Christnacht (24. Dezember 2020)

Autorin / Autor:
Pfarrer Albrecht Conrad, Stuttgart [Albrecht.Conrad@elkw.de]

Matthäus 1, 18-25

IntentionWie auch die Wirklichkeit derzeit aussieht: Weihnachten bleibt ein traumhaft hilfreiches Fest.

1,18 Die Geburt Jesu Christi geschah aber so: Als Maria, seine Mutter, dem Josef vertraut war, fand es sich, ehe sie zusammenkamen, dass sie schwanger war von dem Heiligen Geist.
19 Josef aber, ihr Mann, der fromm und gerecht war und sie nicht in Schande bringen wollte, gedachte, sie heimlich zu verlassen.
20 Als er noch so dachte, siehe, da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum und sprach: Josef, du Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen; denn was sie empfangen hat, das ist von dem Heiligen Geist.
21 Und sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben, denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden.
22 Das ist aber alles geschehen, auf dass erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht (Jesaja 7,14):
23 „Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben“, das heißt übersetzt: Gott mit uns.
24 Als nun Josef vom Schlaf erwachte, tat er, wie ihm der Engel des Herrn befohlen hatte, und nahm seine Frau zu sich.
25 Und er erkannte sie nicht, bis sie einen Sohn gebar; und er gab ihm den Namen Jesus.

Traum und WirklichkeitTraum und Wirklichkeit, liebe Gemeinde! Am Heiligen Abend stoßen Traum und Wirklichkeit zusammen:
• Auf der einen Seite die Wirklichkeit unserer anscheinend gottverlassenen Welt Auf der anderen Seite die Geburt des Kindes namens Jesus, denn er wird sein Volk retten.
• Auf der einen Seite unsere Erinnerungen an so viele Heilige Abende: Feiern im Familienkreis, Gottesdienst in traumhafter Mischung aus Klang und Bibelwort. Dagegen die nüchterne Atmosphäre heute. Den aktuellen Bedingungen sind wir hilflos ausgeliefert. Ob wir wollen oder nicht, auch heute Abend gelten Abstand, Kontaktvermeidung, Hygienekonzept, Maske.
• Das Evangelium nach Lukas mit seinem Wohlfühlsound: „Maria gebar ihren ersten Sohn – wickelte ihn in Windeln – legte ihn in eine Krippe“ (Lk 2,7) Dagegen der spröde Matthäus: „Josef berührte Maria nicht, bis sie einen Sohn gebar.“
• Die traumhaft schöne Erzählung davon, wie der Sohn Gottes zur Welt kommt. Andrerseits die vielen Menschen, die das weihnachtliche Geschehen für ein Märchen halten: Jungfrauengeburt? Wer’s glaubt!

Der Wirklichkeits-Josef in der traumhaften Geschichte vom ChristfestJosef glaubt’s! Liebe Gemeinde, vielleicht erkennen wir an Josefs Weihnachtsgeschichte, wie Traum und Wirklichkeit zusammenstoßen. Vielleicht sehen wir gerade an Josef, wie Traum und Wirklichkeit zusammengehören.
Erinnern wir uns an die klassischen Weihnachtsbilder. Josef steht oft einfach nur irgendwie an der Krippe und schaut trübe aus der Deko raus. Meistens sieht er aus, als sei er knapp 100 Jahre alt und gewiss keine Gefahr für die reine Magd Maria. Bisweilen macht er sogar ein Nickerchen. Nein, die Bilder verleihen dem Josef kein gutes Image. Irgendwie scheint sich der hilflose Mann zu fragen: „Was mach’ ich eigentlich hier?“ Als gehöre er nicht dazu.
Josef gehört nämlich zu uns. Ein Gegenpol zum traumhaften Schauspiel im Stall. In den Bildern und Geschichten von Weihnachten steht Josef für unsere nüchterne Wirklichkeit.
So wie er’s gelernt hat. Ist er doch Zimmermann, selbstständiger Handwerker. Da kann man nicht so viel träumen. Da muss man klar kalkulieren. Das hat Josef gelernt: nüchternes Denken.
Doch dann geschieht, woran Josef nie gedacht hätte. Maria ist schwanger. Und er war’s nicht. Da mag Josef noch so schön von einem Leben mit Maria geträumt haben – die Wirklichkeit holt ihn ein. Aus der Traum.
Und so denkt Josef nüchtern nach, was denn helfen könnte. Eins ist ihm klar: Hinnehmen will er diese Wirklichkeit nicht. Er könnte der Maria einen öffentlichen Prozess anhängen wegen Ehebruchs. Dann wäre sie bloßgestellt und er selbst ganz gut aus der Sache rausgekommen.
Aber so denkt Josef nicht. Er ist ein Ehrenmann. Er gedenkt, sich von Maria in aller Stille mittels eines Scheidungsbriefes zu trennen. Er will keinen Aufruhr, will Maria nicht in Schande bringen. Er, so heißt es, gedachte, sie heimlich zu verlassen.
Ja, Josef denkt. So ist er, der Josef: Wägt ab, überlegt, denkt nüchtern nach, gerade wenn einen die Wirklichkeit einholt. Und das tut sie, die Wirklichkeit. Sie holt einen ein. Grade heute, an Weihnachten, stößt die Wirklichkeit zusammen mit dem Anspruch dieses Festes, besonders traumhaft zu sein.

Das lässt manchen hilflos werden:
• So traumhaft wäre das Fest, wenn nicht der erste Gedanke immer den Regeln und Sorgen gälte, die die Wirklichkeit in letzter Zeit so trist aussehen lassen.
• So eine friedliche Feier könnte es sein, wenn da nicht ganz unfeierlich die Launen und die sorgfältig ausgebauten Frontlinien der Familie zusammenstießen.
• So eine starke Stimmung hatte das Fest früher, doch der schlechte Gesundheitszustand hat alle Stärke vertrieben.
So kann einen die Wirklichkeit einholen. So lässt sie einen hilflos zurück. Und man kommt ins Nachdenken, was denn helfen könne angesichts dieser Wirklichkeit. So wie Josef „gedachte, Maria heimlich zu verlassen“.

Josefs Traum von Gottes HilfeDoch, so heißt es, „als Josef noch so dachte, da erschien ihm ein Engel des Herrn im Traum.“
Ja, Josef ist wie wir. Er denkt viel. Da gibt’s auch nichts dran auszusetzen. Doch wenn er mit seinem Nachdenken an eine Grenze stößt, dann träumt Josef.
Träume sind nicht gedankenlos. Träume zeigen uns Gedanken, die tiefer sind als unser sonstiges Denken. Besser gesagt: höher.
Josefs Traum zeigt ihm Gottes Gedanken. Gedanken, von denen Josef sich nie hätte träumen lassen, wenn nicht der Engel Gottes ihm geträumt hätte. Sein Traum zeigt dem Josef, was Gott sich bei der ganzen Sache gedacht hat.
Was Gott sich gedacht hat, lässt sich im Hebräischen in einem Wort sagen, im Deutschen braucht es drei: „Jehoschua“ – also: „Jesus“, zu Deutsch: „Der Herr rettet.“ „Der Herr hilft.“ So soll Josef den Sohn nennen. Das hat Gott sich gedacht. „Der Herr hilft.“ Und damit wird ein Traum Wirklichkeit. Der Traum von Gottes Hilfe.
Der Erste, der davon erfährt, ist Josef, der Vertreter unserer Wirklichkeit. Und er erfährt es in einem Traum.
Das heißt: Unserer bisweilen so hilflosen Wirklichkeit fällt der Traum ein, dass Gott hilft. In Jesus gehören Wirklichkeit und Traum zusammen. Drum ist Weih-nachten, ganz gleich wie die Wirklichkeit heute Abend aussieht, drum ist Weih-nachten auf alle Fälle ein traumhaftes Fest:

• Ja, wir scheitern daran, wirklichen Frieden hinzubekommen. Doch heute träumt uns von Jesus-der-Herr-Hilft: „Den Frieden lasse ich euch, meinen Frieden gebe ich euch. Euer Herz erschrecke nicht“ (Joh 14,27).
• Ja, das Fest verliert das Traumhafte, wenn der erste Gedanke immer den tristen Umständen in diesem Jahr gilt. Doch heute träumt uns von Jesus-der-Herr-Hilft: „Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte“ (Offb 1,17).
• Ja, die starken Momente des Festes fehlen heuer vielleicht. Doch hören wir auf die frohe Botschaft von Jesus-der-Herr-Hilft. „Meine Kraft ist in den Schwachen mächtig“ (2.Kor 12,9).
Liebe Gemeinde, vermutlich macht der Josef auf manchen Bildern deswegen ein Nickerchen, damit er träumen kann. Darin ist der Josef nämlich Vor-Bild: Durch Träume lässt er in sein Denken Neues und Undenkbares hinein.
Josef ist noch nicht traumlos geworden, so wie mancher Realist, der Träume lediglich als Traumhäuser, Traumjobs und Traumurlaube denken kann. Nein, Josef lässt sich im Traum auf Gottes Gedanken ein. Er nimmt die Wirklichkeit nicht wichtiger als den Traum von Gottes Hilfe.
Damit ist unsere Wirklichkeit, damit ist auch Josefs nüchternes Denken gerade nicht abgewertet. Nein, wir können unseren Realismus behalten. Gott stülpt unserer Wirklichkeit nicht einfach einen Traum über, damit wir sie nicht mehr sehen müssen.
In Jesus Christus zeigt sich vielmehr, wie ernst Gott unsere Wirklichkeit nimmt. Er nimmt sie an als seine Wirklichkeit, bis er hilflos am Kreuz hängt. Unsere Hilflosigkeit hat er dort endgültig durchkreuzt.

So nehmen wir uns Josef als Vorbild: Wir träumen von Gottes Hilfe in Jesus Christus. In unserem Herrn und Heiland verschmelzen Traum und Wirklichkeit.
Wie auch immer meine, wie auch deine Wirklichkeit ausschaut: Weihnachten bleibt ein traumhaft hilfreiches Fest. Amen.

An dieser Predigt haben mitgeschrieben: Michael Fritzen; Heike Schmoll; Christoph Türcke.

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