Heiligabend/Christvesper (24. Dezember 2016)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Kathrin Nothacker, Wien [Kathrin.Nothacker@elkw.de]

Johannes 3, 16-21

Jetzt ist Ruhe eingekehrt. Die Dunkelheit hat sich über das Land und die Stadt gesenkt. Einzelne Lichter sind schon entzündet. Der Abend geht in die Nacht über. Und in dieser Zeit dazwischen kommen wir zu uns. Heute besonders. Hängen unseren Gedanken nach. Fragen nach dem Wesentlichen. Nach dem, was trägt. Nach dem Sinn.
Ein Mensch sucht in der beginnenden Nacht nach Jesus. Nicht nach dem Kind. Sondern nach dem Mann. Er möchte glauben und verstehen. Will wissen, wie es sein kann, dass Gott sich den Menschen zeigt und verstehen, wie ein Mensch neu werden kann. Fragt die großen Fragen des Lebens und des Glaubens. Fragt nach Gott und den Menschen.

Und Jesus antwortet ihm:

„Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass
er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die
an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern
das ewige Leben haben.
Denn Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt
gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass
die Welt durch ihn gerettet werde.
Wer an ihn glaubt, der wird nicht gerichtet;
wer aber nicht glaubt, der ist schon gerichtet,
denn er glaubt nicht an den Namen des eingeborenen
Sohnes Gottes.
Das ist aber das Gericht, dass das Licht in
die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten
die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke
waren böse.
Wer Böses tut, der hasst das Licht und
kommt nicht zu dem Licht, damit seine Werke nicht
aufgedeckt werden.
Wer aber die Wahrheit tut, der kommt zu dem
Licht, damit offenbar wird, dass seine Werke in
Gott getan sind.“

Liebe Gemeinde!

Reden wir über die Liebe.Reden wir über die Liebe. Es ist Weihnachten. Gut, dass die Bibel von der Liebe redet und nicht nur die Werbung. Weihnachten, das Fest der Liebe. Die Lieben aus Nah und Fern treffen sich. Wollen gemeinsam diese Christtage verbringen. Wünschen sich Harmonie. Hoffen, dass die Liebe alles verwandelt. Dass das Kind in der Krippe uns alle in sein Licht hineinnimmt und dass Liebe möglich oder wieder möglich ist.
Das wünschen wir uns, weil uns ja gesagt ist: „So sehr hat Gott die Welt geliebt“, dass auch wir lieben können und dürfen und sollen.
Aber ach, wir sind keine Kinder mehr. Und wissen, wie schwer es ist, diesen Erwartungen zu entsprechen. Wie schwer es ist, einander zu lieben, zu respektieren, zu ertragen. Wir wissen, wie brüchig unsere menschliche Liebe ist. Wie schwach. So schwach, dass es manchmal noch nicht einmal den Heiligen Abend hält. Und sie lässt sich nicht erkaufen, diese Liebe, nicht durch Geld und nicht durch Geschenke.

Gut, dass es nicht nur bei der Liebe zwischen den Menschen an Weihnachten bleibt oder gar auf diese ankommt. Gut, dass es zuerst um Gottes Liebe geht: „Denn also hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“
Gott sei Dank ist Gottes Liebe einfach da. Umsonst, geschenkt, ohne Vorbedingungen, ohne die Erwartung von Gegenliebe. Gottes Liebe wird uns einfach geschenkt – an diesem Weihnachtsfest, aber auch an allen anderen Tagen, den fröhlichen und den traurigen, den sonnigen und den düsteren.

„Gottes Liebe ist wie die Sonne, sie ist immer und überall da...“ Ich erinnere mich an dieses Lied, das wir als Kinder und Jugendliche mit Begeisterung gesungen haben. „Hinter dunklen Wolken scheint sie strahlend hell.“ Und eigenartig: Bis auf den heutigen Tag muss ich immer an dieses Lied von der Liebe Gottes denken, wenn das Flugzeug an grauen und regenschweren Tagen startet und schon nach wenigen Minuten die oft meterdicke Wolkendecke durchbricht und die Sonne strahlend hell am blauen Himmel erscheint. „Gottes Liebe ist wie die Sonne. Sie ist immer und überall da.“
Gott sei Dank ist Weihnachten. Gott sei Dank liebt uns Gott.

Reden wir über das Gericht.Reden wir über das Gericht.
Wir leben in keiner heilen Welt. Da machen wir uns nichts vor – auch nicht an Weihnachten. Vielleicht wird es in diesen Tagen sogar noch viel deutlicher und augenfälliger als sonst: Wir leben in einer gebrochenen, gefallenen Welt. Die Bibel redet von der Liebe Gottes, die in die Welt kommt. Aber schon wenige Sätze danach vom Gericht:
„Das ist aber das Gericht, dass das Licht in die Welt gekommen ist, und die Menschen liebten die Finsternis mehr als das Licht, denn ihre Werke waren böse.“

Die Dinge, die in der Welt geschehen, wirken auf uns manchmal wie ein Gericht. Die Welt wird heimgesucht und gerichtet. Ja, und die Werke der Menschen sind böse. Wir richten Unheil an, verstricken uns in Schuld, im Großen wie im Kleinen, in der Politik wie in der Familie.
Menschen lieben die Finsternis mehr als das Licht: Diktatoren beugen das Recht und knechten die Menschen; der Krieg in Syrien nimmt kein Ende, die Gewalt im Irak und Afghanistan treibt immer mehr Menschen in die Flucht.
Und fragen wir nach den Ursachen und nach den Möglichkeiten, die wir haben, gegen Finsternis und böse Werke anzugehen, so werden wir ratlos.

Wir fühlen uns gerichtet und sitzen oft genug auch über andere zu Gericht. Der amerikanische Wahlkampf hat uns fassungslosen Europäern gezeigt, wie gnadenlos in aller Öffentlichkeit der eine Kandidat über die andere Kandidatin gerichtet hat – und umgekehrt auch. Wie pauschal über Menschen Urteile gesprochen wurden, mit welchen Attributen sie belegt wurden.
Gnadenlos geht es aber oft auch zu in den sozialen Medien: Da wird man an einem Tag geliked und am nächsten Tag erreichen einen Hassmails. Und alles gnadenlos öffentlich. Viele Jugendliche drohen daran zu zerbrechen.

Ja, und manchmal sitzen wir auch über uns selbst zu Gericht. Wir genügen unseren eigenen Ansprüchen nicht. Ich nehme das in den letzten Jahren zunehmend bei Frauen wahr. Sie wollen allen und allem gerecht werden: den Kindern, dem Beruf, dem Ehemann, den alten Eltern. An Weihnachten besonders. Und zerreißen sich zwischen dem eigenen beruflichen Fortkommen, dem Fahrdienst für die Kinder, dem Zubereiten von gesundem Essen, der eigenen zu pflegenden Attraktivität und vielem mehr. Und sie sind dann so gnadenlos zu sich, denken, sie müssen auf jedem Feld perfekt sein und verlieren sich oft genug selbst.

Aber wie heißt es in unserem Weihnachtsevangelium: „Gott hat seinen Sohn nicht in die Welt gesandt, dass er die Welt richte, sondern dass die Welt durch ihn gerettet werde.“

Gottes Gericht ist anders. Gottes Gericht ist Rettung. Ja, es ist auch Hingabe an diese heillose, lieblose, gnadenlose und sich selbst richtende Welt. Gott denkt nicht an sich, an das eigene Recht, die Satisfaktion, die Ehre und den Ruhm, die ihm zustehen würden. Er gibt sich hin, verliert sich in die verlorenen Menschen hinein. Kommt herunter.

Uwe Seidel hat es so gesagt:

Du bist ein heruntergekommener Gott
mit dem Vieh
in einem Stall
den Armen unter einem Dach
zwielichtigen Gestalten
steckst du unter einer Decke
Gott-sei-Dank
müssen wir dich nicht mehr
in den Himmel predigen
und dich in den Weiten allen Alls suchen
und uns selber verlieren
Du hast uns gefunden
auf der Erde
mit Anfang und Ende
in Freud und Leid
Du bist ein heruntergekommener Gott
wenn auch der Weihrauch bald verdampft
und wir uns an den Stallgeruch
gewöhnen müssen
wenn sie dich auch aufs Kreuz legen
du aber die Leichtigkeit erfährst
weil du das Schwerste erlitten hast
Ein Glück dass du
die Erde wieder mit dem Himmel verbindest
und ich mich nicht klein machen muss
du, mein zu mir heruntergekommener Gott.

Gottes Gericht ist ein Zurechtbringen von Auseinandergebrochenem, etwas, das heilt und Verschobenes wieder zurechtrückt. Gott gibt sich in unsere Welt, in der wir andere und uns selbst beständig richten, hinein. Steigt tief hinab bis in die Krippe und bis ans Kreuz, um uns vor diesem ewigen Richten und Gerichtet-Sein zu retten. Nicht zu richten ist er gekommen, sondern zu retten.
Gott sei Dank.

Reden wir über den Glauben.Reden wir zuletzt noch über den Glauben.
Heute wollen wir glauben.
Mit unserem Glauben antworten auf Gottes Liebe.
Glauben an das Licht, an Gottes recht schaffendes Gericht, an die Liebe, an den Gott, der sich auf den Weg gemacht hat in unsere Welt.

Und wir wollen an das Leben glauben, an ewiges Leben. Leben jenseits aller Dunkelheiten, aller Verzweiflung, aller Unwahrheit und Dummheit. Darauf vertrauen, dass Gott es mit uns und der Welt gut meint. Denn mit dem Kind in der Krippe und dem Mann am Kreuz verspricht uns Gott Zukunft, eben ewiges Leben.

Lassen wir es uns einfach und schlicht gesagt sein. Glauben wir und lassen es Weihnachten werden: „So sehr hat Gott die Welt geliebt, dass er seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an ihn glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Leben haben.“

Amen.
Literaturhinweis: Uwe Seidel, Gottes Glück; aus: Hanns Dieter Hüsch/Uwe Seidel, Das kleine Buch zum Glück, S. 40, 2012/6 © tvd-Verlag Düsseldorf, 2001.




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