Erntedank (01. Oktober 2023)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Dr. Eberhard Grötzinger, Stuttgart-Weilimdorf [e.groetzinger@vodafone.de]

Lukas 12,13-21

IntentionIch möchte darlegen, dass die Versuchung, Glück und Zufriedenheit durch materiellen Wohlstand, Macht und Ansehen erreichen zu wollen, uralt ist. Und ich möchte dafür werben, zu überlegen, worin der „Reichtum bei Gott“ im eigenen Leben bestehen mag.

Wie kann es sein, dass jemand überaus erfolgreich ist in seinem Leben und doch dabei das Beste verpasst? Und wie kann es geschehen, dass jemand zur Besinnung kommt und dann glücklich und zufrieden wird?
Am eigentlichen Sinn und Ziel des Lebens vorbei zu leben, scheint ein weit verbreitetes Phänomen unserer Zeit zu sein. Aber es ist uralt. Es kommt schon in der Bibel vor. Der Evangelist Lukas hat uns dazu folgende Begebenheit aus dem Leben Jesu überliefert (12,13-21):

„Es sprach aber einer aus dem Volk zu Jesus: Meister, sage meinem Bruder, dass er mit mir das Erbe teile. Er aber sprach zu ihm: Mensch, wer hat mich zum Richter oder Schlichter über euch gesetzt? Und Jesus sprach zu ihnen: Seht zu und hütet euch vor aller Habgier; denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat. Und er sagte ihnen ein Gleichnis und sprach: Es war ein reicher Mann, dessen Land hatte gut getragen. Und er dachte bei sich selbst und sprach: Was soll ich tun? Ich habe nichts, wohin ich meine Früchte sammle. Und sprach: Das will ich tun: Ich will meine Scheunen abbrechen und größere bauen und will darin sammeln all mein Korn und meine Güter und will sagen zu meiner Seele: Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut! Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern. Und wem wird dann gehören, was du bereitest hast? So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott.“

Von der Gefahr, das Beste zu verpassenIst es nicht legitim, wenn jemand den ihm zustehenden Teil des Erbes einfordert? Es ist ja nicht Habgier, wenn er auf seinem guten Recht beharrt. Habgier könnte man eher dem Bruder unterstellen, der nichts abgeben will. Aber Jesus unterstellt auch dem Bruder nicht Habgier. Ich denke, er wollte dem Mann, der ihn um Rat bittet, sagen: „Du sollst nicht so schlecht über deinen Bruder denken. Wenn dein Bruder so ist, wie du sagst, dann ist er doch ein armer Kerl! Du solltest Mitleid mit ihm haben. Denn was hat er denn davon, wenn er dir nichts vom gemeinsamen Erbe gönnt? Er wird nicht glücklich dabei werden!“
Die Geschichte zeigt uns, wie vertraut Jesus mit der Eigenart der menschlichen Seele war. Geld und Macht waren schon immer eine große Versuchung. Wir sehen es heute an vielen Größen im Sport, an vielen umjubelten Filmstars, auch an führenden Persönlichkeiten in der Wirtschaft und der Politik: Viele haben ein beträchtliches Vermögen oder ein großes Ansehen in der Öffentlichkeit und doch Probleme im eigenen persönlichen Bereich. Und die Versuchung ist groß, zu meinen, dass es uns besser ginge, wenn es uns finanziell besser ginge. Erst recht, wenn wir nicht so reich und nicht so mächtig sind wie andere. Wir hätten in dieser Hinsicht dann vielleicht tatsächlich weniger Sorgen. Aber das Glück und die Zufriedenheit mit dem eigenen Leben hängt doch von anderen Faktoren ab.
Wir sollten auch dem reichen Kornbauern, von dem Jesus in seinem Gleichnis erzählt, nicht Habgier unterstellen. Es war doch nur vernünftig, dass er größere Scheunen baute, wenn die vorhandenen zu klein waren, um die außerordentlich reiche Ernte zu fassen. Aber er hat sich wohl getäuscht, wenn er dachte: „Liebe Seele, du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut!“ Für viele Jahre? Wer sagt ihm denn, dass er noch viele Jahre leben würde? Daran erinnert ihn Gott: „Du Narr! Was hast du denn von deiner reichen Ernte, wenn du morgen stirbst? Wem wird dann die reiche Ernte gehören, die du in deine nagelneuen Scheunen eingelagert hast?“

Von der Chance, das wahre Glück zu findenGott tritt oft unvermutet ins Leben, so wie hier beim armen reichen Kornbauern in Jesu Gleichnis. Er tut es auf vielfältige Weise. Vielleicht durch eine ärztliche Diagnose, die uns sagt: Du hast nicht mehr lange zu leben. Bei mir war es ein ärztlicher Eingriff. Wäre er nicht erfolgt, wäre ich heute nicht mehr da. Vielleicht ist es auch der plötzliche Tod eines uns nahe stehenden Menschen. Nicht immer ist uns sofort klar, dass hier Gott zu uns redet. Die plötzliche, unvermutete Konfrontation mit der Möglichkeit des Todes ist ein Schock, der uns völlig lähmen kann. Aber oft führt er dazu, dass sich Menschen in den Armen liegen, die es sonst nicht täten. Dass sie zumindest mehr als gewöhnlich aneinander denken und füreinander beten. Die Erfahrung des herannahenden Todes kann verstrittene Familien wieder zusammenführen. Sie kann die gegenseitige Liebe neu entfachen. Sie kann zur Folge haben, dass wir uns mehr als zuvor umeinander kümmern. Auf einmal verhalten wir uns so, wie Gott es von uns haben möchte. Eine ältere Dame sagte mir, als sich der Krebs bei ihr wieder neu gemeldet hatte: „Das ist wieder ein Ausrufezeichen!“ Sie nahm es als eine Aufforderung, jeden Tag neu als ein Geschenk aus Gottes Hand zu genießen.
Was wir in seelischer Hinsicht am nötigsten haben, das können wir uns nicht erarbeiten, das können wir uns schon gar nicht erkaufen: Als wir noch Kinder waren, war es die Liebe der Eltern. Und als wir erwachsen wurden, war es die Anerkennung und Achtung, ja die Liebe und die Zuneigung von Angehörigen oder Freunden, die erst später in unser Leben traten. In jedem Lebensalter brauchen wir zudem das Vertrauen in die Fürsorge dessen, der uns das Leben gab, egal, wie religiös oder nicht religiös wir uns selbst verstehen.
Es kann sein, dieses Bedürfnis unserer Seele tritt im Alltag in den Hintergrund. Im Alltag ist unsere Tüchtigkeit gefragt, unser Fleiß, unsere Ausdauer, unser Können und unser Vermögen. Im Alltag kann es auch sein, dass wir keinen Blick mehr haben für die Schönheit der Welt und den Wert der Zuneigung anderer Menschen. Die ist ja ein großes Geschenk, wenn wir sie erfahren. Im Alltag kann es sein, dass plötzlich andere Gesetze gelten als die Lebensregeln, die uns Christus gelehrt hat. Dass wir meinen, wir müssten auftretende Konflikte mit Gewalt regeln, den Angriff mit einem Gegenangriff beantworten. Und wir übersehen dabei das große Geschenk, das uns Christus gemacht hat. Er hat uns doch gelehrt, auch in einer Konfliktsituation unser ganzes Vertrauen auf Gottes Fürsorge zu setzen. Der Tod stellt erbarmungslos vieles in Frage, was uns im Alltag so wichtig ist.

Vom Glück, reich zu sein bei GottAm Ende des Gleichnisses steht der Satz: „So geht es dem, der sich Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott.“ Der Satz klingt wie eine Warnung, wie „die Moral von der Geschicht“. Wie ging es denn dem reichen Kornbauern, nachdem er die Stimme Gottes gehört hatte? Wie hat er reagiert?
Der Ausgang der Geschichte ist offen. Für das, was Jesus damit sagen wollte, ist gar nicht wichtig, ob der Arme am andern Tag tatsächlich gestorben ist. Allein der Schreck hat vielleicht bei ihm ein Umdenken eingeleitet. Und dieses Umdenken wollte Jesus ja mit seinem Gleichnis bei seinen Zuhörern erreichen. Ich wünsche heute allen, die einen solchen Schreck am eigenen Leib erleben, dass sie noch genug Zeit haben zum Umdenken. Dann können sie die Prioritäten in ihrem Leben neu setzen.
Was aber ist gemeint, wenn es hier heißt, es komme darauf an, „reich zu sein bei Gott“? Wir können nichts dafür, dass wir diese Eltern hatten. Wir können nichts dafür, dass wir in diese Familie geboren wurden. Wir können nichts dafür, dass wir in einem Land leben, in das viele Menschen fliehen. Wir leben nicht in dem Land, aus dem diese Menschen geflohen sind. Der reiche Kornbauer hat vermutlich wie alle Jahre seine Felder bestellt oder bestellen lassen – aber dass die Ernte so reich ausfiel, dafür konnte er wirklich nichts. Unser Leben ist nicht das Ergebnis unserer Tüchtigkeit, sondern im Grunde für uns ein unverfügbares Geschenk. So betrachtet sieht die Welt ganz anders aus. So betrachtet, können wir aus tiefstem Herzen dankbar sein. Wenn wir, worüber wir uns freuen können, als ein Geschenk aus Gottes Hand betrachten, werden wir reicher.
Freilich, es gilt auch das Gegenteil. Wir wurden in eine Welt geboren, die gefährdet ist. In den letzten Jahrzehnten durch den Klimawandel und schon seit Jahrtausenden durch Egoismus, Machtstreben, Krieg und Gewalt. Wir können nichts dafür, dass wir zu eben diesem Zeitpunkt geboren wurden: Gerade jetzt erkennen wir, wie viel wir ändern müssen, um die Welt für uns und für alle Völker dieser Erde lebenswert zu erhalten. Für die kurze Zeit, in der wir auf dieser Welt leben, stellt uns Gott in die Verantwortung für das Geschenk des Lebens. Auch diese Verantwortung macht uns reich: die Verantwortung für die Bewahrung der Schöpfung, die Verantwortung für ein friedliches Zusammenleben der Völker und die Verantwortung für Menschen, die Not leiden. Es macht uns reich, Verantwortung zu übernehmen, denn es ist ein Auftrag von Gott. Wozu immer Gott uns beauftragt, sein Auftrag gibt unserem Leben Sinn und gibt unserer Seele reichlich Nahrung.
Wir leben in einem reichen Land. Und wir sehen heute deutlich, wie verführerisch der Reichtum ist. So lasst uns Ausschau halten nach dem Reichtum, mit dem Gott selber uns auch heute segnen will.

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