Heiligabend/Christvesper (24. Dezember 2023)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. Dr. Dieter Koch, Künzell [koch.korb@web.de]

Galater 4,4-7

IntentionDie Festfreude zu Weihnachten ist mehr als schöne Musik und Lichterglanz. Darin drückt sich ja die Freude aus, dass wir als freie Kinder Gottes mutig und tapfer leben können. In seinem Galaterbrief macht Paulus diese Seite von Weihnachten deutlich.

BibeltextAls aber die Zeit erfüllt war, sandte Gott seinen Sohn, geboren von einer Frau und unter das Gesetz getan, auf dass er die, die unter dem Gesetz waren, loskaufte, damit wir die Kindschaft empfingen. Weil ihr nun Kinder seid, hat Gott den Geist seines Sohnes gesandt in unsere Herzen, der da ruft: Abba, lieber Vater! So bist du nun nicht mehr Knecht, sondern Kind, wenn aber Kind, dann auch Erbe durch Gott.

Freude am FestLiebe Gemeinde, gäbe es Weihnachten nicht, ich wollte es erfinden, dieses Fest zarter Gefühle, inniger Erhebung, andächtiger Stimmung angesichts des Wunders der Geburt. Ich will mit den Hirten zur Krippe treten. Es tut mir gut, mich dem Himmel zu öffnen, den Friedensgesang neu zu vernehmen, mit Maria und Josef andächtig zu staunen, Tun wir es gemeinsam, tun wir es mit weiten Herzen. Erstrahlen wir miteinander in dem Licht, das durch all die vielen Kerzen hindurch uns erhellen will: Jesus – unser Licht, Jesus Christus, das Licht der Welt.
Sein Licht erstrahlt im Dunkel der Welt. Wie sehr brauchen wir seine Lichtkraft inmitten der tosenden Gewalt, inmitten der furchtbaren Kriegsereignisse, inmitten des Terrors, der nicht nur Israel erschütterte, inmitten all des Leids in Gaza und andern Orts. Jesu Geist inspiriert. Er stößt uns immer neu an, unsere Herzen und Hände dem Frieden zu reichen und nicht dem Krieg, der Versöhnung zu dienen und nicht dem Hass. Er ist würdig, Sohn Gottes zu heißen, weil er von Gottes Geist berührt, ja aus Gottes Geist geboren, den Mut aufbrachte zu einem freien, mündigen Leben. So will er auch uns haben: gottergeben im Gebet, frei und mündig im Leben.

Die alte Frau und der LagerkommandantDoch wie soll das gehen inmitten unserer Ängste, inmitten der Zwänge des Lebens? Indem wir anfangen, uns selber zu trauen. Indem wir uns für Gott öffnen, den Liebesgrund. Indem wir neu einen ersten freien Schritt wagen und dann den zweiten, den dritten.
Das ist, was Paulus an Jesus entdeckte. Das ist, was die ersten Christengemeinden zu leben wagten, freies, mündiges Leben. Das ist, was die Worte für unsere heutige Weihnachtsfeier uns sagen: Gott sandte seinen Sohn, damit wir als Söhne und Töchter Gottes zu leben beginnen. Und dies nicht irgendwann, irgendwo nach langer heldenhafter Vorbereitung, sondern im Hier und Heute in all den selbstverständlich scheinenden, kleinen Gesten der Menschenliebe, die gleichwohl ein großes Herz und großen Mut brauchen. 1971 hat der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann in seiner Weihnachtsansprache an eine einfache Frau erinnert, die solchen Mut aufbrachte. Ich will an diesem Weihnachtsfest wieder von ihr erzählen:
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges nahm sich eine alte lettische Frau deutscher Soldaten an, die in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten waren. So oft es ging, ließ sie ihnen ein Stück Brot zukommen. Dabei wurde sie eines Tages erwischt. Der sowjetische Lagerchef zitierte sie zu sich. Er fuhr sie schroff an: Hast du nicht gelesen, dass es strengstens verboten ist, den Kriegsgefangenen Lebensmittel zu geben? Die alte Frau nickte gelassen, als sie antwortete: Ja, Herr Lagerkommandant, ich habe aber nicht irgendwelche Lebensmittel gegeben. Ich habe Brot gereicht. Das ist ja nun einerlei, fauchte der Mächtige zurück. Sag, hast du gewusst, dass es verboten ist, ja oder nein? Die alte Frau überlegte einen Moment, ehe sie antwortete, sah aber dabei dem Lagerkommandanten direkt in die Augen. Ich habe gelesen, dass angeschrieben steht, es ist verboten. Aber man darf nicht verbieten, unglücklichen Menschen zu helfen! Der Kommandant, jetzt gefährlich leise, fragte zurück. Heißt das, dass du ihnen auch weiterhin Brot geben wirst? Die alte Frau sieht ihm erneut in die Augen: Genosse Direktor, als die Deutschen hier in Lettland die Herren waren, brachten sie russische Kriegsgefangene hierher zur Arbeit. Die hatten großen Hunger, und ich habe ihnen, so oft ich konnte, Brot gegeben. Dann brachten sie Juden hierher. Die litten auch, weil sie so wenig zu essen bekamen und ich habe ihnen Brot gegeben. Jetzt sind die Deutschen die Unglücklichen und leiden Hunger, und ich gebe ihnen von dem Brot, das ich habe. Und wenn Sie, Genosse Direktor, eines Tages das Unglück haben sollten, hierher als Gefangener zu kommen und Hunger zu leiden, dann werde ich auch Ihnen Brot geben. Die alte Frau ließ den Lagerchef stehen, drehte sich um und ging. Der Kommandant unternahm nichts gegen sie. (1)

Mit Paulus von Jesus inspiriertFreies, mündiges Leben, gottergeben im Gebet, mutig in der Liebe, so will Jesus uns haben. So inspiriert er bis heute uns Menschen. Das ist, was Paulus an Jesus entdeckte und ihn zum Völkerapostel machte. Alle Welt soll es hören: Wagt es wieder, Gott zu trauen. Hört auf die Stimme des Herzens. Lebt so, wie es Söhne und Töchter Gottes tun.
Paulus ruft auch uns in die Mündigkeit, zu den mutigen Schritten, in die freie Gestaltung des Lebens und untrennbar davon in die geistige Hingabe an Gott, der die Welt hell macht. Wir können und wir brauchen Gott als die eine Himmel und Erde vereinende Liebesmacht nicht zu beweisen, aber er erweist sich in unserem Leben. Er zeigt sich im Geschmack des Friedens, im Geschenk der Versöhnung, im Reichen des Brots. Gott drückt sich aus im Ruf des Geistes in uns: Abba, lieber Vater!
Paulus braucht dafür keinen weihnachtlichen Glanz. Mir aber tut er gut. Unsere Art Weihnachten zu feiern, kennt Paulus nicht. Er redet nicht von Engeln und den Hirten auf dem Felde. Da ist kein Stern, der den Weg weist und keine Jungfrauengeburt. Sie will ich nicht missen. Und doch ist in seinen Worten alles da, was wir am Weihnachten feiern. Wir sind Gottes Kinder – dank dem, der für uns geboren, für uns gestorben ist, dank dem, der uns aus falschen Bindungen gelöst hat, damit wir von Gott geliebt und gesegnet, mündig zu leben beginnen.
Wir sind frei – zu lieben und zu beten, mehr und immer mehr, mehr und immer tiefer, mehr und immer gottbewusster, mehr und immer glücklicher darin, dass es IHN gibt, Gott, den himmlischen Vater. Er hat uns seinen Sohn gesandt, damit wir in ihm Söhne und Töchter Gottes werden. Das ist die evangelische Botschaft, die wir an Heilig Abend feiern. Wir haben Grund zu freudigem Jubel. Gott hat sich uns in Jesus ganz geschenkt. Das Leben darf neu beginnen, gottverbunden und frei. Amen.

Anmerkung
1 Die Geschichte „Die alte Frau und der Lagerkommandant“ wird hier aufgenommen nach Wolfgang Riewe, Geschichten der Zuversicht, Bielefeld 2. Auflage 2009, S. 46f.

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