Invocavit / 1. Sonntag der Passionszeit (06. März 2022)

Autorin / Autor:
Pfarrer Albrecht Conrad, Stuttgart [Albrecht.Conrad@elkw.de]

2. Korinther 6,1-10

IntentionDas Leben schreibt lange Listen – Freud und Leid. Beides zusammen macht unsere Lebenszeit aus, annehmbare Zeit, Zeit der Gnade.

6,1 Als Mitarbeiter aber ermahnen wir euch, dass ihr nicht vergeblich die Gnade Gottes empfangt.
2 Denn er spricht (Jesaja 49,8): „Ich habe dich zur willkommenen Zeit erhört und habe dir am Tage des Heils geholfen.“ Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!
3 Und wir geben in nichts irgendeinen Anstoß, damit dieser Dienst nicht verlästert werde;
4 sondern in allem erweisen wir uns als Diener Gottes: in großer Geduld, in Bedrängnissen, in Nöten, in Ängsten,
5 in Schlägen, in Gefängnissen, in Aufruhr, in Mühen, im Wachen, im Fasten,
6 in Lauterkeit, in Erkenntnis, in Langmut, in Freundlichkeit, im Heiligen Geist, in ungefärbter Liebe,
7 in dem Wort der Wahrheit, in der Kraft Gottes, mit den Waffen der Gerechtigkeit zur Rechten und zur Linken,
8 in Ehre und Schande; in bösen Gerüchten und guten Gerüchten, als Verführer und doch wahrhaftig;
9 als die Unbekannten und doch bekannt; als die Sterbenden, und siehe, wir leben; als die Gezüchtigten und doch nicht getötet;
10 als die Traurigen, aber allezeit fröhlich; als die Armen, aber die doch viele reich machen; als die nichts haben und doch alles haben.

Liebe Gemeinde,
Listen sichten das Leben. Sie bringen es gewissermaßen in Ordnung. Das hat klärende Kraft.
• Einkaufs- und To-do-Listen machen das Leben leichter.
• Wer in seinem Leben an einem Punkt angekommen ist, wo er sich für oder gegen etwas entscheiden muss, den weist die Ratgeberliteratur an, er möge doch die Pro-Argumente auflisten und eine Aufzählung der Contra-Argumente danebenlegen. Das ordne die Gedanken.
• Wer für sein Leben gar keinen Plan hat, der schreibe möglichst konkret seine Ziele untereinander, nach Wichtigkeit geordnet. Wenn ich’s recht verstehe, lässt sich so Unwichtiges aus dem Leben rausplanen, und man arbeitet die Ziele nach und nach ab. Vermutlich unter dem Motto „Das Leben abhaken“.
Das funktioniert auch im Rückblick. Wenn man auflistet, wie das Leben bis heute so geworden ist:
• Auf der einen Seite alles hinschreiben, worunter man leidet. Diese Liste ist schnell erstellt. Was uns weh tut, ist präsent.
• Auf die andere Seite kommt alles, woran man sich freut. Dafür braucht man länger. Wir vergessen bisweilen, wofür wir dankbar sein können.
Aber immerhin: Wer sein Leben nach Freud und Leid auflistet, der hat auf beiden Seiten etwas stehen.

So wie Paulus. Seine Lebensliste haben Sie gehört. Paulus‘ Liste enthält beides – Freud und Leid:
• Paulus zählt auf, was er als Missionar alles hat erdulden müssen: Trübsal, Not, Angst, Schläge, körperliche Gewalt und so weiter. Und später: Schande, böse Gerüchte, Todesnähe, Traurigkeit, ein Dasein als Habenichts und so weiter. Eine Leidensliste.
• Paulus verzeichnet aber auch die Freuden seines Lebens als Apostel: Lauterkeit, Erkenntnis, Langmut, Freundlichkeit und so weiter. Und später: Ehre, der gute Ruf, sein zähes Überleben, Fröhlichkeit, ein Habenichts, der doch alles hat und so weiter.

So ähnlich sähe es vielleicht auch bei uns aus. Nur die Begriffe lauteten anders. Es gibt kein Menschenleben, das nur Freude kennt. Und es ist hoffentlich heute auch niemand hier, der oder die einer vielleicht langen Leidensliste keine Freude entgegensetzen kann.
Paulus aber geht einen Schritt weiter. Er schiebt schließlich die beiden Listen ineinander. Allen Zumutungen und Leiden fügt er ein „und“ hinzu. Luther übersetzt es mit „und doch“.
Ehre und Schande.
Böse Gerüchte und gute Gerüchte.
Habenichts-Sein und doch alles haben.
Gegen jedes Leiden steht eine Freude. Jedem Minus stellt er mit: „Und doch!“ ein Plus entgegen.
Lebenslast und Lebenslust – beide Seiten machen unser Leben aus. Besser: Beide zusammen machen die eine Liste unseres Lebens aus.
Wo hat Paulus dieses kräftige „Und doch!“ her? Den Grund für diese Kraft nennt er gleich zu Beginn: „Siehe, jetzt ist die willkommene Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!“
Tag des Heils. Willkommene Zeit. Wörtlich übersetzt: „annehmbare Zeit“. Jetzt!
Paulus listet sein reiches und dennoch bedrohtes Leben auf. Und er nennt diese Liste: „Annehmbare Zeit“. Alles, Last und Lust, Freud und Leid, alles zusammen ist ein Leben. Mein Leben. Jeder Tag annehmbar als Tag des Heils.
Die schwierigen Zeiten unseres Lebens und die Zeit der Gnade gehören zusammen. Selbst angesichts einer langen Leidensliste gilt: Und doch hat die Hoffnung Platz. Selbst in der größten Bedrängnis bleibt einer mit seiner Gnade bei uns.
Dieser eine ist Jesus Christus. Denn, liebe Gemeinde, Jesus Christus selbst hat das „Und-doch“ erlebt. Wir sind am Anfang der Passionszeit. In den kommenden Wochen bedenken wir das Leiden und Sterben unseres Herrn Jesus.
Der Weg Jesu ans Kreuz ergibt auch eine Liste. Eine Liste all dessen, was Jesus Christus auf diesem Weg erleidet.
Und doch begegnen uns auf dem Leidensweg Jesu auch lichte Momente. Helle Augenblicke des „Und-doch“, wo man mit Paulus sagen könnte: „Annehmbare Zeit!“ Auch diese Gnaden-Momente ergeben eine Liste:
– Beim Abendmahl: Jesus entlarvt seinen Verräter. Er kündigt an, dass sein Blut vergossen wird. Ein furchterregender Abend. Und doch gibt Jesus dem Ganzen einen Sinn: „für viele zur Vergebung der Sünden“. Und es heißt, das Essen endete, „als sie den Lobgesang gesungen hatten“. (Mt 26,28.30)
– Im Garten Gethsemane: Nacht der höchsten Bedrängnis. Jesus ringt mit der Todesangst. Und doch, so heißt es, erscheint ihm „ein Engel vom Himmel und stärkte ihn“ (Lk 22,43).
– Im Hof: Petrus verleugnet Jesus dreimal: „Ich kenne ihn nicht.“ Und doch wird er beim Hahnenschrei von Jesus angeschaut. So heißt es: „Der Herr wandte sich und sah Petrus an.“ (Lk 22,61).
– Am Kreuz: Einer der so genannten Übeltäter, die mit Jesus gekreuzigt werden, bittet ihn: „Gedenke an mich, wenn du in dein Reich kommst“. Wie hell muss ihm das „Und doch“ gestrahlt haben, als Jesus antwortete: „Heute wirst du mit mir im Paradies sein.“ Heute! Tag des Heils.

Und so weiter. Der Kreuzweg Jesu führt uns einen Menschen vor Augen, der all das erlebt: Trübsal, Not, Angst, Schläge, Traurigkeit, Sterben. Und doch kennt der Kreuzweg Jesu lichte Momente. Und über den ganzen Todestag Jesu setzt Gott selbst als Überschrift: Siehe, jetzt ist der Tag des Heils!
Von diesem Tag aus betrachten wir unser Leben. Seit Jesu Tod gilt für jeden unserer Tage: Tag des Heils. Jede Zeit unseres Lebens: Zeit der Gnade, annehmbare Zeit.
Seit Jesus für mich gelitten hat, kann ich mein Leben so annehmen wie es eben geworden ist. Vielleicht höre ich sogar auf, mein Leben aufzuteilen in Freud oder Leid. Es ist ja im Guten und im Schlechten mein Leben.
Und wer weiß: Vielleicht erwächst grade aus den Leiden meines Lebens Leidenschaft für das Leben. Vielleicht kann ich gerade mit den Ereignissen, wo in meinem Leben etwas zu enden schien, vielleicht kann ich gerade damit etwas anfangen? Das ist Gnade. Annehmbare Zeit.
So schreibe ich mit einem kräftigen „Und doch!“ lediglich eine Liste: Das ist mein Leben, so ist’s halt geworden. Diese Liste zeigt, wie es wieder und wieder gelang, die Leiden meines Lebens mit Jesu Hilfe zu überlisten. Eine „Und-doch“-Liste.
Ein weiter Weg mag es sein, bis uns das gelingt. Doch der erste Schritt liegt so nah. Es ist ein etwas banaler erster Schritt. Vielleicht führen Sie in den kommenden Wochen der Passionszeit eine kleine Liste? Notieren jeden Tag, welche kleinen und großen Freuden Ihnen über den Weg laufen. Auf einem Schmierzettel, in ein Tagebuch, an der Kühlschranktür.

Auf dieser Liste könnte alles Mögliche stehen:
• Das freundliche Lächeln der Nachbarin
• Der überraschende Anruf: Lange nichts mehr gehört!
• Die ernst gemeinte Frage auf der Straße: „Wie geht’s?“
• Das Gefühl leiser Dankbarkeit, wenn Eine oder Einer das dumme Wort, welches mir rausrutschte, nicht persönlich genommen hat. Und so weiter.

Mit dieser Liste lässt sich all das Andere, das Unschöne, nicht wegstreichen. Aber sie zeigt die „Und-doch“-Momente, mit denen Gott uns zu erkennen gibt: Siehe, jetzt ist die annehmbare Zeit, siehe, jetzt ist der Tag des Heils!
Es lohnt sich, eine solche Liste zu beginnen. Lasst uns jetzt gleich den Anfang machen mit der Liste des Wochenlieds „Ach, bleib mit deiner Gnade“ (EG 347). Eine sehr schöne "Und-doch"-Liste. Darum endet die Predigt heute nicht mit „Amen“, sondern mit: „Und so weiter!“

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