Estomihi (19. Februar 2023)

Autorin / Autor:
Pfarrer Dr. Alexander Kupsch, Balingen [Alexander.Kupsch@elkw.de]

1. Korinther 13,1–13

IntentionPaulus besingt die Liebe, die den anderen als Reichtum begreift. Auch den anstrengenden Mitgläubigen in seiner Fremdheit und Andersheit. Denn die Wahrheit beginnt zu zweit.


Liebe Gemeinde,

die Liebe treibt Dichter und Sänger, Dichterinnen und Sängerinnen um wie kein anderes Thema. Denken Sie an die Pop-Hits und Schlager: „All You Need Is Love“, „Love Me Tender“, „I Will Always Love You…“oder auf Deutsch: „Marmor, Stein und Eisen bricht, aber unsere Liebe nicht“. „Verdammt ich lieb, ich lieb dich nicht.“ „Dein ist mein ganzes Herz.“ „Er gehört zu mir, wie mein Name an der Tür.“ „Eine neue Liebe ist wie ein neues Leben.“ Die Liste mit Liebesliedern ließe sich endlos fortsetzen.
Allerdings: Auf den meisten Hochzeiten erklingt ein Liebeslied, das wir auf keiner Hitliste finden würden. Ein Lied, das zu den ältesten Liebesliedern der Geschichte gehört und das Sie alle kennen. Und doch würde es uns wohl nicht einfallen, wenn wir an Liebeslieder denken. Es stammt von einem Dichter, der manchmal als eher streng und verkopft gilt, nicht unbedingt als romantische Natur: dem Apostel Paulus.
Dieses Lied steht in der Bibel, im 1. Korintherbrief Kapitel 13, und es ist in der Lutherbibel überschrieben: "Das Hohelied der Liebe".

„Wenn ich mit Menschen- und mit Engelzungen redete und hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz oder eine klingende Schelle. Und wenn ich prophetisch reden könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte allen Glauben, sodass ich Berge versetzen könnte, und hätte der Liebe nicht, so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe und meinen Leib dahingäbe, mich zu rühmen, und hätte der Liebe nicht, so wäre mir’s nichts nütze. Die Liebe ist langmütig und freundlich, die Liebe eifert nicht, die Liebe treibt nicht Mutwillen, sie bläht sich nicht auf, sie verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu, sie freut sich nicht über die Ungerechtigkeit, sie freut sich aber an der Wahrheit; sie erträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles.“ (1. Korinther 13,1–7)

In vielen Traugottesdiensten erklingt dieses Hohelied der Liebe und wenn alles passt und die Atmosphäre stimmt, dann kann es durchaus für Gänsehaut sorgen. Ich vermute, Sie haben heute Morgen keine Gänsehaut bekommen. Wir feiern ja auch keine Hochzeit, und vielleicht ist es für einen ganz normalen Sonntag ein wenig zu viel Pathos mit dieser Liebe, die alles duldet und alles hofft und alles glaubt.

Aber immerhin: Geschrieben wurde dieses Lied ursprünglich nicht für eine Hochzeit, sondern für einen ganz normalen Sonntag, für eine ganz normale Gemeinde, die Gemeinde in Korinth. Wir wissen über diese ganz normale Gemeinde mehr als über vielleicht jede andere christliche Gemeinde der frühen Christenheit, und zwar deshalb, weil Paulus mit dieser Gemeinde so viel Ärger hatte.

Wir wissen über die Gemeinde in Korinth…
1., dass es dort Christen gab, die eine besondere Ader für die Mystik hatten und sich in unverständlichen Reden ausdrückten, im sogenannten Sprachen- oder Zungengebet. Wir kennen dieses Phänomen heute wieder weltweit in den Pfingstkirchen und den charismatischen Bewegungen, wo es eine große Rolle spielt. In Korinth gehörte zur Zungenrede auch ein gewisses Gefühl der Überheblichkeit. Die Fraktion der Zungenredner bildete sich offenbar etwas darauf ein, eine Portion mehr Heiligen Geist abbekommen zu haben als der Rest der Gemeinde.

Wir wissen über die Gemeinde in Korinth…
2., dass es dort aufgeklärte Geister gab, die für sich mit der ganzen antiken Götter- und Götzenwelt aufgeräumt hatten. Sie waren der Überzeugung: Es gibt einen Gott, den ewigen und unsichtbaren Gott, und die ganze Dämonen- und Geisterwelt, an die viele Menschen glauben, ist Unsinn. Und diese Überzeugung hatte zur Folge, dass diese Aufgeklärten in der Gemeinde auch kein Problem damit hatten, Lebensmittel, insbesondere Fleisch, das in religiösen Zeremonien den heidnischen Göttern geweiht worden war, zu kaufen und bei ihren Feiern und Gastmählern zu essen und den Gästen vorzusetzen. Göttern, die es nicht gibt, kann man auch kein Fleisch weihen, so die Logik. Also kann man das sogenannte „Götzenopferfleisch“ auch bedenkenlos essen. Einige andere in der korinthischen Gemeinde wiederum plagten sich deshalb mit einem schlechten Gewissen. Sie waren hin- und hergerissen zwischen der Tischgemeinschaft mit den Aufgeklärten in der Gemeinde und ihrem eigenen Glauben, dass man mit den heidnischen Göttern partout nichts zu schaffen haben darf. Deshalb wollten sie sich auch von geweihtem Fleisch fernhalten.

Und wir wissen über die Gemeinde in Korinth…
3., dass es dort reiche und ärmere Gemeindeglieder gab. Diese verschiedenen Welten prallten insbesondere beim Abendmahl aufeinander. Das Abendmahl wurde damals nämlich noch als echte Mahlzeit mit allem Drum und Dran gefeiert, allerdings nach einer festen Ordnung: Jeder bringt sich sein Essen selbst mit. Und da warteten die Reichen dann mit großen Menüs und flaschenweise Wein auf, und die Ärmeren verzogen sich verschämt mit ein paar Stückchen Brot an den Katzentisch.

So sah es aus in Korinth. Kein Ort zum Gänsehautkriegen. Eine ganz normale Gemeinde. Eine Gemeinde wie bei uns heute auch. Denn gibt es nicht bei uns in den Gemeinden auch Unterschiede in der Frömmigkeit? Die einen lieben Worship und englische Lieder, die anderen finden Trost in den alten Paul-Gerhardt-Chorälen. Und mit dem jeweils anderen arrangiert man sich nur ungern und mühevoll.
Gibt es in unseren Gemeinden nicht auch Unterschiede in der Theologie? Die einen wünschen sich eine offene Kirche, die sich um soziale Belange kümmert, die sich die Ökologie auf die Fahnen schreibt, sich für Flüchtlingsrettung einsetzt, für Kirchenasyl, für Fair Trade. Und den anderen ist das alles viel zu politisch, sie wünschen sich eine tiefe Gebetsfrömmigkeit, eine schöne Liturgie, und fragen: Wann haben wir eigentlich aufgehört, intensiv die Bibel zu lesen?
Und schließlich: Gibt es nicht auch in unseren Gemeinden bei aller Christlichkeit Kämpfe um Macht? Gibt es da nicht auch Fronten im Kirchengemeinderat und die Skepsis, ob die anderen überhaupt das Richtige wollen, ob man nicht lieber versuchen sollte, an ihnen vorbei seine eigenen Interessen durchzusetzen?
Auch unsere Gemeinden sind nicht immer der Raum, in dem das Hohelied der Liebe erschallt, nicht immer ein Ort zum Gänsehautkriegen.

An immer mehr Orten in Deutschland sind in den letzten Jahren sogenannte Escape Rooms entstanden. Escape Rooms sind eine Art moderner Schnitzeljagd. Man wird als Gruppe von 4-5 Leuten in einen Raum geführt und muss dort dann innerhalb von ein oder zwei Stunden verschiedene Rätsel und Puzzle lösen, um den Schlüssel zu finden, mit dem man den Escape Room wieder öffnen kann.
Das Interessante an diesen Rätselräumen ist: Man kann sie nicht allein lösen. Man braucht die anderen. Es gibt Aufgaben, die man nur bewältigen kann, wenn man zusammenarbeitet, weil vielleicht einer auf der einen Seite des Raumes einen Hebel betätigen muss, während ein anderer auf der anderen Seite des Raumes durch ein Guckloch spickelt. Harmlose Spielchen, aber mit einer tieferen Idee dahinter: Die Wahrheit beginnt zu zweit! Die besten Lösungen im Leben findet man selten allein.

Die Wahrheit beginnt zu zweit, das heißt: Meine Welt wäre ärmer ohne die anderen. Auch ohne die, mit denen ich nicht einer Meinung bin. Ich kann etwas lernen von denen, die anders gestrickt sind als ich, die andere Interessen haben, andere Geschmäcker, andere Vorlieben, andere Lebensgeschichten.
Unsere Welt wäre ärmer ohne die, die englische Worship-Lieder mögen und die, die 12 Strophen Paul Gerhardt Choräle auswendig können. Unsere Welt wäre ärmer ohne die beweglichen Geister, die am liebsten alles neu machen würden – und ärmer ohne die Hegenden und Pflegenden, die seit Generationen die Gemeindearbeit aufrechterhalten. Und unsere Welt wäre ärmer ohne die verschiedenen Erfahrungen und Sichtweisen, die Menschen in unsere Gemeinde einbringen.
Die Wahrheit beginnt zu zweit. Oder zu dritt oder zu viert.

Paulus und die Korinther kannten noch keine Escape Rooms. Ihr Leben war vermutlich auch ohne Escape Room aufregend genug. Aber das Hohelied der Liebe stellt eine ähnliche Frage wie ein Escape Room: Siehst du den Wert der Gemeinschaft? Erkennst du den Schatz, der darin liegt, nicht allein durchs Leben zu gehen? Ja, das Leben mit anderen ist oft anstrengender und komplizierter, es gibt mehr Reibereien und mehr Konflikte. Aber um wie viel reicher und schöner ist es auch!

Die Liebe, von der Paulus in seinem Hohelied singt, kämpft für die Gemeinschaft. Sie gibt sich nicht zufrieden mit den Spaltungen in der Gemeinde und zwischen Menschen. Diese Liebe ist geduldig. Sie kann von den eigenen Wünschen und Vorlieben absehen. Sie kann verzichten. Sie kann verzeihen. Sie kann die Hand reichen. Sie mag Ausgrenzung und Überheblichkeit nicht akzeptieren. Sie kann hartnäckig sein und ein dickes Fell haben, wenn sie einmal einstecken muss. Diese Liebe gibt den anderen nicht auf.

Diese Liebe, von der Paulus schreibt, kennt keine Grenzen und sie geht ganz sicher über unsere Kraft. In Vollkommenheit gibt es diese Liebe nur bei Gott, der uns nie aufgibt. Doch vielleicht lassen wir uns ja anstecken von dieser Liebe.
Denn am Ende bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.
Amen.

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