Heiligabend/Christvesper (24. Dezember 2025)

Autorin / Autor:
Pfarrer i.R. PD Dr. Peter Haigis, Springe [peter.haigis@kloster-wuelfinghausen.de]

Ezechiel 37,24-28

Intention
Diese Predigt soll zeigen, dass Weihnachten mehr ist als eine schöne Geschichte, die das Herz wärmt.

Predigttext
37, 24 Und mein Knecht David soll ihr König sein und der einzige Hirte für sie alle. Und sie sollen wandeln in meinen Rechten und meine Gebote halten und danach tun.
25 Und sie sollen wieder in dem Lande wohnen, das ich meinem Knecht Jakob gegeben habe, in dem eure Väter gewohnt haben. Sie und ihre Kinder und Kindeskinder sollen darin wohnen für immer, und mein Knecht David soll für immer ihr Fürst sein. 26 Und ich will mit ihnen einen Bund des Friedens schließen, der soll ein ewiger Bund mit ihnen sein. Und ich will sie erhalten und mehren, und mein Heiligtum soll unter ihnen sein für immer. 27 Meine Wohnung soll unter ihnen sein, und ich will ihr Gott sein, und sie sollen mein Volk sein, 28 damit auch die Völker erfahren, dass ich der Herr bin, der Israel heilig macht, wenn mein Heiligtum für immer unter ihnen sein wird.

Liebe Gemeinde,
wohl selten sind unsere widerstreitenden Gefühle so nahe beieinander wie an diesem Tag beziehungsweise an Heiligabend:
Da steht das Bedürfnis nach Geborgenheit in einem Kreis lieber und vertrauter Menschen dicht neben der Sorge, schon ein kleines Missverständnis könne den Frieden trüben.
Dort, wo Glaube, Liebe, Hoffnung ganz großgeschrieben sind, da lauern eben auch Sorge, Empfindlichkeit und Angst.
In diesem Gottesdienst feiern wir die Gegenwart, die anbricht im neugeborenen Leben eines kleinen Kindes, damals in Bethlehem und seither und heute immer wieder in unseren Herzen – dort, wo wir diese geheimnisvolle Geschichte erinnern, hören und uns neu erschließen. Gott kommt zu uns, er besucht uns, er nimmt seine Wohnung im Leben von uns Menschen – das ist das Thema von Advent und Weihnachten, und es ist auch das Thema des Predigttextes für dieses Christfest. Der kommt aus dem Buch des Propheten Hesekiel. Das ist nicht die Weihnachtsgeschichte, die wir so gut kennen. Das ist eine Ankündigung für Erwachsene. Das ist mehr als eine schöne Geschichte.
Was sollen mir diese Worte und Gedanken sagen?

Eine kleine Zeitreise in die ferne Vergangenheit
Unternehmen wir zunächst einmal eine kleine Zeitreise. Versetzen wir uns für einen Augenblick in die Zeit, in der der Prophet Hesekiel zu Menschen aus dem damaligen Israel sprach. Die Generation der Zeitgenossen Hesekiels lebte mit ihm fern der Heimat der Vorfahren. Vertriebene waren sie, deportiert an einen fremden Ort mit fremder Kultur, wo sie nun umso stärker an den Wurzeln ihrer Herkunft festhielten. Vielleicht hörten sie die alten Geschichten, die Geschichten der Alten; vielleicht sangen sie traditionelle Lieder; sie pflegten ihre traditionellen Gebräuche.
Und die Sehnsucht, einmal wieder nach Hause zurückzukönnen und dort in Frieden zu leben – und wenn es erst der Enkelgeneration gewährt sein sollte –, blieb lebendig.

So fern – und doch so nah
Mit einem Mal klingt diese so alte und fremde Geschichte gar nicht mehr so fremd und fern. Das Geschick, das die Menschen damals zu tragen hatten, es könnte auch in der Gegenwart spielen, ja, es spielt auch in der Gegenwart. Offenbar hat sich – jedenfalls im großen geopolitischen Rahmen – in 2000 bis 3000 Jahren Menschheitsgeschichte wenig geändert.
Und so höre ich die alten Worte des Propheten Hesekiel mit meinen Ohren heute plötzlich auch unmittelbar gegenwärtig und aktuell. Ich höre darin – denn es ist ja ein Zuspruch Gottes an die Menschen – drei Botschaften. Sie haben unterschiedliche Reichweiten. Ich beginne mit der Botschaft der größten Reichweite.

Gott ist nicht parteiisch
Die erste Botschaft Gottes an die Menschen damals und an uns heute lautet:
„Ich bin unteilbar.“
Ich spüre den Worten Hesekiels eine tiefe Sehnsucht ab, alles, was Menschen untereinander trennen könnte, zu überwinden. Wir sind ja allesamt „Menschen“. In der Perspektive des Glaubens sind wir „Menschen Gottes“, von ihm geschaffen, damit wir unser Leben vor seinem Angesicht gestalten.
Deshalb muss es widersprüchlich wirken, wenn gerade der Glaube an Gott, die Religion, als der größte Trennungsgrund, die höchste Mauer zwischen uns Menschen wirkt. Gewiss, Religion, Glaubensüberzeugung, das ist etwas sehr Persönliches, und es gibt nun einmal viele Weisen, in denen Menschen selig zu werden versuchen und selig werden. „Richtig“ und „Falsch“, das mag im Mathematikunterricht in der Schule gelten – aber wenn es um den religiösen Glauben geht …?
Die Worte des Propheten Hesekiel sind zu Menschen jüdischen Glaubens gesprochen. Sie gelten ihnen. Ganz am Ende des Textabschnitts ist aber davon die Rede, dass das, was ihnen gilt und was für sie wahr und wirklich werden soll, auch auf andere Menschen jenseits der Grenzen des jüdischen Glaubens Eindruck machen soll: „Die Heiden sollen erfahren, dass ich der Herr bin, der Israel heilig macht“ (V. 28).
Das ist mein Ort in dieser Geschichte; ich bin ja einer aus der Gruppe dieser „Heiden“, der Völker drumherum. Und hier geht es schlicht um das „Erfahren“: Andere sollen erfahren, dass Gott etwas für Israel tut.
Nehmen wir einmal an, dass Gott in seiner langen Geschichte mit den Juden einen bestimmten Weg gegangen ist und mit den Christen einen (oder sogar mehrere) andere und mit Muslimen einen bestimmten Weg und mit Hinduisten und Buddhisten weitere … Gott ist nicht parteiisch, seine Wahrheit ist nicht teilbar. Unser Wissen und Glauben ist Stückwerk. Es genügt für uns. Doch das, was er andernorts tut, können und sollen wir mit Respekt hören und erfahren.
So könnte unser Zusammenleben in einer multireligiösen Gesellschaft nach Weihnachten 2025 aussehen, jedenfalls aus christlicher Perspektive: Wir hören und erfahren, was Gott unter Menschen – welchen Glaubens auch immer – tut: Denn wir wissen: Er ist nicht parteiisch und nicht teilbar.

Ein Gott des Friedens
Die zweite Botschaft Gottes aus diesem Text:
„Ich bin ein Gott des Friedens.“
Dies dürfte doch unmissverständlich aus den Worten des Propheten Hesekiel hervorgehen, dass Gott Zustände menschlicher Zerrissenheit nicht will – weder außen- noch innenpolitisch. Wo immer Menschen sich „bekriegen“, da kann Gott nicht sein, da ist kein Platz für seine Wohnung. Da ist er unterwegs, zieht weiter, umhergetrieben, weil er keine Bleibe unter uns und unseren friedlosen Zuständen findet. Gott ist ein Gott des Friedens, ja, er stiftet Frieden – freilich nur dort, wo man ihn wirken lässt. Denn kein Friedensbotschafter hat eine Chance, wenn die Kriegsparteien ihn nicht hören und wirksam sein lassen wollen.
Der „Bund des Friedens“ (sogar eines „ewigen Friedens“, wenn denn dieser Bund „ewig“ sein soll, wie es in V. 26 heißt) ist ein weiteres tiefes Sehnsuchtsmotiv, das den Text damals wie unsere Situation heute leitet. Wo immer Meinungsverschiedenheiten herrschen, dürfen sie nicht konfliktvertiefend und spaltend wirken. Sonst haben wir schon verspielt. Zu Weihnachten 2025 stellt sich also wieder einmal die Frage danach, wie wir in einer Gesellschaft wie der unsrigen einander auf Augenhöhe begegnen wollen und können. Wir können aus diesem Fest nicht gehen ohne deutlich zu machen: Wir wollen nicht, dass Hass und Hetze unser Zusammenleben regieren! Weder im digitalen noch im analogen Raum! Wir wollen es nicht! Weil Gott es nicht will, und weil es unser als Menschen, von ihm geschaffen, unwürdig ist! Weil Gott ein Gott des Friedens ist, wird die erste Frage in aller Verschiedenheit, bei allem, was uns unterscheidet (aber nicht trennen muss!), immer die sein: Was dient dem Frieden miteinander und untereinander?.

Gott will unter den Menschen wohnen
Zwei Botschaften haben wir aus den Worten des Propheten Hesekiel gehört. Botschaften mit großer Reichweite unter uns Menschen. Botschaften, die anspruchsvoll klingen, weil sie auf Verständigung und Frieden zielen. Aber auch Botschaften, die entlasten können, denn letztlich gehen sie doch von Gott aus und beinhalten kein „Tu dies und jenes!“, sondern erinnern daran, wie Gott ist und was er für uns tun kann, wenn wir nur bereit sind, ihm Raum zu geben.
Eine dritte Botschaft Gottes lautet:
„Ich will unter euch Menschen wohnen.“
Dass Gott inmitten seines Volkes wohnen und dort für immer sein Heiligtum aufrichten will, ist ein drittes Sehnsuchtsmotiv, das uns zu Weihnachten 2025 die Richtung weisen kann. Manchmal scheint es ja so zu sein, dass vielen Menschen nichts mehr zu fehlen scheint, wenn Gott fehlt. In einer Wohlstandsgesellschaft wie der unsrigen scheint der Bedarf an Gott, Himmel und Religion gering.

An Weihnachten ist das ganz anders. Und das finde ich beeindruckend. Gerade an einem Fest, an dem wir es uns so richtig gut gehen lassen können und wollen in einer Gesellschaft, die ausgerichtet ist wie die unsere – wo also das Einkaufen eine große Rolle spielt und Geschenke und gutes Essen –, da blitzt etwas von dem Wissen darum auf, dass diese Gaben der Wohlstandsgesellschaft nicht alles sind. Es muss mehr als das geben; etwas, das ich mir nicht selbst mit barer Münze aneigne oder anderen in Wert und Gegenwert gewähre.
Es muss etwas geben, das mich und mein Leben mit all seinen Höhen und Tiefen, mit seinen Glücksmomenten, seinem Schicksal und seinem Leid trägt und umfängt. Etwas, das über meinen Erfolgen und Misserfolgen steht, weil ich doch auch mehr bin als das: die Summe meines Gelingens und meines Scheiterns. Einen Ort, an dem ich mit meinen unbeantworteten Fragen sein kann ebenso wie mit dem, was ich an Sinnspuren für mich und mein Leben gefunden habe. Ein Ort, an dem ich mit meinen Sehnsüchten und der „Unruhe meines Herzens“ ins Lot komme. Der Glaube nennt diesen Ort, diese Dimension „Spiritualität“.
Ein Ort hierfür ist dieser Gottesdienst heute. Orte hierfür sind auch andere Gottesdienste und offene Kirchen zu anderen Zeiten des Jahres. Es gibt Augenblicke, in denen ein Gebet guttut – sei es ein selbst verfasstes, sei es ein gefundenes vorgeformtes, weil es mich mit Gott verbindet. Es gibt Orte, an denen ich einmal „geistlich“ aussteigen kann aus meinem Alltagsgetriebe und eintauchen in eine ganz andere Wirklichkeit, die Gegenwart Gottes. Klöster zum Beispiel atmen diesen Geist. Das kann auch einmal zwischen dem 24.12.2025 und dem 24.12.2026 ein Bedürfnis werden. Und dann lässt sich eine Gelegenheit und ein Raum dafür finden, denn Gott hat es uns ja in Aussicht gestellt: dass er in Wohngemeinschaft mit uns leben will: „Ich will unter euch wohnen.“ Amen.

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