Estomihi (23. Februar 2020)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Angelika Volkmann, Tübingen [Angelika.Volkmann@elkw.de]

Lukas 18, 31-43

IntentionWir wollen das Leiden nicht. Auch Gott will das Leiden nicht, und auch nicht das Böse. Dennoch tun Menschen Böses und müssen Leid hinnehmen. Der Weg der Nachfolge, zu dem wir eingeladen sind, bringt Liebe ins Leid und verwandelt es.

18,31 Jesus nahm zu sich die Zwölf und sprach zu ihnen: Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem, und es wird alles vollendet werden, was geschrieben ist durch die Propheten von dem Menschensohn.
32 Denn er wird überantwortet werden den Heiden, und er wird verspottet und misshandelt und angespien werden, 33 und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen. 34 Sie aber verstanden nichts davon, und der Sinn der Rede war ihnen verborgen, und sie begriffen nicht, was damit gesagt war.
35 Es geschah aber, als er in die Nähe von Jericho kam, da saß ein Blinder am Wege und bettelte.
36 Als er aber die Menge hörte, die vorbeiging, forschte er, was das wäre.
37 Da verkündeten sie ihm, Jesus von Nazareth gehe vorüber. 38 Und er rief: Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner! 39 Die aber vornean gingen, fuhren ihn an, er sollte schweigen. Er aber schrie noch viel mehr: Du Sohn Davids, erbarme dich meiner! 40 Jesus aber blieb stehen und befahl, ihn zu sich zu führen. Als er aber näher kam, fragte er ihn: 41 Was willst du, dass ich für dich tun soll? Er sprach: Herr, dass ich sehen kann. 42 Und Jesus sprach zu ihm: Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. 43 Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott. Und alles Volk, das es sah, lobte Gott.

Das Unverständnis der Jünger. Ihre Blindheit.Liebe Gemeinde, sie hören seine Worte, aber sie verstehen sie nicht. Damals, auf dem Weg aus der Jordansenke hinauf nach Jerusalem.
Drei Mal hintereinander bringt Lukas das zum Ausdruck und schreibt: Sie begriffen nichts davon, der Sinn der Rede war ihnen verborgen, sie verstanden nicht, was damit gesagt war.
Jesus hatte sie beiseite genommen, die Zwölf. Nur ihnen wollte er sagen, was kommen würde. Seht, wir gehen hinauf nach Jerusalem. Über tausend Meter liegt Jerusalem höher als der Jordan. Das war wirklich ein Aufstieg. Jerusalem! Der Inbegriff aller Wünsche aller Wallfahrer. Im Tempel zu sein! Die schönen Gottesdienste mitzuerleben! Mit der großen Menge das Passafest mitzufeiern! Das hatten sie vor sich.
Es werden schlimme Dinge geschehen, hören sie Jesus sagen. Aber bevor er all das Schlimme aufzählt, sagt er das geheimnisvolle Wort von der Vollendung: Es wird alles vollendet werden. Es wird ans Ziel kommen. Alles, was die Propheten über den Menschensohn geschrieben haben. Auch wenn es schlimm werden wird, meine Lieben, vergesst nicht: ich bin in Gottes Hand. Und dann spricht er von den bevorstehenden Ereignissen: Er wird den Heiden ausgeliefert werden. Er wird von römischen Soldaten verspottet, misshandelt und angespien werden, und sie werden ihn geißeln und töten; und am dritten Tage wird er auferstehen.
Jesus will sie vorbereiten auf das, was kommt, doch sie begreifen nichts. Der Menschensohn, der den Frieden bringen wird, der soll so leiden müssen? Das ist unerträglich. Der Menschensohn wird doch von Gott Macht erhalten!
Sie können nicht begreifen, dass es – auch für den Menschensohn – manchmal keinen anderen Weg gibt, wenn er dem Bösen begegnet, als es zu ertragen. Und dabei in der Liebe zu bleiben. Damit zeigt er: Wo auch immer in der Welt Menschen Opfer von menschlicher Grausamkeit werden, da bin ich gegenwärtig und sehe das Unrecht, das geschieht!
Nein. Sie wollen nicht eine so schwere Zeit vor sich haben. Und das mit der Auferstehung, das haben sie schon gar nicht mehr gehört. Sie sind blind für das Wesentliche, für das Wichtigste. Und sie bemerken es nicht einmal. Im Gegenteil, es würde sie stören.
Und doch: Sie bleiben bei Jesus. Sie gehen mit ihm weiter, diesen Weg nach Jerusalem, diesen Weg, der kein leichter sein würde.

Der körperlich Blinde ergreift seine ChanceSie kommen in die Nähe von Jericho. Ein Blinder sitzt am Weg und bettelt. Wie lange mag er dort schon gesessen haben? Wie viele Male hat man ihn zurückgewiesen oder gar nicht beachtet? Dieser Mensch leidet unter seiner Blindheit. Diese Blindheit ist körperlich. Eine Krankheit, die als unheilbar gilt. Er hat ein äußerst mühsames Leben. Er ist bitterarm und muss betteln. Er wird ausgegrenzt. Wenn du nicht siehst, wirst du übersehen. Soll er auf ein Wunder hoffen? Soll er sich nicht besser mit der Situation abfinden?
Er ist aufmerksam geblieben. Wach. Bemerkt gleich, dass etwas Besonderes vor sich geht. Er hört, wie die Leute gehen. Was sie sagen. Er spürt, dass eine Erwartung in der Luft liegt. Er wird aktiv. Und er fragt die Leute, die ihm antworten, Jesus von Nazareth gehe vorüber.
In diesem Moment ergreift er seine Chance, sein Leben zu ändern. Er schreit. Es ist ihm egal, was die Leute denken. Wenn es auch nur den Hauch einer Chance gibt, dass ihm geholfen werden kann, möchte er sie ergreifen. Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
Den Leuten wird sein Geschrei zu viel, sie fahren ihn an, er solle still sein. Er schreit noch viel lauter. Die anderen wissen nicht, wie es ist, blind zu sein. Sie wissen nicht, wie es ist, so allein zu sein. Vieles nicht tun zu können. Sie wissen nichts von seiner langen Verzweiflung. Jesus, du Sohn Davids, erbarme dich meiner!
In der Ostkirche ist dieser Satz später zum immerwährenden Gebet geworden, zum Herzensgebet. Diese Entschiedenheit, sich Gott anzuvertrauen. Diese große Erwartung, dass er sich erbarmt!
Andere wären längst verstummt. Er schreit. Es ist die Bitte an den, der die Not nicht übersieht. Der Blinde nimmt Beziehung auf: Du! schreit er.

Jesus hört ihn und sieht ihnUnd Jesus hört ihn und öffnet sich diesem Schrei. Er lässt den Blinden zu sich führen und spricht ihn an. Er fühlt sich in die Not des Bittenden ein. Er behandelt ihn mit Respekt. „Was willst du, dass ich für dich tun soll?“ Der Blinde soll es selber bestimmen.
Mit seinen Worten, mit seiner Aufmerksamkeit, ermöglicht Jesus ihm, das Unmögliche zu erbitten, das Unsagbare auszusprechen: „Herr, dass ich sehen kann!“
Und Jesus spricht zu ihm „Sei sehend! Dein Glaube hat dir geholfen. Und sogleich wurde er sehend und folgte ihm nach und pries Gott.“

Was ist das für ein Glaube, den dieser Blinde in sich findet?Was ist das für ein Glaube, den dieser Blinde in sich findet?
Ein Glaube, dass es für ihn Zuwendung gibt.
Wenn nicht von Menschen, dann von Gott. Heißt es nicht, dass Gott die Blinden sehend macht?
Er kennt seine Psalmen, hat sie oft gehört. Leiht sich Worte.
Es gibt doch etwas, was verheißen ist! Etwas, das noch aussteht! Das noch kommen wird! Der Sohn Davids, auf den Israel wartet.
Wenn Jesus das ist?
Dann ist das seine Chance. Er hat noch die Kraft, zu hoffen. Kraft, das Undenkbare auszusprechen: „Herr, dass ich wieder sehe!“

Der nun nicht mehr Blinde folgt Jesus nachWas tut der Blinde, nachdem er wieder sieht? Er folgt Jesus nach! Er geht mit ihm den Weg hinauf nach Jerusalem. Er lobt Gott!
Warum bleibt er nicht in seiner Heimatstadt? Warum baut er sich dort nicht das selbstständige Leben auf, auf das er so lange verzichten musste?
Hier, in dieser Begegnung hat er alles gefunden. Gesehen zu werden. Gehört zu werden. Erhört zu werden. In Beziehung zu sein. Das ist das Wesentliche. Das Kostbarste. Hier gehört er hin. Alles andere ist nebensächlich.
Was wohl die Jünger gesagt haben? Was sie wohl miteinander gesprochen haben, sie und dieser neue Nachfolger? Es wird ihnen gefallen haben. Ja, so haben sie Jesus gerne, wenn er seine Vollmacht zeigt. Auch sie stimmen ein in das Lob Gottes, auf jeden Fall!
Und was ist jetzt mit seinem Hinweis, er würde leiden müssen und getötet werden? Sie werden schon nicht mehr daran denken.

Und wir? Ist der schwere Weg der Nachfolge auch uns zu schwer?Würden wir das hören wollen? Heute? Diese Zumutung? Gehören wir nicht auch immer wieder zu denen, die sagen: Das darf Gott nicht zulassen? Das ist unerträglich?
Das Leiden, das der Mensch dem Mitmenschen antut, ist besonders bitter, weil es aus Bosheit und Hass entspringt.
Halten wir uns die Ohren zu, wenn Gott uns sagt: Das habt ihr selber zu verantworten? Ändert euch!
Halten wir uns die Augen zu, wenn wir den Menschensohn an der Seite derer sehen, die leiden? In den Flüchtlingslagern, in der Schlange wartend auf etwas Wasser und Brot? Seine Wunden notdürftig verbunden? Oder auch bei denen, die Hass und Gewalt ausgesetzt sind - manchmal sogar in der eigenen Familie?
Dort ist er und leidet mit. Leidet unter der Bosheit der Menschen und den Folgen, die daraus entspringen. Dort stellt er seine liebevolle Frage: „Was willst du, das ich für dich tun soll?“
Dort hört er zu und verbindet sich mit den Menschen. Teilt, was möglich ist.
Schenkt Hoffnung. Notfalls über den Tod hinaus.
Würden wir uns die Augen öffnen lassen und ihm nachfolgen auf diesem schweren Weg? Was würde geschehen, wenn wir andere, die in Not sind, fragen: „Was willst du, das ich für dich tun soll?“
Es ist der Weg, auf dem Wunder geschehen. Auch heute.
Amen.

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