Drittletzter Sonntag des Kirchenjahrs (09. November 2025)

Autorin / Autor:
Pfarrerin i.R. Dr. Susanne Edel, Tübingen [susanne.edel@rs-edel.de]

Lukas 6,27–38

Intention
Ich möchte dazu verlocken, es mit dem „Segnet, die euch fluchen!“ einfach mal zu probieren – und sich zu weigern, dem, der mir Böses will, gleich zu werden.

Predigttext Lukas 6,27–38
27Aber ich sage euch, die ihr zuhört: Liebt eure Feinde; tut wohl denen, die euch hassen; 28segnet, die euch verfluchen; bittet für die, die euch beleidigen. 29Und wer dich auf die eine Backe schlägt, dem biete die andere auch dar; und wer dir den Mantel nimmt, dem verweigere auch den Rock nicht. 30Wer dich bittet, dem gib; und wer dir das Deine nimmt, von dem fordere es nicht zurück. 31Und wie ihr wollt, dass euch die Leute tun sollen, so tut ihnen auch!
32Und wenn ihr liebt, die euch lieben, welchen Dank habt ihr davon? Denn auch die Sünder lieben, die ihnen Liebe erweisen. 33Und wenn ihr euren Wohltätern wohltut, welchen Dank habt ihr davon? Das tun die Sünder auch. 34Und wenn ihr denen leiht, von denen ihr etwas zu bekommen hofft, welchen Dank habt ihr davon? Auch Sünder leihen Sündern, damit sie das Gleiche zurückbekommen. 35Vielmehr liebt eure Feinde und tut Gutes und leiht, ohne etwas dafür zu erhoffen. So wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Höchsten sein; denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.
36Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. 37Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben.38Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.

Win-win
Win-win-Situationen sind viel wert. Eine Lösung, bei der beide Seiten gewinnen. Um sie zu finden, gilt es, genau hinzuhören: Was braucht die andere Seite? Welches Anliegen leitet sie? Und welches mich?
Hoher Gewinn wird uns in diesem Text vor Augen gemalt: Wer den vorgezeichneten Weg einschlägt, wird zu den „Kindern des Höchsten“ gehören! Doch zunächst scheinen die anderen zu gewinnen – die Feinde! Denen darf es doch nicht gutgehen. Die müssen doch spüren, dass sie mit dem Bösen nicht durchkommen. Strafe muss sein! Oder?

Sonne über allen
Ungerührt von meinen Vorstellungen schüttet Gott großzügig Lebensmöglichkeiten über alle aus. „Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben.“ Dabei ist „Gott… gütig gegen die Undankbaren und Bösen“. Nicht nur denen gegenüber, die „Gottes Kinder heißen.“
Finde ich das eigentlich gut? Bin ich innerlich im Frieden mit einem Gott, der die Bösen nicht mehr mit einer Sintflut aus der Welt schafft? Warum kann der Herzinfarkt nicht die Bösen unserer Welt treffen anstatt den Familienvater von nebenan? Mag ich Gottes Barmherzigkeit, oder geht es mir wie Jona, der der Stadt Ninive den Untergang wünscht?
Mich ficht manchmal an, dass das Leben so ungerecht ist. Dass Gottes Allmacht sich auf die Liebe festgelegt hat. Viel zu oft sehe ich nichts von der Macht der Liebe. Und wo kämen wir hin, wenn wir an Gottes Güte Maß nehmen würden in unserem menschlichen Handeln? Ausgenutzt würden wir da, bestenfalls belächelt und ignoriert.

Wo kämen wir hin?
Die andere Backe hinhalten! Dem Räuber auch noch das Untergewand reichen, während er mit dem Mantel auf und davon will! Immer geben, geben… Mühsam finden nicht zuletzt Frauen in unzähligen Therapiestunden heraus aus dieser Rolle, lernen endlich „Stopp!“ zu sagen und auch das zu sehen, was sie brauchen. Und auf keinen Fall dürfen solche Jesusworte Eingang finden in politische Handlungsstrategien. Da würden sich die anderen ja ins Fäustchen lachen! Sie würden uns überrollen…
Merkwürdig: Angesichts dieser Jesusworte springen in uns vor allem Abwehrstrategien an wie „Schon recht – aber…“ In der Tat gibt es 1000 schlaue Gründe, warum das, was uns Jesus in diesen Worten ans Herz legt, nicht 1:1 umgesetzt werden darf. Wo kämen wir hin!
Allein: Mich stimmt nachdenklich, was schon alles in der Geschichte passiert ist, wenn Menschen geschaut haben, wohin sie kommen, wenn sie diese Worte sich zu Herzen nehmen und in Kopf, Hand und Fuß fließen lassen. Mahatma Gandhi hat nicht verstanden, weshalb die Christen ihrer Bergpredigt nicht folgen. Die Bewegung um Martin Luther King hat ihr vertraut. Der russische Präsident Gorbatschow ließ in den 80er-Jahren das Buch von Franz Alt, das die Bergpredigt politisch versteht, ins Russische übersetzen.
Aber…. Ja, das Aber steigt sofort in uns auf. Mögen wir diese Jesus-Worte überhaupt an uns ranlassen? Oder ist unsere Angst viel zu groß? Angst vor einer Ausweitung des russischen Überfalls auf weitere Länder. Angst, wie es überhaupt weitergehen kann, wo so viel in dieser Welt zum Himmel schreit.

Mut fassen
Aus den Worten Jesu spricht Mut. Wo soll er herkommen in unseren angsterfüllten Herzen – wenn nicht aus Jesu Worten?
Es lohnt sich, die beiden Szenen mit der Backe und dem Untergewand genauer anzuschauen. Sie atmen nämlich Mut. Jesus ruft hier mit seiner Aufforderung, die andere Backe hinzuhalten, nicht etwa dazu auf, Gewalt einfach zu erdulden. Wenn eine Hand das Gesicht berührte, konnte das in seiner Zeit etwas ganz Unterschiedliches bedeuten: Der Schlag mit dem Handrücken demütigte das Gegenüber. So schlugen Herren ihre Sklaven. Mit der Handfläche die Backe des Gegenübers zu berühren war eine Begrüßung unter Freunden. Jesus sagt demnach: Wer dich mit dem Handrückenschlag demütigen möchte – dem zeige: Ich bin ein Mensch wie du. Halte ihm die linke Backe hin – dann muss er entweder seine Hand verdrehen, um erneut zuzuschlagen – doch das wirkt lächerlich. Oder er kann mit der Handfläche deine linke Wange berühren – doch will er dich sicher nicht als Ebenbürtigen begrüßen! Wer so die linke Wange hinstreckt, irritiert das Gegenüber in seinem Tun. Er widersteht der Demütigung – ohne zurückzuschlagen. Er verweigert sich den Mitteln des Gegenübers.
Davon spricht auch die zweite Szene: „Wer dir den Mantel nimmt, dem gib auch den Rock!“ Nacktheit galt als Schande, auch für die, die sie verursachen. Wer dem Räuber zum entrissenen Mantel hin auch noch die Untergewänder hinstreckt, provoziert Schamgefühle beim Gegenüber. Auch er verlässt das passive Hinnehmen und handelt.
Jesus macht Mut, zur eigenen Würde zu stehen und so der Angst zu begegnen.

Den Frieden wecken
Doch was ist aus dieser Friedenslogik geworden! Ich trauere. Es tut mir weh, wie wir angesichts des Einfalls des russischen Militärs in der Ukraine die Friedenslogik wie vom Tisch gewischt haben.
Wo ist der Wille der Völker geblieben, sich als Nationen zu vereinen und das Gewaltmonopol an die UN zu geben? Nicht länger sollten doch nationale Interessen bestimmen können, wie ich mich gegen einen Überfall wehre! Ich bin so froh, dass ich mich in Deutschland bei einem Angriff vom Nachbarn an die Polizei und ans Gericht wenden kann! Die Wege dazu, dass dies auch zwischen Nationen gilt, haben wir ja international gebahnt. Ich betrauere, dass wir die Durchsetzung bis jetzt nicht hinbekommen.
Und ich trauere um die vielen, vielen, vielen Toten in Kriegen dieser Tage. Auf allen Seiten. Das unvorstellbare Grauen in Israel und Gaza, im Donbass und Charkiw. Und schrecklicherweise auch wieder in den Wohnungen von Jüdinnen und Juden in Deutschland, wo die Hassnachrichten und Todesdrohungen das Herz lähmen.
Wie können wir der Gewaltspirale in die Speichen fallen? Trauern ist vielleicht ein Anfang.

Freude
Aber auch die Freude. Darf man sich zur Zeit eigentlich noch freuen? Manchmal frage ich mich das angesichts all der Schreckensmeldungen. Ich hole mir noch einmal das Bild der Fülle hervor, in das Jesus seine Worte einbettet. Die Überfülle dessen, was mir in den Schoß fällt. Ja, da ist viel. Ich kann mich mitfreuen, wenn der kleine Enkel voller Begeisterung die Welt entdeckt und was er alles hinkriegt. Und merkwürdig: Wenn ich mit ihm zusammen war, ist mein Herz irgendwie wieder weiter geworden. Dann geht es leichter, dass von Gottes Großzügigkeit etwas auf mich überspringt. Dann reagiere ich ebenfalls großzügig: Einer bläfft mich an – und ich denke: Puh, was muss bei dem heute Morgen schon alles gewesen sein, dass er so drauf ist! Ich wünsch ihm jetzt was ganz Schönes! „Segnet, die euch fluchen!“, sagt Jesus. Freut euch an dem, was euch geschenkt ist – und lasst es überfließen!
Trauer und Freude – beide liegen bei mir in diesen Tagen nahe beieinander.

9. November
Auch heute, am 9. November.
Seit meinen Jugendtagen gehören zu diesem Tag Gedenkveranstaltungen. Sie geben dem Unfasslichen Ausdruck. Unsere ganz normalen Vorfahren haben sechs Millionen ganz normale jüdische Menschen getötet. Es waren unsere Väter und Mütter im Glauben, unsere Glaubensgeschwister. Am 9. November 1938 haben überall in Deutschland die Synagogen gebrannt und mit ihnen die Torarollen und die uns verbindenden Worte: „Du sollst Gott lieben von ganzer Seele, von ganzem Herzen und mit all deiner Kraft“ (Dtn 6,5). Und: „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Lev 19,18).
Unfasslich. Nicht erst, als ich 1980 in Auschwitz vor dem Berg von Kinderschuhen stand, flossen meine Tränen. Ich trauere. Bis heute.
Und Freude steigt in mir auf, wenn ich an den 9. November 1989 denke. Mauerfall in Berlin. Ein paar Tage später fuhren unsere Freunde aus Halle an der Saale mit der ganzen Familie in ihrem Trabi bei uns vor. Unfasslich – wir konnten sie einfach in die Arme schließen. Alle fünf waren sie wenige Tage vorher auf der Straße gewesen, haben schießbereiten Panzern in die Augen gesehen. Vor dem Stasigebäude in Leipzig standen Leute mit ihren Kerzen in der Hand und den Schildern: „Keine Gewalt“. Dabei hatten sie durchaus Angst – Angst vor den eigenen Landsleuten, die wutentbrannt die Stasizentrale stürmen wollten. Was für ein Blutbad wäre das geworden – zitternd lugten droben die Stasimitarbeitenden aus den Fenstern, bis an die Zähne bewaffnet. Es war gutgegangen. Es fiel kein einziger Schuss. Die DDR-Diktatur war beendet – ohne Blutvergießen. Was für eine Freude!
Nie wieder Auschwitz! Nie wieder Krieg! Ja, so soll es miteinander weitergehen!
Unsere Freunde waren damals aus den Friedensgebeten in den Kirchen heraus auf die Straße gegangen. „Bittet für die, die euch schädigen!“ Das hatten sie getan und ihre Schilder in die Hand genommen: „Keine Gewalt!“ Kraft geschöpft und Mut gefasst hatten sie aus dem Frieden Gottes, der höher ist als alle Vernunft. Und der Erstaunliches zustande bringt…
Ich mag in seiner Spur Wege suchen, der Gewalt Einhalt zu gebieten. Auch die, die schädigen, sollen leben können. Ich glaube, es gibt ein Win-win – nicht erst im Himmel. Amen.

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