Erntedank (07. Oktober 2018)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Gabriele Walcher-Quast, Heilbronn [gabriele.walcher-quast@elk-wue.de]

1. Timotheus 4, 1-5

Essen als MegathemaSie sind nicht mehr wegzudenken aus der täglichen Fernseh-Unterhaltung: Johann Lafer, Alfons Schuhbeck, Horst Lichter oder – um eine der wenigen Frauen im Metier zu nennen –Sarah Wiener. Sie servieren uns via Bildschirm gegrilltes Landbrot, Beef Wellington an Rotweinsauce und Mohnschupfnudeln mit Rumzwetschgen. Und vor dem Fernsehapparat läuft uns das Wasser im Mund zusammen. In anderen Formaten messen sich Hobbyköche oder Landfrauen und eifern den Profis in der Zubereitung von Hausmannskost bis zu raffinierten kulinarischen Genüssen nach. Und auf Instagram posten Leute ihre angerichteten Teller, bevor sie zu Messer und Gabel greifen. Essen ist zum Megathema geworden! Kochsendungen sind der Hit, Kochbücher sind Verkaufsschlager.

Iss dich gesund!Lecker essen. Lustvoll essen. Besser essen. Und – besonders wichtig – gesünder essen! Der Umgang mit dem Essen hat sich in den letzten Jahrzehnten ständig verändert. Heute stehen wir das ganze Jahr über vor vollen Regalen und fragen uns: Was soll ich, was darf ich, was kann ich essen? Clean-Labels, „Frei von“-Produkte haben sich in den letzten 10 Jahren mehr als verdreifacht. Viele ernähren sich ohne Notwendigkeit lactose- oder glutenfrei, weil sie es für gesünder halten. Die Intensität der Werbung, der Empfehlungen und Mahnungen steigt. Low Carb, Paleo, Vegan, Vegetarisch, Superfood und Ayurveda sind die neuesten angesagten Trends. Und wer von uns will nicht „trendy“ sein, wer ist dagegen schon immun? Erst recht dann, wenn die Aussicht besteht, ein paar Kilo weniger auf der Waage zu haben. Oder wenn wir befürchten, dass das Essen uns krank machen könnte.
Heute gibt es eine Vielzahl an Ernährungsformen und immer mehr Menschen, die sich ihnen mit Leib und auch mit der Seele verschrieben haben: Ernährungsfundamentalisten haben gewaltige Anhängerschaften. Das bunte Angebot ist in der Regel mit verwirrend gegensätzlichen Warnungen verbunden. Bei Paleo müssen Milch und Milchprodukte, Getreide und Brot gemieden werden. Sich vegan ernähren heißt: Fleisch und andere tierische Produkte dürfen auf keinen Fall gegessen werden. Low Carb meidet Kohlehydrate.

Essen macht SinnSage mir, was du isst, und ich sage dir, wer du bist. Die vielstimmige Aufforderung zum Essen heute heißt nicht mehr: „Du darfst“, sondern „Du musst die passende Ernährung für dich finden!“ „Richtiges" Essen wird zum Symbol für ein gelingendes, perfektes Leben. Es gibt Sinn und Struktur und das Gefühl: Ich habe in dieser verrückten Welt wenigstens die Kontrolle über mich und meinen Körper. Dabei ist der Verzicht das neue Glaubensbekenntnis des Essens. "Richtig" essen wird zum Bekenntnis. Kochbücher werden zu Bibeln, das falsche Essen zur Sünde, Köche zu Predigern und Follower und Feinschmecker zu Jüngern. Der Kult ums Essen hat alle Züge einer Ersatzreligion. Und wird verbunden mit dem Versprechen, schlank und fit zu werden, mit dem Versprechen von Gesundheit und nicht zuletzt mit dem Versprechen von Heil-Sein und Heil-Werden. Ernährung wird so der Schlüssel zur Erlösung, zur Selbsterlösung.
Erlösungssehnsucht trieb wohl auch die urchristlich „verführerischen Geister und Lehren“ an, mit denen die Pastoralbriefe ringen: Während die Essensjünger heute ganz ins Hier und Jetzt eintauchen, versuchten sie damals durch Askese die Welt hinter sich zu lassen und dadurch Gott näher zu kommen.
Hören wir auf 1. Timotheus 4, 1-5:
„Der Geist aber sagt deutlich, dass in den letzten Zeiten einige von dem Glauben abfallen werden und verführerischen Geistern und Lehren von Dämonen anhängen, verleitet durch Heuchelei der Lügenredner, die ein Brandmal in ihrem Gewissen haben.
Sie gebieten, nicht zu heiraten und Speisen zu meiden, die Gott geschaffen hat, dass sie mit Danksagung empfangen werden von den Gläubigen und denen, die die Wahrheit erkannt haben.
Denn alles, was Gott geschaffen hat, ist gut, und nichts ist verwerflich, was mit Danksagung empfangen wird; denn es wird geheiligt durch das Wort Gottes und Gebet.“

Frei zum Genießen – frei zum VerzichtDas Essen hat schon immer in allen Religionen eine Rolle gespielt. Um Speise-Ge- und Verbote ist schon in den frühen christlichen Gemeinden gerungen worden. Paulus hat sich mit der Frage auseinandergesetzt: Darf Fleisch gegessen werden, das aus dem Opferkult für den Kaiser stammt – oder wird man darin Gott untreu? Lästert man dadurch Gott? Und er sagt dazu: Du bist frei! Du kannst alles essen, solange du guten Gewissens für das, was du isst, Gott danken kannst. Ob Genuss oder Verzicht: Du bist frei, wo du beides als Ausdruck der Bindung an Gott verstehst. Und so unterscheidet auch der Timotheusbrief christliche Freiheit von gottloser Grenzenlosigkeit.

Grenzenlos essenUnsere Ernährung ist heute in vielfacher Hinsicht grenzenlos. Sie kommt aus aller Welt. Sie muss makellos im Regal glänzen. Sie bewegt sich im Premiumbereich. Wir leben auf hohem Niveau, kaufen nach Schönheitskriterien und essen vom Tier nur noch die besten Teile. Eine Bäuerin, die Bullenmast betreibt, sagte mir vor Kurzem: „Rinderfilet und Entrecote können in der Menge, in der sie bei uns über die Ladentheke gehen, nicht nur von einheimischen Rindern kommen. Bei uns werden vom Tier nur wenige Teile gegessen. Der Rest wird auf dem Weltmarkt verkauft.“ Das gilt für alle unsere Nutztiere. Auch das schafft grenzenlose Probleme, Ungleichgewichte und Ausbeutung von Menschen und Ressourcen. Das Handeln gegen besseres Wissen, das Verdrängen der eigenen Einsicht, das ist heute unser „Brandmal im Gewissen“, ein blinder Fleck, über den wir großzügig hinwegsehen.

Dankbarkeit macht achtsamAlles, was Gott geschaffen hat, ist gut! Gott hat in seiner Schöpfergüte alle Nahrung zum Wohl des Menschen geschaffen und nichts verworfen. In der Mannigfaltigkeit und Fülle wird die Güte des Schöpfers sichtbar, riechbar, schmeckbar. Wir können und sollen uns daran freuen. Und wir sollen Gott dafür danken. Im Dank binden wir uns zurück an den Geber, haben ein Gegenüber und merken: Es geht durch unsre Hände, Kochtöpfe und Mägen – kommt aber her von Gott. Es ist Gott, der uns die Hände füllt. Wir sind Empfangende und Beschenkte. Nahrung und Wasser, diese Lebensnotwendigkeiten sind nicht einfach nur so – beziehungslos – in der Welt, um von uns achtlos oder auf raffinierte Weise verbraucht oder gar weggeworfen zu werden. In der Rückbindung im Dank an Gott liegt der Schlüssel zu einem verantwortungsbewussten Umgang mit den Schöpfungsgaben. Im Dank stellen wir uns unserer Verantwortung, sorgsam mit Frucht und Tier, mit der Ernte und all ihren Erzeugnissen umzugehen, auch einen gerechten Preis dafür zu zahlen.
Erzeuger beklagen, dass die guten Vorsätze oft am Geldbeutel enden. Bekundungen, mehr für regionale Produkte, für Fleisch aus Tierwohlhaltung und Eier aus Freilandhaltung auszugeben, bleiben oft gute Vorsätze. Und was billig ist, wird leichter weggeworfen.
Doch das, was Gott geschaffen hat, ist „zu gut für die Tonne“. Und die besten Stücke und die meisten Lebensgrundlagen unserer Erde für sich zu beanspruchen und zu verbrauchen, blendet unsere christliche Verantwortung für diese Welt aus. Stellen wir uns also der Verpflichtung zu einem Umgang, bei dem wir uns nicht selber in die Tasche lügen. Lernen wir immer wieder neu das Danken.

Tischgebet und Tischgemeinschaft wurzeln im Erntedank„Schmeckt das Essen anders, wenn wir vorher beten?“, fragt mich die fünfjährige Anna nach dem Tischgebet im Kindergarten und schaut mich mit großen fragenden Augen an. „Schmeckt es dann besser?“ Und noch bevor ich kindgerecht theologisch meine Antwort formulieren kann, gibt Tim lautstark seine Antwort: „Nein“, schreit er, „Salat mag ich trotzdem nicht!“ „Der ist aber gesund“, weiß Anna. „Ist mir doch egal, ich mag lieber Pommes!“
„Liebe Anna und lieber Tim, alles was Gott gemacht hat, ist gut. Dem einen schmeckt Salat besser, dem anderen schmecken Kartoffeln. Wenn ihr zu viel esst, kriegt ihr Bauchweh. Und dann schmeckt gar nichts mehr. Wenn wir vor dem Essen beten, sagen wir: danke, Gott! Weil wir´s von Gott bekommen haben. Und beim Tischgebet freuen wir uns schon drauf, wie gut es schmecken wird: der Salat und die Pommes. Und wir möchten dann, dass Kartoffeln und Gemüse auch in Zukunft wachsen, und wir und überhaupt alle Menschen satt werden können.“ So oder so ähnlich habe ich es auch meinen Kindern zu erklären versucht, damit sie verantwortlich mit Lebensmitteln umgehen.
Über das Tischgebet und den Erntedankgottesdienst kommen wir neu ins Danken! Und mit dem Dank an Gott geben wir dieser Welt ein Vorbild, wenn wir vor dem Essen beten und wenn wir gemeinsam die Erntegaben feiern!
Gott sei Dank geschieht heute in den Elternhäusern, in Kindergärten, Schulen und in den Medien viel Bewusstseinsbildung in Sachen Ernährung. Und wir können Sie noch steigern, indem wir andere an unseren Tisch einladen und gemeinsam das Danken üben und das Dankgebet sprechen. So einfach geht’s. Denn „durch Danken kommt Neues ins Leben hinein“. Amen.

Wichtige Anregungen für diese Predigt sind entnommen aus:
Jürgen Roloff, Der erste Brief an Timotheus, Evangelisch-Katholischer Kommentar zum Neuen Testament, EKK XV; Susanne Schäfer, Die Religion des Essens, DIE ZEIT Nr. 6/2016 und die daran anschließenden Kommentare im Netz; Die Essensjünger, Kultur.ARD.de, 18.12.2013, Interview mit Dr. Kai Funkschmidt, Evangelische Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW).

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