Christnacht (24. Dezember 2018)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Dr. Susanne Edel, Kirchentellinsfurt [Susanne.Edel@elkw.de]

1. Timotheus 3, 16

Zur Intention:
Ich möchte zeigen, dass die Bedeutung von Weihnachten dem Verstand zugänglich ist und zugleich doch nur im Staunen erfasst werden kann. Am liebsten möchte ich die Leserinnen und Leser performativ ins Staunen mitnehmen, wie Gott im Menschen zur Welt kommt, und ihnen zugleich die Freiheit der Distanzierung lassen.

Ein Geheimnis liegt in der LuftEin Geheimnis liegt in der Luft. Der Duft von Tannennadeln und Gebäck steigt in die Nase. Irgendwo flötet jemand. Ein Kind flüstert der Schwester etwas ins Ohr. Unterm Weihnachtsbaum liegen Geschenke. Es ist Heilig Abend.
Inzwischen sind die Geschenke ausgepackt. „Woher wusstest du, dass….“, staunte einer. Die Überraschung ist gelungen. Wie schön, wenn das so ist!
„Das Schönste, was wir erleben können, ist das Geheimnisvolle“, hat Albert Einstein einmal gesagt. Er hat als Physiker geforscht und erkundet, was es mit den kleinsten Teilchen der Materie auf sich hat. Wichtige naturwissenschaftliche Erkenntnisse hat er zutage gefördert. Was hat er mit Geheimnisvollem am Hut?
Der Bibeltext, den wir heute zu Weihnachten lesen – aus einem Brief, den der Apostel Paulus an seinen Mitarbeiter Timotheus geschrieben hat in 1. Timotheus 3,16 – malt uns ein Geheimnis vor Augen:
„Und groß ist, wie jedermann bekennen muss, das Geheimnis des Glaubens:
Christus ist geoffenbart im Fleisch,
gerechtfertigt im Geist,
erschienen den Engeln,
gepredigt den Völkern,
geglaubt in der Welt,
aufgenommen in die Herrlichkeit.“

„Geheimnis des Glaubens“„Geheimnis des Glaubens!“ -
Ist Weihnachten ein Geheimnis? In der Schule schnellen die Finger hoch, wenn der Lehrer fragt: „Was bedeutet Weihnachten?“ „Da ist Jesus geboren, in der Krippe. Maria und Josef sind seine Eltern. Die Hirten kamen zu Besuch. Und die Könige aus dem Morgenland!“ Vielleicht fügt einer hinzu „Da ist Gott Mensch geworden.“ Bei Kindern schließt solches Wissen das Staunen nicht aus.
Was bedeutet Weihnachten – für uns als Erwachsene? In der Fußgängerzone gehen wir schnell vorbei an dem Mann mit dem Megaphon und den frommen Heftchen. Unerträglich, wenn einer vorgibt, ganz genau zu wissen, wie das ist mit Gott und der Welt und mir. Ich als Erwachsene habe da so meine Fragen. „Gott wird Mensch“ – das scheint ein Widerspruch in sich. Das Wort „Gott“ bedeutet ja auf alle Fälle: „nicht Mensch“ Was genau soll die so genannte „Menschwerdung Gottes“ an Weihnachten besagen? Irgendwas mit heiler Welt und Friede auf Erden, munkelt man…

Himmel und Erde berühren sich„Vom Himmel hoch, da komm ich her. Ich bring euch gute neue Mär. Der guten Mär bring ich so viel, davon ich singen und sagen will.“ Martin Luther hat dieses Weihnachtslied Engeln in den Mund gelegt.(1) „Mär“ bedeutet Nachricht. Die Nachricht kommt vom Himmel auf die Erde. Das Himmlische ist „geoffenbart im Fleisch“. Was in Kontrast gegeneinander stand: dort der Himmel, hier die Erde, dort das Geistige, hier das Fleischliche, dort die böse Welt, hier die himmlische Herrlichkeit – das berührt sich. Es ist nicht länger einfach Gegensatz. In der Berührung entsteht neuer Raum. Er lässt sich weder 1:1 als Himmel noch 1:1 als Erde beschreiben. Der Himmel verweist auf die Erde, die Erde auf den Himmel. Was da geschieht – ein Kind wird geboren und die Engel singen – geschieht für uns. Es geschieht an uns. Wir stehen mittendrin, von Himmel und Erde berührt.

Berührungspunkt MenschMir ist dieser Tage ein Foto von meinem Großneffen ins Haus geflattert. Es ist eine Geburtsanzeige. Immer wieder bleibe ich verzaubert davor stehen. Mir ist, als käme mit dem kleinen Jaron der Himmel zu mir.
Die Engel in Martin Luthers Weihnachtslied singen: „Ein Kindelein so zart und rein, das soll eu‘r Freud und Wonne sein!“ Der Zauber eines Neugeborenen. Eines besonderen Neugeborenen? „Es ist der Herr Christ, unser Gott, er will euch führ’n aus aller Not!“ singen die Engel weiter. Ich singe sie mit, die Himmelsnachricht. Sie klingt schön. Sie malt mir Jesus neu geboren vor Augen. Ich bin berührt.
„Davon ich singen und sagen will.“ Singen kann ich davon. Ich mag die Weihnachtslieder. Doch „davon sagen“?
Unser Predigttext lädt zum Singen ein. Diese Worte sind nämlich ein altes Lied. Vielleicht wurden sie am Anfang der Christenheit im Gottesdienst gesungen.
Doch es lässt sich auch sagen, wovon wir singen. Glaube und Vernunft gehören zusammen. Der gelehrte Einstein war davon überzeugt. Die Vernunft weiß: Sie kann weder beweisen, dass es Gott gibt, noch kann sie es widerlegen. Eine Himmelsnachricht kann nicht in menschlichen Worten aufgehen. Wo Himmel und Erde sich berühren – da verwandelt sich das scheinbar Bekannte in ein Geheimnis. Weihnachten sagt: Der Berührungspunkt trägt ein Gesicht. Himmel und Erde berühren sich in der Geburt eines Menschenkindes. Gott kommt als Mensch in die Welt. „Geheimnis des Glaubens.“ Erfasst werden kann ein Geheimnis am ehesten dort, wo ich staune. „Wer sich nicht mehr wundern und in Ehrfurcht verlieren kann, ist seelisch bereits tot“, sagt Einstein.
„Geheimnis des Glaubens.“ Vom griechischen Wortlaut her steht in unserem Predigttext: „Geheimnis der Frömmigkeit“. Frömmigkeit ist, was aus dem Glauben fließt: Ehrfurcht, Achtung, Respekt– vor Gott und Mensch. Gott ist nicht nur im Himmel, sondern auch auf der Erde. In jedem Menschen. In einem Menschen hat er dies besonders gezeigt – „geoffenbart“. Er heißt Jesus. Angewiesen und bedroht ist er geboren. Grausam zugerichtet gestorben. Er hat eine große Bewegung ausgelöst. Wie konnte das passieren? Es bleibt geheimnisvoll. „Er ist auferstanden. Er lebt. Ich erfahre, wie er mir Kraft gibt. Er nimmt meine Angst!“ so erzählen Menschen bis heute und nennen dies Gotteserfahrung. Und irgendwie stehen wir mittendrin in dieser Bewegung. Sonst würden wir diese Worte nicht lesen. „Und weil ich nun nichts weiter kann, bleib ich anbetend stehen!“ dichtet Paul Gerhardt im Lied: „Ich steh‘ an deiner Krippen hier“. (2) Da ist es wieder, das Staunen und Singen. Und die Ehrfurcht.

Ausgezeichnet für FriedenIm Kino habe ich mir den Film „Malala“ angeschaut. Er hat mich bewegt. Malala hat 2014 mit 17 Jahren den Friedensnobelpreis bekommen, so jung – das gab’s noch nie! Sie ist in Pakistan aufgewachsen. Leidenschaftlich setzt sie sich dafür ein, dass Mädchen in die Schule gehen können. Sie ist überzeugt: Menschen, die in die Schule gehen, können respektvoller miteinander und mit dieser Erde umgehen. Sie können nachdenken über sich und das Leben. Die Ideologie der Taliban setzt alles daran, Schulbildung zu verhindern. 400 Schulen haben Anhänger dieser Ideologie gesprengt. Und sie haben den Schulbus überfallen, in dem Malala saß. Fast wäre es ihnen gelungen, sie zu töten. Niemand dachte, dass sie den Schädeldurchschuss überleben würde. Doch das Wunder geschah. Ihr Gesicht ist nun halbseitig gelähmt. Aber sie lebt und sie kann sprechen. Sie lebt in England, in Pakistan bleibt es zu gefährlich. Weltweit ermutigt sie junge Menschen, für ihre Bildung zu kämpfen. –Als ihr Vater gefragt wurde, ob die Person gefunden wurde, die seine Tochter erschießen wollte, hat er gesagt: „Das war keine Person, das war eine Ideologie.“
Ich staune. Wie kann ein Vater so über Menschen denken, die fast seine Tochter umgebracht hätten?
Auch bei Malala spüre ich keinen Hass. Wie kommt das?
„Das war keine Person, das war eine Ideologie.“ Der Attentäter war nicht bei sich selbst als kostbarer Mensch, sondern getrieben von fundamentalistischen Ideen.
Malala und ihr Vater haben Ehrfurcht vor Menschen und Gott. Der andere Mensch bleibt mir ein Geheimnis, dem ich respektvoll begegne. Auch ich selbst bleibe mir Geheimnis. Mein Lebensweg, der von Gott kommt und in Gott endet, bleibt mir Geheimnis.
Die Kraft und Würde dieser Haltung ist auch bei der Trägerin des diesjährigen Friedensnobelpreises zu spüren, der 25-jährigen Jesidin Nadia Murad.
Der Fundamentalismus blockiert Staunen und Denken. Im Glauben ist beides da und miteinander verbunden.

Im ProzessGeheimnis des Glaubens. Geheimnis von Respekt und Ehrfurcht.
Heil und friedlich ist die Welt nicht geworden, seit Jesus geboren ist. Aber ich glaube: Im Singen und Sagen und Staunen über das Kind in der Krippe können wir spüren und erfahren, wie Frieden und Heilung auf der Welt geschieht. Kraftvoll. Geheimnisvoll. Und wir mittendrin.

Anmerkungen
1 Evangelisches Gesangbuch Nummer 24, Katholisches Gesangbuch „Gotteslob“ Nummer 237.
2 Evangelisches Gesangbuch Nr.37, Gotteslob Nr. 256.

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