Invocavit / 1. Sonntag der Passionszeit (18. Februar 2018)

Autorin / Autor:
Pfarrerin Bärbel Koch-Baisch, Schwäbisch Hall [Baerbel.Koch-Baisch@diakoneo.de]

2. Korinther 6, 1-10

Liebe Gemeinde,
der Umgang mit Versuchungen ist Leitmotiv des heutigen Sonntags „Invokavit“ und was uns hilft, ihnen zu widerstehen. In der Schriftlesung haben wir gehört, wie Jesus das eindrucksvoll gelungen ist. Und in der Fastenzeit wird das für viele zum ganz persönlichen Thema: Wo werden wir versucht zu dem, was dem Leben nicht gut tut? Und viele stellen sich die Frage: Wie können wir widerstehen?

Zwei Versuchungen: Empörende Wut – verzagter GlaubePaulus hat in seinem Brief an die Gemeinde in Korinth von Versuchungen geschrieben. Zwei hat er dabei im Blick und will dazu bestärken, ihnen nicht zu erliegen. Diese beiden Versuchungen sind, obwohl vor fast zweitausend Jahren verfasst, immer noch hoch aktuell. Weil sie da auftauchen, wo wir mitten im Leben stehen.

Zunächst ist das die Versuchung der „frustrierten Empörung“. Eine Empörung, die nur Wut ist, weil sie keine Spur der Veränderung sieht. Solche Empörung hat keine Richtung. Und so geht sie entweder in die Faust oder auf den Magen. Beides tut dem Leben nicht gut.
Und die andere Versuchung ist der „verzagte Glaube“. Ein Glaube, der der Not oder dem Leid nicht mehr wirklich etwas entgegenzusetzen hat, weil ihm die Kraft und die Hoffnung dazu fehlt.
Diese beiden Versuchungen, so fürchtet Paulus, könnten sich breit machen in Korinth. Und deshalb schreibt er nach Korinth:
„Als Gottes Mitarbeiter rufe ich euch also auf: Gebt Acht, dass ihr die Gnade Gottes nicht vergeblich empfangt!
Gott sagt: ‚Wenn die Zeit kommt, dass ich mich über euch erbarme, erhöre ich euch; wenn der Tag eurer Rettung da ist, helfe ich euch.‘ Jetzt ist die Zeit der Gnade! Jetzt ist der Tag der Rettung!“

Empörende WutDiese Sätze, denke ich, stellt Paulus der frustrierten Empörung entgegen. Mit diesen Worten will er vertreiben, was uns so oft als Versuchung beschleicht.
Denn manchmal ist es schwer, dieser Gnade Gottes und seiner Rettung zu trauen. Paulus schreibt zwar leidenschaftlich davon, welchen Frieden Gott den Menschen in Jesus Christus eröffnet hat. „Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Kreatur“ (2. Korinther 5,17), betont er. „Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.“ Und er lädt dann alle ein: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2. Korinther 5,20)
Aber Paulus weiß offenkundig auch, wie schwer es zuweilen ist, sich auf diese frohe Botschaft einzulassen. Weil so wenig von diesem Frieden zu sehen ist. Weil es so vieles gibt, das unsere Empörung weckt.

Von Rabbi Menachem Mendel heißt es, er sei, als man ihm sagte, die Erlösung sei gekommen, ans Fenster getreten und habe gerufen: „Da ist keine Erneuerung.“

Mir kommt es so vor, dass auch wir heute oft ans Fenster der Welt und ans Fenster unsres Lebens treten und sagen: „Da ist keine Erneuerung. Da ist noch kein Friede. Und auch keine Gerechtigkeit. Weder in der Welt – noch in meinem kleinen privaten Leben.“
Und tatsächlich gibt es ja viel Anlass zur Empörung: in Politik und Gesellschaft, in sozialen Fragen und in der Asylpolitik.
Auch im Blick auf das persönliche Leben dürfte es ähnlich sein: Lebensbedingungen, Lebensfragen und -sorgen, auch da regt sich wohl verschiedentlich Empörung. Empörung über sich selbst oder Empörung über die Lebensumstände. Und solche Empörung ist ja auch gut. Denn sie ist Ausdruck dafür, dass wir das Leben bewusst erleben und uns nicht nur so dahintreiben lassen.
Die entscheidende Frage dabei ist nur: Bleibt die Empörung frustriert? Gibt es in all der Empörung gar keinen Lichtblick? In solch düsterer Empörung liegt die große Versuchung, vor der Paulus uns bewahren will.

Deshalb sagt er allen, die an Gottes Gnade und Friede zweifeln und vielleicht sogar verzweifeln, all denen schreibt und ruft er entgegen: „Jetzt ist die Zeit der Gnade! Jetzt ist der Tag der Rettung!“
Paulus hält offenkundig nichts davon, ans Fenster zu treten und mit frustrierter Empörung zu rufen: „Da ist keine Erneuerung.“
Im Gegenteil: Schon jetzt geschieht auch Heilvolles. Schon jetzt wächst Gottes Frieden. Und Paulus will uns dafür die Augen öffnen. Es ist offensichtlich der Gnade Gottes nicht angemessen, wenn wir da stehen, die Welt und das Leben betrachten und dann den ungetrübten Frieden beobachten wollen. Paulus sensibilisiert uns dafür, dass dieser Friede Gottes nicht festgestellt werden kann wie eine Bilanz. Gottes Friede kann nur erlebt und erfahren werden.
Gottes Gnade und Friede ist kein allgemeiner Gesellschaftszustand, sondern beides begegnet uns und leuchtet auf in ganz konkreten Momenten und Erlebnissen. Das können Blicke sein oder Worte, Taten oder Gedankenblitze, Erfahrungen und Erlebnisse – so vielfältig, wie unser Leben vielfältig ist.
Und oft leuchten diese Friedensfunken Gottes gerade da auf, wo es empörend unfriedlich ist. Das Licht Gottes erhellt gerade die dunklen Tage. Paulus schreibt davon, in welch verschiedenen Situationen er Gottes Frieden in sich spürt.
„Meine ‚Empfehlung‘ ist es, dass ich mich in allem als Diener Gottes erweise:
Mit großer Geduld ertrage ich Sorgen, Nöte und Schwierigkeiten.
Ich werde geschlagen, ich werde eingesperrt, sie hetzen das Volk gegen mich auf. Ich arbeite mich ab, ich verzichte auf Schlaf und Nahrung.“

Soweit die düsteren Tage, in denen er Gottes Kraft verspürt. Aber er nennt auch helle Seiten:
Ich empfehle mich weiter durch ein einwandfreies Leben, durch Erkenntnis*, durch Geduld und durch Freundlichkeit, durch Wirkungen des Heiligen Geistes* und durch aufrichtige Liebe,
durch das Verkünden der Wahrheit und durch die Kraft, die von Gott kommt. Meine Waffe für Angriff und Verteidigung ist, dass ich tue, was vor Gott und vor Menschen recht ist.

Dunkle und helle Zeiten zählt Paulus auf. Wir heute können wahrscheinlich bei beiden mitsprechen – und die Reihen noch ergänzen. Die dunkle Reihe um Krankheiten, die uns die Kraft zum Leben nehmen. Ungerechtigkeiten, die uns weltweit umtreiben. Alltagssorgen, die uns belasten.
Die hellen Seiten um Beziehungen, die glücken. Versöhnung, die gelingt. Verständnis füreinander. Tage, die erfüllt sind.

Die wortreiche Aufzählung des Paulus hat letztlich nur das eine Ziel – die frustrierte Empörung abzuwenden. Sicher, es gibt viel Grund zur Empörung. Unrecht bleibt Unrecht und Krankheit bleibt Krankheit. Schmerzlich bis heute.
Aber mitten in all dem leuchtet Gottes Kraft auf und seine Liebe. Das ruft Paulus uns zu. Damit wir Gottes Licht schon jetzt wahrnehmen. Immer wieder. Mitten im Dunkel und auch im Hellen. Es ist da. Unsere Empörung braucht daher wirklich nicht frustriert zu sein.

Verzagter GlaubeDie zweite Versuchung, die Paulus abwehren will, ist die Versuchung des verzagten Glaubens. Auch sie ist eigentlich verständlich. Sie bedrängt uns gerne zusammen mit der anderen Versuchung. Wo die Empörung frustriert ist, verzagt auch der Glaube. Da geht die Hoffnung verloren, weil die empörende Gegenwart übermächtig ist.
Und dagegen schreibt Paulus:
Es macht mir nichts aus, ob ich geehrt oder beleidigt werde, ob man Gutes über mich redet oder Schlechtes. Ich werde als Betrüger verdächtigt und bin doch ehrlich.
Ich werde verkannt und bin doch anerkannt. Ich bin ein Sterbender und doch lebe ich. Ich werde misshandelt und doch komme ich nicht um.
Ich erlebe Kummer und bin doch immer fröhlich. Ich bin arm wie ein Bettler und mache doch viele reich. Ich besitze nichts und habe doch alles.“
In fast trotzigen Ton schreibt Paulus hier. Da wird ein Übel nach dem anderen aufgezählt – und Paulus sagt: Ich bin doch im Licht. Bis hin zu dem Satz: „Ich bin ein Sterbender, und doch lebe ich.“

Im Licht GottesDiese Sätze sind getragen von Hoffnung und Lebenszuversicht von Gott her. Die empörende Gegenwart ist da nicht mehr übermächtig, sondern die Lichtblicke Gottes sind einfach überwältigend, so sehr, dass sie auch die Dunkelheiten des Lebens durchleuchten.
Das ist eine ganz eigene Art von Heilserfahrung. Es ist nicht alle Not weg. Aber die Macht der Not ist gebrochen.

Um eine Winzigkeit verrücktDer jüdischen Philosoph Gershom Sholem hat einmal formuliert, dass bei der Ankunft des Messias nichts weiter geschehe, als dass alle Dinge um eine Winzigkeit verrückt werden. Ein faszinierender Gedanke. Um eine Winzigkeit verrückt – es bleibt also nichts, wie es ist. Es gibt keine Macht des Unveränderlichen. Nichts ist alternativlos. Gottes Frieden bricht die Macht des scheinbar Unausweichlichen.
Alles ist um eine Winzigkeit verrückt. Damit sind auch die Endgültigkeiten von Leid und Elend aufgebrochen. Sie sind nicht weg. Aber sie haben nicht die letzte Macht. Die liegt bei dem, der alles, wenn auch nur um eine Winzigkeit, aber eben doch verrücken kann.
Ein verrückter Glaube, sagen vielleicht manche Skeptiker. Ich würde entgegnen: Im Gegenteil – der Glaube sieht die Welt als verrückt an. Nur um eine Winzigkeit verrückt. Aber eben durchbrochen in dem Anschein, als sei alles ausweglos so, wie es ist.

Lebens-ListeViele Menschen versuchen, ihr Leben mit verschiedenen Arten von Listen zu klären. Da gibt es Prioritäten-Listen, To-do-Listen, Tagespläne oder Zielvorgaben. Eine ganze Branche lebt davon, die Erstellung solcher Listen zu vermitteln. Doch letztlich entstehen dabei immer nur Listen, die entweder unter Druck setzen oder das weniger Bedeutende aussortieren wollen.
Paulus regt uns an, ganz andere Lebenslisten aufzustellen. Sein ganzer Briefabschnitt ist solch eine Liste. Eine Lebensliste davon, wo uns Gottes Gnade und Rettung begegnet, jetzt, mitten in unseren Tagen. Lebenslisten von den Zeiten, in denen wir dem Dunkel trotzig entgegen singen könnten:

„Trotz dem alten Drachen,
Trotz dem Todesrachen,
Trotz der Furcht dazu.
Tobe, Welt, und springe;
ich steh hier und singe
in gar sichrer Ruh;
Gottes Macht hält mich in acht,
Erd und Abgrund muss verstummen,
ob sie noch so brummen.“ (EG 396,3)

Kraftvolle Worte sind das von Johann Franck in dieser Liedstrophe. Auch wenn sie bei uns etwas zögerlicher ausfallen mögen – wir sind eingeladen, uns von dieser Lebens- und Glaubenshaltung anstecken zu lassen. Und das gegen alle Versuchung, dass die Empörung frustriert und der Glaube verzagt bleibt. Nein, „gebt Acht: Jetzt ist die Zeit der Gnade! Jetzt ist der Tag der Rettung!“
Amen.

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