Erntedank (01. Oktober 2017)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Gabriele Walcher-Quast, Heilbronn [gabriele.walcher-quast@elk-wue.de]

Jesaja 58, 7-12

Ein schlichter BrotlaibRund und schön gestaltet liegt er auf dem Altar. Der Brotlaib. An Erntedank darf er nicht fehlen. Er ist unser Ursymbol für die Ernte, für alles, was gewachsen ist, was den Leib nährt und das Herz erfreut. Eigentlich erstaunlich, dass so ein einfacher Brotlaib in seiner Schlichtheit in unserer Welt immer noch Symbol ist für Leben im Genug, für die Fülle. Symbol dafür, dass unsere elementaren Bedürfnisse befriedigt sind. Symbol für „alles, was Not tut für Leib und Leben, wie Essen, Trinken, Kleider, Schuh, Haus, Hof, Acker, Vieh, Geld, Gut, fromme Eheleute, fromme Kinder, fromme Gehilfen, fromme und treue Oberherren, gute Regierung, gut Wetter, Friede, Gesundheit, Zucht, Ehre, gute Freunde, getreue Nachbarn“ – wie Luther das zur vierten Vaterunser-Bitte ausführt. Wir haben zur Genüge: Trotz unterdurchschnittlicher Getreideernte und etwa der Hälfte weniger Obst, das in diesem Jahr geerntet werden kann, sind wir weit entfernt von Hunger und Not. Wir haben allen Grund zum Erntedank.
Rund und schön gestaltet liegt er auf dem Altar. Der Brotlaib. Rund und schön und unangetastet. Der Predigttext für diesen Erntedanksonntag tastet ihn an, nimmt ihn, bricht ihn, teilt ihn, Jesaja 58,7 bis 12:

„Heißt das nicht: Brich dem Hungrigen dein Brot, und die im Elend ohne Obdach sind, führe ins Haus! Wenn du einen nackt siehst, so kleide ihn, und entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut!
Dann wird dein Licht hervorbrechen wie die Morgenröte, und deine Heilung wird schnell voranschreiten, und deine Gerechtigkeit wird vor dir hergehen, und die Herrlichkeit des Herrn wird deinen Zug beschließen.
Dann wirst du rufen, und der Herr wird dir antworten. Wenn du schreist, wird er sagen: Siehe, hier bin ich.
Wenn du in deiner Mitte niemand unterjochst und nicht mit Fingern zeigst und nicht übel redest, sondern den Hungrigen dein Herz finden lässt und den Elenden sättigst, dann wird dein Licht in der Finsternis aufgehen, und dein Dunkel wird sein wie der Mittag.
Und der Herr wird dich immerdar führen und dich sättigen in der Dürre und dein Gebein stärken. Und du wirst sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der es nie an Wasser fehlt.
Und es soll durch dich wieder aufgebaut werden, was lange wüst gelegen hat, und du wirst wieder aufrichten, was vorzeiten gegründet ward; und du sollst heißen: ‚Der die Lücken zumauert und die Wege ausbessert, dass man da wohnen könne‘."

Es ist GnadenzeitEs geht uns gut. Überflutet vom materiellen Wohlstand in einem der reichsten Länder dieser Welt, werden wir heute an Erntedank, wo wir für all das Gute danken, was wir schon haben – und die Betonung liegt auf „haben“ – werden wir in diesem Text auch noch überflutet von Heilszusagen. Von einem erlösten Sein. Licht sein und heil sein, gerecht sein, gesättigt, geführt, gestärkt werden, ein bewässerter Garten, eine Quelle sein, Baumeister und Friedensstifter. Wie ein warmer Sommerregen schüttet Gott sein Heil über uns aus.

Es ist Gnadenzeit. Du, sagt er. Du kannst begnadet sein. Du kannst jetzt schon an diesem vollkommenen Heil teilhaben. Nicht erst am Ende der Zeit. Nicht erst unter einem neuen Himmel und einer neuen Erde. Es ist Gnadenzeit – auch für uns Christen, seit Jesus in der Synagoge zu Kapernaum verkündet hat, dass von nun an Gerechtigkeit herrscht und die Menschen aus den Völkern in die Geschichte Gottes mit seinem Volk hinzutreten. „Der Geist des Herrn ist auf mir, weil er mich gesalbt hat und gesandt, zu verkündigen das Evangelium den Armen, zu predigen den Gefangenen, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen, und die Zerschlagenen zu entlassen in die Freiheit und zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn." Es ist Gnadenzeit: wenn das Wörtchen „wenn“ nicht wäre.
Entzieh dich nicht.
Entzieh dich nicht deinem Fleisch und Blut. Schau nicht weg. Fang nicht an, das Unrecht wegzudiskutieren, such die Schuld nicht bei denen, die nichts haben. Schau genau hin. Versteck dich nicht hinter dem Argument, dass man eh nichts machen kann. Zerbrich das Joch. Lass die Armen dein Herz finden. Sie sind tief mit dir verbunden.

Im JochAn vielen Orten dieser Erde, aber gerade da, wo für unsere Küchen und unseren Essenstisch günstigste Nahrungsmittel produziert werden, lastet das Joch auf denen, die die Arbeit verrichten. Foigga, das apulische Zentrum des Tomatenanbaus ist einer dieser Orte. In Apulien werden auf etwa 30.000 ha 90% der geschälten Tomaten weltweit angebaut. Auf ihrem Weg nach Norden stranden dort viele Flüchtlinge aus Sizilien. Für Hungerlöhne von 2 bis 3 Euro pro Kiste Tomaten arbeiten die Migranten tagelang im Akkord. Den Lohn bestimmt der Vorarbeiter. In Ghettos auf freiem Feld, gebaut aus Karton, Wellblech, Asbest und Wertstoffen kampieren die Geflüchteten, abgeschnitten vom Recht, von Sozialstandards, von der Bevölkerung. Armutsviertel mitten in Europa.

UnsichtbarAndrejs und Madalina sind Unsichtbare in dem deutschen Dorf, in dem sie leben und arbeiten. Ein 1200 Seelen-Dorf. Jeder kennt hier jeden. Aber die hundert Billigarbeiter aus Osteuropa, die für ein paar Monate oder für ein paar Jahre dort leben, kennt niemand. Sie teilen sich zu mehreren Dutzend ein Haus. Sie machen einfache Arbeiten. Madalina hat in Rumänien studiert, bevor sie mit ihrem Freund nach Deutschland gekommen ist. Jetzt packt sie in einer Fabrik Kuchen in Kartons. Deutsch hat sie von Kollegen gelernt. Freunde hat sie trotzdem nicht. Grüße bleiben oft unerwidert. Die seltenen Kontakte mit der Nachbarschaft verlaufen freundlich, bleiben distanziert.

Versteckt armJulia ist alleinerziehende Mutter von drei Kindern. Arbeitet als Kassiererin. Sie kämpft sich seit Jahren durchs Leben. Nur nicht nachlassen. Nur nicht krank werden. Durchkommen. Winterschuhe für die Kinder, eine kaputte Waschmaschine, Schulausflüge, oder einfach das neue Schuljahr mit den Einkaufslisten der Kinder bereiten ihr schlaflose Nächte. Sie hat keine finanziellen Reserven. Die Kinder sind in Sportvereinen aktiv. „Secondhand gibt´s gute Kleider“, sagt Julia. „Aber einfach mal so ein Eis in der Eisdiele, das ist bei uns nicht drin.“ Ihr großer Wunsch: mal zusammen in den Urlaub fahren.

Un-rechtVon Menschen wie Julia handelt der jährliche Armutsbericht. 2017 wurde veröffentlicht: 10% der Reichsten besitzen die Hälfte des Vermögens. Der Vermögensanteil der Menschen am unteren Ende der Skala ist in den letzten Jahren von 3% auf 1% gesunken. Dazu passen die Zahlen, die das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung berechnet hat: Von dem Geld aus den mehr als 150 Familienleistungen – Elterngeld, Kindergeld, Kita-Zuschuss – landen 13 Prozent der Fördersumme bei den reichsten zehn Prozent der Familien und nur sieben Prozent bei den ärmsten zehn Prozent. Ein armes Kind ist dem Staat monatlich im Schnitt 107 Euro wert, ein reiches 199 Euro.

Entkoppelte Lebenswelten verbindenWo ordnen wir uns ein in der Skala von reich bis arm? In der Mitte? In der Mitte, die in Bewegung geraten ist? Die um den erreichten Wohlstand fürchtet, die sich sorgt, abgehängt zu werden? Woran orientieren wir uns? Am Reichtum der oberen Zehntausend? An der Vorstellung eines Lebens mit viel Geld, das mit Einfluss und Macht verbunden ist? Eine Vorstellung, die die Kluft zu Menschen in versteckter Armut nur noch größer werden lässt.
Oder lassen wir unser Herz finden von der abgespannten Kollegin, dem fremden Nachbarn, den hart für wenig Lohn arbeitenden modernen Sklaven? Das Herz, das sich finden lässt, hat die Kraft zu heilen, sagt Jesaja. Sich be-ziehen statt ent-ziehen heilt Pessimismus und Wut, Verbitterung und zuletzt die Zukunftsangst. Jesus hat es in der Synagoge von Kapernaum nicht nur verkündet, er hat es uns in aller Konsequenz vorgelebt. Und nicht nur Andrejs und Madalina und Julia sehnen sich nach dieser Welt heilvoller Beziehungen. Diese Sehnsucht steckt tief im Herzen. Sehnsucht danach, zu „sein wie ein bewässerter Garten und wie eine Wasserquelle, der ihr Wasser nicht ausgeht“.

BrotbrechenRund und schön liegt er auf dem Erntedankaltar, der Brotlaib. Er genügt sich nicht selber. Er will geteilt werden. Will den Hunger stillen an Leib und Seele. Will im gemeinsamen Brechen und Essen die Herzen verbinden, die sich gefunden haben. AMEN.

Wichtige Anregungen für diese Predigt sind entnommen aus: Johannes Taschner, „Reiße jedes Joch weg!“ – Gerechtigkeit in der Zeit des Heils, Göttinger Predigtmeditationen 71.Jahrgang, Heft 4, S. 432-437; Julia Friedrichs, Jedes 5. Kind ist arm, ZEIT Nr. 02/2017.

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