Estomihi (11. Februar 2024)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Dr. Henrike Frey-Anthes, Schwäbisch Hall [Henrike.Frey-Anthes@elkw.de]

Amos 5,21–24

IntentionDie Predigt will zum Klagen anleiten. In dunklen Zeiten ist das Klagen (im Gegensatz zum Jammern) Zeichen der Hoffnung. Gottesdienst ist deshalb Raum für hoffnungsvolles, inspirierendes Klagen, das Gottes Wort lebendig hält.

Bibeltext5, 21 Ich hasse und verachte eure Feste und mag eure Versammlungen nicht riechen – 22 es sei denn, ihr bringt mir rechte Brandopfer dar –, und an euren Speisopfern habe ich kein Gefallen, und euer fettes Schlachtopfer sehe ich nicht an. 23 Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören! 24 Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach.

Wo sind die Propheten hin?! Es gibt keine mehr. Ein Jammer. Keine Propheten. Keine genialischen Gestalten, die von Gott beauftragt im Stadttor stehen und zwischen Gut und Böse richten oder auf dem Marktplatz den Menschen die Leviten lesen und endlich tun alle Buße. Die Menschen kehren um und die Welt verändert sich. Alles wird neu.
Wo sind sie hin, die Propheten? Haben sie sich verkrochen? Könnte man sagen. Versteckt sind sie. Hinter ihren Worten. So wie Amos. Verkrochen hat sich Amos in den Worten, die ihm zugeschrieben werden. Zugeschrieben im wahrsten Sinne des Wortes. Amos hat sie nicht geschrieben, diese Worte, die wir heute lesen können. Wenn er überhaupt schreiben konnte. Was man nicht weiß. Ein Prophet schreibt nicht. Ein Prophet redet. Seine Botschaft sind gesprochene Worte. Wir haben aber nur geschriebene Worte.

Nicht ganz sicher ist auch der Beruf des Amos. Und wie er eigentlich Prophet wurde. War Amos ein Außenseiter wie David, der als Kleinviehhirte von Jahwe berufen wurde? Oder war er doch eher ein Großviehbesitzer bzw. -hirte? War er ein Prophet wider Willen wie Jeremia oder Jona? Vielleicht war er auch ein Ritzer von Maulbeerfeigen. Letzteres sagt Amos von sich selbst und dass er aus Tekoa kommt. Dort gibt es aber keine Maulbeerfeigen. Die gibt es in der Schefela, der Küstenebene Judäas, oder eher noch in Jericho. Das kommt aber nun wiederum im Amosbuch nicht vor.
Wo war Amos Prophet? Vermutlich ist Amos im Nordreich Samaria aufgetreten. Vielleicht ist Amos später nach Juda gegangen. Vielleicht nicht. Ehrlich gesagt: Man weiß es nicht.
Je länger man ihn betrachtet, den Propheten Amos, je genauer man ihn unter die Lupe nimmt, desto mehr verschwimmt seine Gestalt. Seine Person. Man weiß nicht, wer Amos war.
Was man weiß, ist, dass zur Zeit des Amos das Land geteilt war in Nordreich und Südreich. Im Nordreich war das wichtige Heiligtum Bethel. Archäologische Funde dort haben tatsächlich kleine Stierbilder zu Tage gefördert. Symbol für die Kraft des unsichtbaren Gottes, der auch in Jerusalem verehrt wurde. In Jerusalem gab es keinen Stier. Dort thronte Gott unsichtbar über den Cheruben, den Feuerengeln. Die Worte des unsichtbaren Gottes wurden aufgeschrieben. So blieben sie lebendig und lebten weiter. Unter anderem als Worte des Propheten Amos, von dem man nicht weiß, wer er war und ob es ihn gegeben hat.

Wo sind die Propheten hin? Wo ist Amos hin?
Das ist die falsche Frage. Amos ist nirgends hin. Er war sozusagen gar nicht da. Oder jedenfalls wissen wir nicht, wann, wie und wo er genau war. Aber das macht nichts. Denn in Wahrheit geht es nicht um die historische Person des Amos. Es geht gar nicht um diese eine genialische Gestalt, die vor langer Zeit zu Menschen ihrer Zeit gesprochen hat. Wenn es um historische Fakten und Richtigkeiten ginge, dann könnte man Amos abhaken und seine Worte in den Schrank der Geschichte stellen. Dann wären wir nicht hier.
Wir sind aber hier. Nicht, weil wir wissen wollen, wie es in Echt war. Wir sind hier, weil wir wissen sollen, wie es in Wahrheit ist. Jetzt. Heute. Für uns. Darauf kommt es an. Wir suchen nach Gottes Wort für uns. Es steckt in den Worten, die dem Amos zugeschrieben wurden. Immer wieder überliefert. Zusammengestellt, interpretiert. Wieder getrennt. Erneut miteinander verbunden. Bis heute gehört. Und darum immer noch lebendig.
Für heute ist es ein Wort der Klage. Gott klagt und bringt uns bei, wie klagen geht. Gott sei Dank. Es wäre nämlich ein Jammer, zu vergessen, wie klagen geht. Klagen ist ja nicht jammern. Jammern bringt einen nervtötenden Singsang hervor, immer wieder gleiche Töne, auf und ab. Jammer schaut nur auf sich selbst, höchstens bis zum eigenen Tellerrand. Nabelschau. Wird ja doch nichts. Hoffnungslos. Es ist ein Jammer, wenn man keine Hoffnung mehr hat und alles egal ist. Wenn man sich einfach nur noch im eigenen Kreis dreht. Ja, das ist ein Jammer.

Gott sei Dank jammert Gott nicht. Gott klagt. Klagen ist eine Kunst. Man muss sie lernen. Man muss üben, die richtigen Worte zu finden für die Klage und ihren Klang. Die Klage ist nämlich ein Lied. Klagelied. Ein schönes Wort. Klagegesang, das hat Kraft. Ein Gesang hat eine Melodie. Mit Pausen, mit Unter- und Obertönen. So klingt sie über sich selbst hinaus. Klage nährt sich aus der Hoffnung auf Veränderung. Ihre Kraft ist die Sehnsucht. Klage hat einen Adressaten. Gott selbst.
Gott sei Dank klagt Gott. Er hat noch nicht aufgegeben. Das könnte man durchaus denken, wenn man diese Worte hört:

"Ich hasse und verachte eure Feste und mag eure Versammlungen nicht riechen – es sei denn, ihr bringt mir rechte Brandopfer dar –, und an euren Speisopfern habe ich kein Gefallen, und euer fettes Schlachtopfer sehe ich nicht an. Tu weg von mir das Geplärr deiner Lieder; denn ich mag dein Harfenspiel nicht hören!"

Gott hält Totenklage. Gott klagt über die, die er liebt. Was soll er anfangen mit Gottesdiensten von Menschen, deren Herz abgestorben ist? Was soll er halten von diesen uralten ewig gleichen Liedern, die nur das eigene Loblied singen? Sie sind für ihn gestorben. Das kann Gott nicht gebrauchen. Damals nicht. Heute auch nicht. Sie halten alles auf. Unrecht trocknet das Land aus. Gewalt lässt das Land erstarren und das Leben stockt. Die Hoffnung ist tot. Es herrschen Hunger und Durst nach Gerechtigkeit. Damals. Heute auch. So kann es nicht weitergehen. Gott sei’s geklagt.
Damit könnte alles gesagt sein. Aber das ist es nicht. Gott selbst hat immer noch Sehnsucht. Gott hofft auf eine neue Welt. Auf sein lebendiges Reich.

"Es ströme aber das Recht wie Wasser und die Gerechtigkeit wie ein nie versiegender Bach."
Gott gibt die Hoffnung nicht auf. Er hat es vor langer Zeit versprochen, nach der Flut. Gott wird diese Welt nie wieder für gestorben erklären. Niemals wieder sollen seine Menschen für ihn gestorben sein. Für Gott ist es nicht zu spät. Niemals.
Also versucht Gott alles. Er redet mit uns. Immer wieder. Heute erinnert er uns an die Schönheit unserer Gottesdienste. Gottesdienst ist doch herrlich. Ein Fest. Für uns und für Gott und für unsere Nächsten. Gott lieben und deinen Nächsten wie dich selbst, das gehört zusammen. Und was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch nicht scheiden.

Im Gottesdienst klingt die Liebe zu denen, deren Stimme versagt. Im Gottesdienst halten wir die Frage nach Recht und Gerechtigkeit wach. Wir finden uns nicht ab mit dem, was eben so ist. Woran man doch nichts ändern kann. Wir singen und ringen um eine Welt, die anders werden soll. Immer noch. Immer wieder. „Suchet mich, so werdet ihr leben.“
Gemeinsam suchen wir nach Gottes Wort. Entschlüsseln es, damit es lebendig bleibt. Halten Gottes Wort wach zwischen all den Worten, die jeden Tag auf uns einstürmen, den lauten und den leisen. Wir verkriechen uns nicht hinter Fakten und Richtigkeiten. Wir suchen nach den richtigen Worten und dem passenden Ton. Nach dem, was gut ist. Wir ringen darum, was jetzt gerade wichtig ist. Wer wichtig ist. Worauf es ankommt. Wir suchen Gott dort, wo man weinen kann über das, was einfach zum Heulen ist. Über all das, für das man so furchtbar dringend helfende Hände bräuchte. Wo Menschen kämpfen und Angst haben vor dem, was kommt. Wir sind gemeinsam unterwegs dorthin, wo man traurig sein darf, ohne einsam zu sein. Wo die Klage einen Adressaten hat, weil sie sich in Hoffnung gründet. Darum sind wir heute hier. Hier suchen wir Gott, um zu leben. Hier feiern wir Gottesdienst.

Hier ist Gott. Unsichtbar, aber unüberhörbar. Und wir auch. Wir sind hier. Propheten sind wir wohl nicht. Keine lauten Redner auf dem Marktplatz und auch keine genialische Gestalten. Vielleicht sind unsere Worte nur schwach und unsere Lieder klingen nicht so sauber, wie sie sein könnten. Aber auch darauf kommt es nicht an. Das können wir ja üben, die richtigen Worte und die passenden Klänge für unsere Klage zu finden. Gott hat es uns vorgemacht. Jetzt stimmen wir ein, mit all unseren Tönen und Klängen. Wir singen und ringen um die blühenden Landschaften des Gottesreiches, wir sehnen uns nach lebendigem Wasser.
Im Gottesdienst halten wir die Sehnsucht nach Gottes Reich wach. Darum sind wir hier. Wir hoffen auf Rettung. Für uns und alle Welt. Wir tragen Gottes Wort weiter. So bleibt es lebendig, in unseren Herzen, Mündern und Händen. In unserem Lachen und Weinen. Unseren Liedern und Gebeten und in unserer Klage. „Suchet mich, so werdet ihr leben.“ Darauf kommt es an. Amen.

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