predigtpreis;
- Gunda Schneider-Flume, „Die Zeichen der Zeit“, Predigt zu Jesaja 7,10-14, predigten.evangelisch.de, 24.12.2011;
- Niels Hasselmann / Helge Adolphsen, Vergiss nicht, dass du Flügel hast, Predigtmeditation zu Jesaja 7,10-14, in: PSt(S) IV/1, 1999/2000, S. 54-63;
- Magdalene L. Frettlöh, Maria liest Jesaja... Wider die Ermüdung Gottes und der Menschen, Predigtmeditation zu Jesaja 7,10-14, in: GPM 72/1 (4. Vierteljahresheft 2017), S. 55-65;
- Odil Hannes Steck, Beiträge zum Verständnis von Jesaja 7,10-17 und 8,1-4, in: ders., Wahrnehmungen Gottes im Alten Testament, München 1982, S. 187-203.

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