Estomihi (26. Februar 2017)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Günter Knoll, Herrenberg [pfarrer-knoll@t-online.de ]

Lukas 10, 38-42

Liebe Gemeinde, Schwestern und Brüder!
Marta – Maria, Maria – Marta – keine Frage, diese Geschichte hat’s in sich. Und wer diese Geschichte jemals gehört oder gelesen hat, der hat sie auch behalten. Und wer sie behalten hat, hat sich irgendwie auch identifiziert, hat jedenfalls begonnen, sich zu identifizieren, hat gedanklich ausprobiert, Marta zu sein oder Maria. Oder haben Sie sich noch nie mit Marta zusammen empört über die Schwester, die sich vor der Arbeit drückt? Hand aufs Herz, da fallen einem doch haufenweise Situationen ein, wo es genauso war, im Geschwisterkreis – sofern man Geschwister hatte – am allerehesten, – aber auch im Freundeskreis oder in der Schwesternschaft oder unter Kolleginnen und Kollegen oder in der Schule oder im Chor oder im Verein. Da gibt es doch immer die „Schlauen“ und die „Dummen“.
Die „Schlauen“, das sind diejenigen, die durchkommen, ohne sich anzustrengen, ohne sich die Hände schmutzig zu machen, die immer dran sind am Geschehen und die auch immer die Lieblinge sind. Aus unerfindlichen Gründen stehen sie im Licht, und die im Dunkeln sieht man nicht; und deshalb finden sie auch keine Beachtung, oder jedenfalls nicht die Beachtung, die sie sich vorstellen oder von der sie träumen. Die „Dummen“ – das sind diejenigen, die sich die Hände schmutzig machen, die sehen, was nötig ist und getan werden muss, die sich selbstverständlich engagieren und dort sind, wo’s Geschäft ist und eben nicht dort, wo die Musik spielt.
Da muss man sich doch irgendwann einmal empören dürfen über diese himmelschreiende Ungerechtigkeit, dass das so ist, dass die „Schlauen“ im Licht stehen und die „Dummen“ im Dunkel. Dabei sind doch die „Dummen“ gar nicht dumm, sondern sie sind bloß engagiert und sozial und wissen, wo man sie braucht und sind zur Stelle und packen an. Und eigentlich sollten sie im Licht stehen, und unser soziales Gewissen und Empfinden sagt uns: Weg mit den „Schlauen“ (und „Faulen“) ins Dunkel! Da gehören sie hin, diese Sonntagskinder, denen alles ohne Anstrengung zufällt. Die sind doch bloß Glückspilze und Schlaumeier.
Jetzt habe ich mich richtig ereifert. Sie merken: Maria und Marta lassen einen nicht unberührt, und meistens schlägt man sich – als anständiger, sozialer Mensch – doch eher auf die Seite von Marta. Nur selten habe ich mich oder andere dabei ertappt, dass sie sich entschieden auf die Seite Marias geschlagen hätten.
Obwohl – Maria ist ja nicht nur schlau. Steht sie nicht für die Gemütswerte und für das „tiefere“ Leben überhaupt? Ist nicht alles Sorgen und Besorgen, und sei es das Sich-Abrackern für Gäste, doch letztlich etwas Äußerliches? Gastfreundschaft hin oder her: Darauf kommt es doch nicht an, ob man etwas zu essen hat, ein bisschen schmackhafter oder ein bisschen weniger schmackhaft, ob das Bett früher oder später bezogen wird oder überhaupt nicht; man kann auch in einem Bett schlafen, das nicht bezogen ist; und ob geputzt ist oder nicht, was macht das für einen Unterschied? Es gibt jedenfalls Wichtigeres.
Und wie sich diejenigen immer spreizen, die das Getriebe am Laufen halten! Sie machen sich im Hintergrund gleichsam unentbehrlich und warten doch bloß auf den Augenblick, wann sie aus dem Dunkel ins Licht treten als die eigentlichen Macher, aber für das Sublime, Feine und Tiefe haben sie keinerlei Verständnis; und darum geht es doch eigentlich, um das Geistige, oder besser noch: um das Geistliche.
Sie sehen, ich kann mich doch auch für die andere Seite ereifern, und die Identifikation gelingt mit beiden: Maria – Marta, Marta – Maria. Ja, wer jetzt? Mit wem soll ich mich identifizieren?

Das Richten und das „Aber“Sagt mir’s womöglich Jesus selber? Schließlich ist er’s doch, der von Marta aufgefordert wird, den Richter zu spielen. Und er übernimmt diese Rolle auch noch! Schon immer hat mich das irritiert. Was ich erwartet hätte und was ich immer wieder aufs Neue erwarte, ist, dass Jesus diese Rolle schlicht zurückweist: „Ich bin doch nicht gekommen, um zu richten.“ Aber Nein! Jesus nimmt die Rolle an, freilich durchaus anders, als es Marta in ihrem Zorn und Eifer erwartet. Marta erwartet wohl – und das ist nur zu verständlich – dass Jesus über ihre Schwester Gericht hält und bei ihr auf „richtiges“ Verhalten drängt: Sprich, dass die Lasten der Gastgeberin und Hausfrau fair verteilt werden, dass man sich hilft, wo die eine viel, zu viel zu tun hat und die andere gar nichts.
Aber das tut Jesus nicht. Wohl schlüpft er in die Robe des Richters, aber sein Urteil geht in eine durchaus andere Richtung als erwartet. Für Gerechtigkeit und Ausgleich von Arbeitsbelastung macht er sich nicht stark. Zwar zeigt er Verständnis für Marta und ihre Probleme, aber Recht gibt er ihr nicht: „Marta, Marta, du hast viel Sorge und Mühe. Eins aber ist not.“ Viel Sorge und Mühe – das ist anerkennenswert und findet bei Jesus auch Beachtung; er geht nicht einfach darüber hinweg, aber … In diesem „Aber“ steckt alles drin; dieses „Aber“ ist der Stachel, der im Zweifelsfall weh tut. Anerkennung und Beachtung finden ist gut und wichtig. Das ist es ja, worauf wir gewöhnlich aus sind mit unserem Eifer und Engagement: gebraucht werden, sich sozial verwirklichen, für andere da sein; das ist in der Tat ein Lebenselixier, geeignet zur Steigerung der Lebensfreude und des Selbstwertgefühls.
Aber ist es immer die Wahrheit, und ist es die ganze Wahrheit? Das, liebe Schwestern und Brüder, ist die Frage, und Jesus reißt diese Frage bei seinem Besuch im Hause der beiden Schwestern Marta und Maria auf. Ist soziales Engagement immer die Wahrheit, und ist es die ganze Wahrheit?
Wenn man die Geschichte, das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter gerade gehört oder gelesen hat, könnte man das meinen. Wo man jemandem begegnet, der in Not ist, da kann es nicht anders sein, da muss man helfen, was denn sonst? Über den Priester und über den Levit, die einfach an dem „Unter-die-Räuber-Gefallenen“ vorübergehen, ohne Mitleid, empören wir uns mit Recht. Erbarmen, Nächstenliebe, das ist deine Sache. Geh nicht vorüber, niemals, wenn du das erlebst.

„Sich-dienen-Lassen“ und „Dienen“Aber jetzt ist eine andere Geschichte dran. Jetzt geht es um die Begegnung mit Jesus; das ist etwas anderes. Auch in dieser Begegnung geht es ums Dienen. Nicht wahr, Marta sagte zu Jesus: „Fragst du nicht danach, dass mich meine Schwester lässt allein dienen?“ Wohl wahr, aber „dienen“ ist doch kein Frondienst; dienen meint doch nicht „Sich-knechten-Lassen“. Jesus, ja der ist gekommen, um zu dienen. Darum, wann immer es zu einer Begegnung mit Jesus kommt, steht das Dienen an erster Stelle; aber es geht dabei vor allem (im wahrsten Sinne des Wortes vor allem), es geht dabei vor allem um seinen Dienst an uns. „Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele.“ Das sagt Jesus selber einmal. Und ein andermal sagt er: „Ich bin unter euch wie ein Diener.“ Und zu Petrus, dem Eifrigsten von allen, sagt er bei seiner Fußwaschung: „Wenn du dir das nicht gefallen lässt, dass ich dir die Füße wasche (und nicht etwa du mir), dann hast du kein Teil an mir.“
Es geht ums Dienen, ja ohne Frage, aber alles zu seiner Zeit und alles in der richtigen Folge. Das muss man lernen, und zwar muss man das als Christ lernen. Sonst, ja sonst ist alles verkehrt.
„Eins aber ist not. Maria hat das gute Teil erwählt.“ Nicht immer und überall gilt das, dass zuhören und hinsitzen (nein: hinsitzen und zuhören) besser ist als zupacken und handeln. Aber jetzt, in der Begegnung mit Jesus, da ist es besser. Ja jetzt ist es das Eine, das nottut.
Wir könnten ja auch, anstatt in der Kirche zu sitzen und auf das Wort Gottes zu hören, uns sozial engagieren heute Morgen. Wenn Sie so wollen: bei jedem Gottesdienst verlieren wir eine Stunde oder mehr an Zeit für die Nächstenliebe. Aber so rechnen kann man/darf man eben gerade nicht.
Wie sollte man denn sonst erfahren, worum es geht im Leben, worin unser Heil besteht, wenn wir nicht hören würden auf Gottes Wort. Wie sollen wir die Frohe Botschaft von Gott empfangen, wenn wir uns nicht von Jesus mit eben dieser frohen Botschaft dienen lassen würden? Unterscheiden müssen wir lernen zwischen „Sich-dienen-Lassen“ und „Dienen“, und wann das eine dran ist und wann das andere. In der Geschichte von Maria und Marta lehrt uns Jesus dieses Unterscheiden. Und Jesus rückt zugleich Ursache und Folge zurecht. Es mag ja sein, dass ihr Arme allezeit bei euch habt, und dass euer Liebesdienst allezeit gefragt ist, aber mich, sagt Jesus, habt ihr nicht allezeit.
Der geforderte Dienst der Nächstenliebe ist die halbe Wahrheit, die andere Hälfte der Wahrheit über das Dienen lautet so: Lass dir den Dienst Gottes, den Gottesdienst gefallen. Er ist lebensnotwendig für dich, so wie dein Dienst für andere lebensnotwendig ist für sie. Aber nimm nie die halbe Wahrheit für die ganze Wahrheit, sonst verkehrt sich alles ins Gegenteil. Sonst wird der Dienst der Nächstenliebe zum Frondienst, mit dem du dir selber dein Heil schaffen musst, und der Gottesdienst wird zum überflüssigen Luxus und Zeitvertreib. Was für eine Perversion wäre das! Aber so ist es Gott sei Dank nicht. Gottes Dienst an uns setzt unseren Dienst an anderen frei, so herum, und nur so. Wer es anders herum möchte, hat keinen Teil an Jesus. Das ist das gute Teil der Maria. Sie lässt sich zum Dienst befreien von Jesus. Marta wird es schon noch merken, und wir auch. Amen.

Anmerkung
Der Predigttext Lukas 10, 38-42 erschließt sich mir in besonderer Weise dadurch, dass ich ihn in seinem Kontext lese. Unmittelbar vor der Geschichte von Maria und Marta steht das Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. Die beiden Texte ergänzen und korrigieren sich gegenseitig.

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