Christnacht (24. Dezember 2023)

Autorin / Autor:
Pfarrer PD Dr. Peter Haigis, Springe [peter.haigis@kloster-wuelfinghausen.de]

Lukas 2,1-20

IntentionDie Predigt will die Analogien aufzeigen, die zwischen dem schlichten und elementaren, aber Hoffnung entzündenden Geschehen damals in einer durchaus trostlosen Zeit und unserer Trostbedürftigkeit heute bestehen.

Predigttext1 Es begab sich aber zu der Zeit, dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, dass alle Welt geschätzt würde. 2 Und diese Schätzung war die allererste und geschah zur Zeit, da Quirinius Statthalter in Syrien war. 3 Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. 4 Da machte sich auf auch Josef aus Galiläa, aus der Stadt Nazareth, in das judäische Land zur Stadt Davids, die da heißt Bethlehem, darum dass er von dem Hause und Geschlechte Davids war, 5 auf dass er sich schätzen ließe mit Maria, seinem vertrauten Weibe; die war schwanger. 6 Und als sie daselbst waren, kam die Zeit, dass sie gebären sollte. 7 Und sie gebar ihren ersten Sohn und wickelte ihn in Windeln und legte ihn in eine Krippe; denn sie hatten sonst keinen Raum in der Herberge. 8 Und es waren Hirten in derselben Gegend auf dem Felde bei den Hürden, die hüteten des Nachts ihre Herde. 9 Und des Herrn Engel trat zu ihnen, und die Klarheit des Herrn leuchtete um sie; und sie fürchteten sich sehr. 10 Und der Engel sprach zu ihnen: Fürchtet euch nicht! Siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volk widerfahren wird; 11 denn euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr, in der Stadt Davids. 12 Und das habt zum Zeichen: Ihr werdet finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen. 13 Und alsbald war da bei dem Engel die Menge der himmlischen Heerscharen, die lobten Gott und sprachen: 14 Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens. 15 Und da die Engel von ihnen gen Himmel fuhren, sprachen die Hirten untereinander: Lasst uns nun gehen gen Bethlehem und die Geschichte sehen, die da geschehen ist, die uns der Herr kundgetan hat. 16 Und sie kamen eilend und fanden beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen. 17 Da sie es aber gesehen hatten, breiteten sie das Wort aus, welches zu ihnen von diesem Kinde gesagt war. 18 Und alle, vor die es kam, wunderten sich über die Rede, die ihnen die Hirten gesagt hatten. 19 Maria aber behielt alle diese Worte und bewegte sie in ihrem Herzen. 20 Und die Hirten kehrten wieder um, priesen und lobten Gott für alles, was sie gehört und gesehen hatten, wie denn zu ihnen gesagt war.


Liebe Gemeinde,
ich weiß ja nicht, wie es Ihnen geht, wenn Sie die Worte des Weihnachtsevangeliums hören; für mich liegt darin ein besonderer Zauber. Sie nehmen mich auf eine gewisse Weise gefangen. Natürlich, die Weihnachtserzählung des Evangelisten Lukas ist ein Stück Weltliteratur geworden – zumal in der poetischen Übersetzung Martin Luthers. Und persönliche Kindheitserinnerungen kommen hinzu. Sie färben diese Worte so ein, dass ich sie gar nicht anders hören kann als mit dem Herzen eines Kindes.

Eine schlichte ErzählungAber es kommt noch etwas Anderes hinzu: etwas, das mich auch als erwachsenen, rational denkenden Menschen für diese Geschichte einnimmt. Es ist ein elementares menschliches Erlebnis, das in einfachen Worten ohne große Ausschmückungen geschildert wird: die Geburt eines Kindes. In schlichten Verhältnissen. Ich will nicht sagen: „ärmlich“, denn dass wir uns diese Szene in Armut und Erbärmlichkeit vorstellen, sind Übermalungen aus späterer Zeit. Aber die schlichten Verhältnisse entsprechen dem Elementaren, das erzählt wird. Nichts lenkt vom Zentrum ab, um das es geht.
Um eine junge Familie geht es, fern der Heimat. Eine undurchschaubare politische Regie nötigt sie zu einer Reise. Sie finden ein Nachtquartier, das uns nicht weiter beschrieben wird. Von einem Stall ist jedenfalls nicht die Rede! Die hochschwangere Frau gebiert dort ihr erstes Kind. Sie hüllt es in einfache Laken und bettet es in einer Futterkrippe. Diese Erwähnung gab später Anlass, bei dem Ort an eine Viehstallung zu denken. Doch möglich wäre auch, dass Josef, der Zimmermann, aus einer abgestellten Futterkrippe ein kleines Bettchen für das Neugeborene zurechtmachte.
Eine einfache Geschichte kleiner Leute. Und dann ist noch von Hirten die Rede, die nachts draußen auf einer Weide ihre Herden hüten. Man darf sich diese Hirten sicher nicht als die Besitzer der Herden vorstellen. Knechte waren sie, einfache Leute – auch sie.
Auffällig ist: alles, was geschildert wird, erscheint in einem recht knappen, nüchternen Berichtston. Wir erfahren wenig über die Gefühle und Gedanken der Personen, um die es hier geht – fast nichts.
Worin besteht also das Besondere, das Einzigartige in dieser Geschichte, das uns noch nach 2000 Jahren dazu bringt, diese Erzählung anzuhören und über sie nachzudenken? Was kann sie uns heute denn bedeuten?

Alltägliches und NamenlosesAls ich den biblischen Text zur Vorbereitung dieses Gottesdienstes noch einmal las, ist mir etwas aufgefallen, das ich – so jedenfalls – bisher noch nicht bemerkt hatte: Die Erzählung von der Geburt Jesu in Bethlehem hat überhaupt nichts Bedeutsames, nichts Weltbewegendes, nichts Auffallendes – sieht man von der besonderen Schlichtheit der gesamten Szenerie einmal ab. Tausende solcher Begebenheiten mag es geben, Tag für Tag. Und nicht wenige davon finden vielleicht unter noch einfachen, ja ärmeren und elenderen Verhältnissen statt. Auch die Personen, um die es geht, stellen nichts Besonderes dar: ein Zimmermann, wie es damals viele gab, eine jüdische Frau, wie es damals viele gab, und ein Kind, anfangs noch ohne Namen, später dann mit Namen „Jesus“, nicht gerade selten damals.
Über all das braucht man eigentlich nicht viele Worte zu verlieren. Dann ein Szenenwechsel: Wir befinden uns nun irgendwo draußen außerhalb des Ortes. Die genauen Lokalitäten sind unbekannt, auch unwichtig. Wiederum wird etwas ganz Alltägliches und Namenloses erzählt: Hirten hüten des Nachts ihre Herden ... na und?
Erst dann geschieht das Entscheidende, was es wert macht, dass diese Geschichte weitererzählt wird bis auf den heutigen Tag: Ein Engel erscheint und enthüllt den Hirten das Geheimnis, das hinter all der Einfachheit und Bedeutungslosigkeit dieser Nacht liegt. Und hier – nur hier – ist dann auch von einem Gefühl die Rede: Die Hirten fürchteten sich sehr. Wie ein Blitz fährt die Botschaft des Engels in diese Szene hinein. Unfassbar, ja fast komisch, klingt es, was er den Hirten zu sagen hat, weil es so wenig mit dem zu tun zu haben scheint, was rundherum zu sehen und zu erleben ist. In dieser ganz gewöhnlichen Nacht soll der lang verheißene und ersehnte Heiland geboren sein, der Messias, der Retter Israels, der Christus. Nicht in einem Palast, nicht in einem herrschaftlichen Haus, sondern in einer einfachen Hütte. Nicht von vornehmem Geschlecht und Adel, sondern von schlichten Leuten aus dem Volk. Unscheinbar ist dieser Retter, verborgen und selbst schutzbedürftig. Die Botschaft des Engels ist seltsam und unglaublich zugleich, denn der einzige „Beweis“, den der Engel für seine Botschaft hat, sind die Windeln und die Krippe – zweifellos keine königlichen Insignien!

Eine fast unglaubliche BotschaftUnd doch: wenn uns etwas an dieser Geschichte nahe ist, dann genau dies – die so unglaublich scheinende Botschaft des Engels. Wir leben vielleicht weniger in der Bescheidenheit und Armut jener Leute, von denen uns hier erzählt wird. Aber wir teilen mit ihnen die Bitterkeit und Enttäuschung über eine zutiefst friedlose Zeit. Kriege wurden auch damals geführt und Familien auseinandergerissen. Menschen wurden vertrieben oder verschwanden einfach. Angst vor terroristischen Angriffen, vor einer gefräßigen politischen Willkür und die Sorgen eines hierdurch beunruhigten Lebens kannten die Menschen damals ebenso wie wir heute. Sie erlebten wie wir, dass die Gerechtigkeit mit Füßen getreten wird. Sie erlebten wie wir, dass einem Frieden, der nicht mit Waffengewalt verteidigt wird, wenig bis keine Chancen eingeräumt werden. Sie erlebten und erlitten wie wir den langsamen Tod der Hoffnung auf eine bessere Zukunft.
Wieviel bitteren Beigeschmack streuen uns die aktuellen Nachrichten von terroristischen Anschlägen und kriegerischen Aufmärschen in unsere Festzeiten? Wie schwer lässt sich ein kleiner Raum aussparen, um das „Fest des Friedens und der Liebe“ zu feiern, ohne sogleich von dem Gefühl ereilt zu werden, sich dabei vielleicht nur etwas vorzumachen? Da geht es uns wie dieser Familie aus Bethlehem: Wir finden keinen Raum in unserer Herberge, um unsere Hoffnung auf Frieden zu betten. Es bleibt nur eine einfache Futterkrippe als ihre Wiege.

Gott zu Gast in unserem LebenAber auch in unsere Erfahrung fährt heute die Weihnachtsbotschaft wie ein Blitz hinein. So merkwürdig, so unglaublich, so widersprüchlich wie in der biblischen Erzählung: „Auch uns ist heute der Heiland geboren.“ Und das müssen wir nun verdauen wie die Hirten von damals. Es gibt keine Zeit und keinen Ort auf dieser Welt – will uns diese Botschaft sagen –, wo Gott nicht einen Weg finden würde, um zu uns zu kommen. Es gibt keine Trostlosigkeit, keine Not, keine Angst und keine Resignation, die so groß wäre, dass sie Gottes Weg zu uns verbauen könnte. Gott findet auch dort Raum, wo unsere Lebensherbergen eng und unwirtlich sind. Er lässt sich auch dort nieder, wo es unaufgeräumt und chaotisch zugeht. Denn genau da will sein Licht über uns aufgehen und für uns leuchten.
Die Zeichen, die „Beweise“, die wir zur Bestätigung dieser Botschaft erhalten, sind selbst nur sanft und schwach, aber sie sprechen eine leise, einladende Sprache: „Ihr werdet das Kind Gottes mitten unter euch finden. Es wird eingehüllt sein in die Laken, die aus euren Ängsten herausgesponnen sind. Es wird in einer Krippe liegen, die aus dem Holz eurer Sorgen geschnitzt ist. Geht nur hin und seht nach. Gott ist dort, wo ihr am schwächsten und am ärmsten seid. Dort stellt er sich als Gast bei euch ein.“
Die Hirten gingen nach Bethlehem hinein, um sich die Sache selbst anzusehen. Und was fanden sie? Keinen König, sondern ein Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegend. Ein Kind braucht Zeit und Pflege, bis es heranwächst. Wenn Gott zu uns kommt wie dieses Kind, so braucht auch seine Gegenwart Zeit und Pflege bei uns. Die Weihnachtsbotschaft sucht Glauben und Vertrauen. Sie will sich mit der Zeit in unserem Leben bewähren. Sie will unter uns heranwachsen und uns mit dem dünnen Licht einer einfachen Hoffnung erleuchten. Geben wir ihr diese Chance! So wie die Hirten auch. AMEN.

Predigt zum Herunterladen: Download starten (PDF-Format)